Wie ist Selenskyjs Vorgehen gegen Korruption zu beurteilen?
Präsident Wolodymyr Selenskyj hat mehrere Gesetzesentwürfe in das ukrainische Parlament eingebracht. Sie zielen darauf ab, Hintertürchen bei der Korruptionsbekämpfung zu schließen und Abhilfe für frühere Fehler zu schaffen. Eine Analyse von Olena Galuschka und Olena Scherban
Am 29. August hat Präsident Wolodymyr Selenskyj mehrere Gesetzesentwürfe in das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, eingebracht. Sie zielen darauf ab, Hintertürchen bei der Korruptionsbekämpfung zu schließen und Abhilfe für frühere Fehler zu schaffen. Mit ihnen sollen die Strafprozessordnung verbessert werden und das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine mehr Befugnisse erhalten. Die Zuständigkeit des Obersten Antikorruptionsgerichts soll klargestellt, die zivilprozessuale Beschlagnahme eingeführt und gesetzeswidrige Bereicherung strafbar werden. Die Nationale Agentur für Korruptionsprävention sowie Organe der juristischen Selbstverwaltung sollen wieder eingeführt und die lang erwartete personelle Umgestaltung der Staatsanwaltschaft begonnen werden. Die meisten dieser Vorhaben entsprechen den Forderungen von ukrainischen Organisationen der Zivilgesellschaft für die Justiz.
Strafbarkeit von gesetzeswidriger Bereicherung
Mit dem Gesetzesvorhaben soll gesetzeswidrige Bereicherung wieder strafbar werden, nachdem dies im Februar 2019 durch das ukrainische Verfassungsgericht abgeschafft wurde, und die zivilprozessuale Beschlagnahme ermöglicht werden.
In der eingebrachten Fassung werden die Beurteilung des Gerichts und die Unschuldsvermutung berücksichtigt: Es müssen ausreichend Beweise vom Kläger vorgelegt und vom Verteidiger nicht widerlegt worden sein.
Es ist vorgesehen, dass der illegale Erwerb von Vermögenswerten, der das offizielle legale Einkommen um über 14,4 Millionen UAH (rund 550.000 USD) übersteigt, strafbar ist und mit 5‑10 Jahren Gefängnis geahndet werden kann.
Wenn die Differenz zwischen 1 Millionen und 14,4 Millionen UAH liegt (38.000 und 550.000 USD), beschlagnahmt das Gericht die Vermögenswerte in einem Zivilprozess. Das Gesetz gilt ab der Verabschiedung rückwirkend für vier Jahre für Vermögenswerte, die von einem Staatsdiener erworben wurden (oder einem Dritten nach behördlicher Anordnung oder für dessen Vermögen), sofern sie bei Inkrafttreten des Gesetzes noch in Besitz sind.
Zu den Vermögenswerten zählen dabei Geld und anderer Besitz, Eigentumsrechte, immaterielles Vermögen inklusive Kryptowährungen, die Höhe reduzierter finanzieller Verbindlichkeiten, Arbeiten oder Leistungen gegenüber einer Person, die Funktionen einer lokalen oder staatlichen Regierung wahrnimmt.
Das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO) sind für die Ermittlung von Vermögenswerten in der Öffentlichkeit stehender Staatsbediensteter zuständig. Mit der Gesetzesinitiative können die für Korruption zuständigen Staatsanwälte die Verfahren für die Beschlagnahmung beim Obersten Antikorruptionsgericht einbringen.
Neustart für die Nationale Agentur für Korruptionsprävention
Selenskyj schafft die Möglichkeit, die Nationale Agentur für Korruptionsprävention neu zu etablieren. Die Behörde wurde 2015 gegründet und war eine Verpflichtung der Ukraine gegenüber der Europäischen Union im Rahmen der geplanten Visaliberalisierung. Allerdings verlor sie ihre Unabhängigkeit und fiel unter politische Kontrolle. Zu ihrem größten Versagen zählt die Sabotage der E‑Deklarationen, der elektronischen Einkommens- und Vermögenserklärung für Staatsdiener.
Die Agentur wird dann nicht mehr von fünf unverantwortlichen Kommissaren geleitet, sondern von einem Vorsitzenden und drei Beigeordneten. Das Ministerkabinett wird den neuen Vorsitzenden der Agentur auf Basis eines offenen Auswahlverfahrens unter Beteiligung ausländischer Experten im zuständigen Komitee ernennen. Diese werden von internationalen Organisationen benannt, ähnlich wie beim Obersten Antikorruptionsgericht.
Durch den Gesetzesentwurf soll die Agentur auch Zugang zu allen öffentlichen Registern und Datenbanken erhalten und sie soll verpflichtet werden, der NABU automatisch Zugang zu den Erklärungen zu gewähren.
