Die Evolution der Würde
Schien es 2014 so, als stünde das Land, allen Ereignissen zum Trotz, vor einem Durchbruch, dann möchte man 2019 an nichts mehr glauben – zu tief sitzen Resignation und Enttäuschung.
Wir sind die Toten, sagte Winston.
Wir sind die Toten, betete Julia getreulich nach.
Ihr seid die Toten, sagte eine eiserne Stimme hinter ihnen.
George Orwell, 1984.
„Wenn ihnen danach ist, bringen sie mich hinter Gittern“ – eine solche Haltung brachte jeder zum Ausdruck, der zwischen 2013 und heute einem wie auch immer gearteten Aktivismus nachgegangen war, von den ersten Protestaktionen hin zu den lärmenden Ereignissen der vergangenen Zeit.
„Wir alle hier bilden eine organisierte kriminelle Vereinigung“, scherzten all diejenigen, die Autoreifen für die Barrikaden brachten, Verwundete bei sich Zuhause versteckten, über die Grenze Helme heranschafften, als bewaffnete Freiwillige an die Front gingen, in der ATO-Zone halfen, Geld für Ausweise sammelten, heimlich Medikamente kauften und gegen die Regierung waren.
„Wir sperren euch ein, wenn wir wollen. Ihr alle seid eine organisierte kriminelle Vereinigung“, gab Awakow bei einer Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag zu Protokoll.
Wir sind diese Rolle schon seit langem gewohnt. Und wir hegen keine Illusionen. Wir sind jeder Regierung ein Dorn im Auge. Egal, ob der vergangenen, der aktuellen, oder der kommenden. Weil wir nicht im gemütlichen Ohrsessel vor dem Fernseher sitzen und sich unser Leben nicht nur zwischen Arbeit und Urlaub abspielt. Weil unser Horizont nicht nur auf die Wurstpreise und die neuesten Skandale aus dem Privatleben irgendwelcher Popstars beschränkt ist. Weil wir gelernt haben zu denken. Und die Machthaber zu überwachen. Und nicht nur bei einer Tasse Tee in der Küche zu protestieren, sondern auf den Straßen. Weil der Wert der eigenen Freiheit und des eigenen Lebens gesunken, an einigen Orten vollständig verschwunden ist. Weil wir uns in einem bestimmten Moment damit abgefunden haben, zu sterben, falls es notwendig wäre. Und dadurch keine Angst mehr empfanden. Es blieb die Angst um die Kinder, um das Land, die Angst davor, dass wir dieses oder jenes nicht mehr würden tun können. Aber die Angst um unser eigenes Leben, die verschwand.
Ich möchte gerne sagen können, dass wir viele sind. Aber das stimmt nicht. Wir sind so wenige, dass wir uns fast alle von Angesicht zu Angesicht kennen. Und jeden Tag werden wir weniger. Wir erleiden Burnout, wir sterben, wir richten uns selbst, wir rotieren mit Herzinfarkten, Schlaganfällen, mit Krebs durch die Krankenhäuser. Wir schaffen es nicht, alle Löcher mit unseren Händen zu schließen. Und wir können unsere Herzen nicht schützen.
2014 war ich der festen Überzeugung, dass sich ein Umbruch in meinem Land ereignet hatte. Ungeachtet des Todes. Ungeachtet des Krieges. Wir waren eine Nation. Nicht nur Einwohner. Wir wollten Freiheit und Würde. Wir glaubten, dass wir in der Lage wären, sämtlichen inneren und äußeren Feinden stand zuhalten. Weil praktisch das gesamte Land uns den Rücken stärkte. Eine Welle der Unterstützung. Sie gab die Kraft, um nicht der Erschöpfung anheimzufallen, eine homöopathische Dosis, genug für einen „weiteren Atemzug“. Wir wussten: das, was wir taten, das brauchte das Land. Und die Menschen, die in diesem Land leben.
2019 weiß ich nicht länger, an was ich glauben soll. Das Land ist des Krieges und der Übergangsperioden müde. Es braucht kostenlose Medizin, günstiges Gas und ein Neujahrskonzert. Das Land regt sich über diejenigen auf, die es am dringendsten braucht. Und noch wütender macht es sie, dass jenen die Kraft gefehlt hat, das Land inmitten des Krieges in ein blühendes Paradies zu verwandeln. Das Land will nicht vierzig Jahre lang durch die Wüste irren. Und ändern will es sich auch nicht. Deshalb ist das Land leichtgläubig gegenüber jederlei Versprechen des nächstbesten Politikers. Und ebenso leicht glaubt es gleichwelchen Anschuldigungen gegenüber „unbequemen“ Menschen.
Das Land will Anführer, die es in eine strahlende Zukunft geleiten. Aber es ist nicht bereit, diesen Weg zu ebnen. Bisweilen aus Trägheit, fürchtet sich da Land vor etwas vollkommen Unerwarteten und erhebt Vorwürfe an die Adresse derjenigen, die nicht das Handtuch geworfen haben: Warum schweigt ihr denn? Warum tut ihr nichts? Wir haben doch unsere Hoffnungen auf euch gesetzt.