Die Aufsicht über die Behörde wird gestärkt: Alle zwei Jahre muss sie sich einer unabhängigen Prüfung unterziehen. Die Agentur wird darüber hinaus auch über eine interne Revision verfügen.
Die zuständigen Antikorruptionseinheiten werden in verschiedenen öffentlichen Institutionen ausgebildet und für die Identifizierung von Korruption, die Risikoanalyse und der Kontrolle der eingereichten Erklärungen zuständig sein.
Die Anwendbarkeit des Gesetzes zur Prävention von Korruption wird auf die Mitarbeiter des Präsidentenbüros ausgedehnt, die vom Präsidenten ernannt werden.
Der Gesetzesentwurf regelt auch einige Aspekte hinsichtlich der Erklärung von Vermögenswerten, insbesondere dass Banken und Finanzinstitutionen im Ausland genannt werden müssen, bei denen Staatsbedienstete Konten führen und Schließfächer für Wertsachen angemietet haben. Zudem müssen große Änderungen nicht nur bei Einkommen von über 96.000 UAH (rund 3.800 USD) erklärt werden, sondern auch bei Ausgaben eines Meldenden und seiner Familienmitglieder.
Der Begriff Familienmitglieder und nahe Angehörige wird spezifiziert. Im Rahmen der Erklärung werden Familienmitglieder als solche definiert, die 183 Tage pro Jahr zusammenleben oder am letzten Tag des Jahres.
Verbesserung der Strafprozesse
Die Umsetzung der sogenannten Losowyj-Änderungen Ende 2017 stellt einen schwarzen Tag in der Geschichte der Strafprozessordnung der Ukraine dar. Die Ermittlungsdauer wurde auf den unrealistischen Zeitraum von nur 12–18 Monaten beschränkt. Eine solche Einschränkung verkompliziert zeitaufwändige Prozesse, insbesondere solche, bei denen Beweise ausländischer Ermittlungsbehörden benötigt werden. Darüber hinaus wurde die Befugnis, Untersuchungen auszuweiten, von Staatsanwälten auf Ermittlungsrichter übertragen – wodurch die bereits überlasteten Gerichte noch mehr Arbeit erhalten. Und ein kaum nachvollziehbares staatliches Monopol für forensische Untersuchungen bei Kriminalfällen wurde eingeführt. Selenskyjs Änderungen sind darauf ausgerichtet, all dies zurückzunehmen.
Der Gesetzesentwurf ermöglicht es Untersuchungsrichtern, keine Sicherheitsleistungen für Verdächtige schwerer und besonders schwerer Korruptionsverbrechen zu verhängen. Derzeit sind sie noch dazu verpflichtet, was dazu führt, dass in der Öffentlichkeit stehende Verdächtige oft nach Zahlung einer Kaution freigelassen werden, die deutlich unter der Bereicherung durch die Korruption liegt.
Eine andere Neuerung betrifft Entscheidungen in der Hauptsache. Ein Staatsanwalt wird verpflichtet, eine verkürzte Version der Anklageschrift zu verlesen, um damit Verfahren wie das gegen Nasirow zu verhindern, beim dem gegen den ehemaligen Leiter der Steuerbehörde, Roman Nasirow, fast zwei Jahre mit der Verlesung eines 774-seitigen Texts vergeudet wurden.
Der Gesetzesentwurf spricht der NABU das Recht zu, selbstständig nach richterlicher Genehmigung Abhörungen verdächtiger Personen durchzuführen. Bis dato fehlte der NABU diese Fähigkeit und sie musste auf die Fähigkeiten des Inlandsgeheimdienstes zurückgreifen. Das war eine Kernforderung der Zivilgesellschaft und des Internationalen Währungsfonds. Gleichzeitig legt der Gesetzentwurf den Auswahlprozess für verdeckte Ermittler der NABU fest. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Jurij Lutsenko beschuldigte die NABU gar, den offenen Auswahlprozess mit der Anstellung von Nachrichtendienstlern zu behindern.
Personeller Wandel im Büro der Staatsanwaltschaft
Mit der Ernennung des neuen Generalstaatsanwalts Ruslan Rjaboschapka erhält die Ukraine eine neue Chance für eine umfassende Reform des in die Kritik geratenen Büros der Staatsanwaltschaft.
Der Gesetzesentwurf sieht vor, die Zahl der Mitarbeiter von derzeit 14.000 auf 10.000 zu reduzieren. Alle Staatsanwälte, die bleiben wollen, müssen eine Beurteilung durch einen vom Generalstaatsanwalt gebildeten Sonderausschuss bestehen. Der Ausschuss prüft, ob die Staatsanwälte die Kriterien Professionalität, persönliche und soziale Kompetenz, Berufsethik und Integrität erfüllen. Dem Ausschuss wird zudem von der Kommission der Staatsanwaltschaft für Qualifikation und Disziplinarfragen das Recht übertragen, Auswahlverfahren für das Büro des Staatsanwalts durchzuführen, während die Disziplinarverfahren bei der Kommission verbleiben.
Des Weiteren legt die Gesetzesinitiative die Grundlage für elektronische Arbeitsprozesse, um die Bürokratie zu reduzieren.
Neue Richter
Selenskyj will die Justizreform durch eine Neuausrichtung der Organe der juristischen Selbstverwaltung beginnen. Der Gesetzesentwurf sieht eine komplett neue Aufstellung der Kommission für hohe richterliche Qualifikation durch das Auswahlgremium unter Beteiligung internationaler Experten vor. Sie werden aus 12 ausländischen Experten gewählt, die von internationalen Organisationen 2018 für den Öffentlichen Rat internationaler Experten im Rahmen der Aufstellung des Obersten Antikorruptionsgerichts nominiert wurden. Im Auswahlgremium werden sie eine entscheidende Rolle spielen.
Bewerben können sich Anwälte mit 15 Jahren Berufserfahrung und einem einwandfreien Ruf.
Die neue Kommission für Qualifikation wird die Richter des Obersten Gerichtshofs prüfen und Bewerber empfehlen, die die Kriterien der Integrität für eine erneute Ernennung erfüllen.
Darüber hinaus sieht die Gesetzesinitiative vor, einen Ethikausschuss zu gründen, der die Integrität der Mitglieder der Kommission für Qualifikation und des Hohen Justizrats überwacht. Der Ethikausschuss besteht aus drei Mitgliedern des Hohen Justizrats und drei internationalen Experten. Wenn der Ethikausschuss urteilt, dass ein Mitglied nicht den Kriterien der Integrität und Berufsethik gerecht wird, empfiehlt er dem Hohen Justizrat die Entlassung dieser Person. Die endgültige Entscheidung über die Entlassung wird im Rat mit einfacher Mehrheit getroffen.
Allerdings sollte angesichts der Erfahrungen des Obersten Antikorruptionsgerichts die Rolle internationaler Partner im Ethikausschuss gestärkt werden. Das Problem beim vorgesehen Prozess besteht darin, dass, um eine Entscheidung des Ethikausschusses für die Entlassung einer Person herbeizuführen, mindestens ein Mitglied des Hohen Justizrats zustimmen (und damit gegen einen Kollegen stimmen) muss. Auf der nächsten Ebene könnte der Hohe Justizrat die Entscheidung des Ethikausschusses leicht verwerfen, da diese nicht bindend ist.
Die Lösung könnte wie folgt aussehen:
-> Der Ethikausschuss sollte sich aus vier ausländischen Experten + zwei Mitgliedern des Hohen Justizrats zusammensetzen, um eine Blockade von Entlassungen zu verhindern.
-> Es muss sichergestellt werden, dass Entscheidungen des Ethikausschusses nicht mit einfacher Mehrheit des Hohen Justizrats verworfen werden können, sondern nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit der Stimmen aus dem Hohen Justizrat und der ausländischen Experten, wobei mindestens zwei ausländische Experten dafür stimmen müssen.
Insgesamt handelt es sich um das erste Gesetzespaket, das darauf abzielt, die drängendsten Probleme anzugehen. Um die Reformen fortzusetzen, müssen die nächsten Schritte unverzüglich eingeleitet werden für die komplette Neuausrichtung des Hohen Justizrats, der Vereinfachung der Arbeit der ukrainischen Sicherheitsbehörde durch die Begrenzung ihrer untypischen Rechte, die Schaffung eines Büros für Finanzermittlungen und die Befassung mit allen Wirtschaftsermittlungen etc. Eine durchaus umfangreiche Aufgabe.
[Anm.d.R.] Am 18. September stimmte die Werchowna Rada in der zweiten Lesung mit einer Mehrheit von 323 Stimmen für eine Klarstellung der Jurisdiktion des jüngst angelaufenen Obersten Antikorruptionsgerichts. Kritiker befürchteten, dass das kleine Spezialgericht durch ein zu breites Mandat mit Fällen überflutet werden könne. Die NGO Anti-Corruption Action Centre begrüßten die Änderungen.
Olena Galuschka ist Vorstandsmitglied des Anti-Corruption Action Center und Leiterin von internationalen Beziehungen. Olena Scherban ist Vorstandsmitglied des Anti-Corruption Action Center und Leiterin der Rechtsabteilung.
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