Und wir haben auf euch gehofft. Auf alle, die die Augen vor den Fehltritten der letzten Regierung verschlossen hatten. Auf alle, die nach dem Motto „schlimmer kann es nicht mehr werden“ gewählt haben. Auf alle, die außerhalb der Politik stehen. Auf alle, die an politische Führer glauben, und nicht an Ideen. Auf alle, die europäische Renten, aber keine Steuern zahlen wollen. Auf alle, die „auf so ein Land scheißen“. Alle, mit denen wir in direkter Nachbarschaft leben.
2014, des nachts, bei zwanzig Grad Minus, sangen tausende Menschen vor den Gerichten: „Jungs, wir sind mit euch!“, sie wärmten sich an brennenden Tonnen die Hände und brachen ihre Butterbrote für unbekannte Menschen entzwei. Ihr hattet Angst. Ihr wusstet, dass es die Praxis der Schnellgerichte schon einmal gegeben hatte. Im Jahre 1937. Und dass es nicht einmal darum ging, die Demonstrierenden zu unterstützen. Sondern dass dies eine Frage des Selbsterhalts ist. Denn wenn man es mit ihnen machen kann, dann kann es auch mit euch geschehen. Erinnert ihr euch, wie die Gerichte die Urteile fällten, wie aus dem Kopiergerät? Gefängnisstrafen, ohne Aussicht auf Bewährung. Keine Möglichkeit für Kaution. Keine Argumente. Schuldig. Konvoi. Gefangenentransport. Gefängnis. Der Nächste. Menschenmassen vor dem Gefängnis. Hunderttausende auf dem Maidan. Weil so, so geht es nicht.
2019 trafen sich rund zwei Dutzend Menschen zum Prozess gegen Julija [Kuzmenko], Jana [Dugar] und Andrij [Antonenko; den dreien wird in einem umstrittenen Gerichtsverfahren zur Last gelegt, im Juli 2016 in Kyjiw den belarussischen Journalisten Pawel Scheremet ermordet zu haben] vor dem Gerichtsgebäude. Immer dieselben. Die sich persönlich kennen, von Angesicht zu Angesicht. Andere schauten sich die Siegespressekonferenz von Awakow an und beschlossen, für alle Fälle abzuwarten – woher dieser Sinneswandel? Nun, vielleicht legt ein auf Kinder spezialisierter Herzchirurg wirklich Sprengstoff unter das Fahrzeug eines Journalisten, der nur einem kleinen Kreis von Menschen bekannt ist? Und der Musiker [gemeint ist Antonenko] ist wirklich „fasziniert von den Ideen der Ultranationalisten“ [so das Motiv laut Anklageschrift]? Unsere Hütte ist schließlich verrückt. Mal sehen, zu welchem Ergebnis die Ermittlungen kommen.
Und fast niemand war empört darüber, dass Menschen ohne Verurteilung im ganzen Land zu Mördern erklärt werden. Dass niemand ihre Alibis überprüft hat. Dass sämtliche Anschuldigungen auf den Annahmen und Vergleichen eines Videos mit einem anderen beruhen. Dass weder Motive noch Verbindungen zwischen dem Opfer und seinen „Mördern“ erkennbar wären. Man könnte meinen, dass bei uns so etwas wie eine Unschuldsvermutung existiert. Fehlanzeige. Schuldig. Hurra. Wir haben alles aufgeklärt, unsere Brust ist bereit für die Medaillen. Gleichzeitig wurde ein Platz nach Scheremet benannt. Sehr schön, doch. Und genau zur rechten Zeit. Ebenso wie das Erscheinen der Journalisten des Fernsehsenders „Zvezda“ in Kyjiw am selben Tag [Zvezda ist ein Fernsehsender des russischen Verteidigungsministeriums; am 12. Dezember wurde bekannt, das einem kleinen Fernsehteam die Einreise in die Ukraine genehmigt wurde; dabei hatte das Team nicht angegeben, journalistisch Tätig zu sein.].
Und dann die nächtlichen Gerichtsprozesse. Dort kamen die Anwälte bereits mit Alibis. Und es gab Abgeordnete, die bereit waren, die Kaution für die Angeklagten zu übernehmen. Aber nein. Das Gericht war reine Formsache. Es verlas lediglich eine vorbereitete Entscheidung, ohne Rücksicht auf irgendwelche Tatbestände. Schuldig. Konvoi. Gefangenentransport. Gefängnis, ohne Möglichkeit für Kaution.
Und wisst ihr was? Niemand wird protestieren. Außer denselben paar Hundert Leuten. Die sich persönlich kennen, von Angesicht zu Angesicht. Naja, vielleicht schließen sich noch ein paar politische Kräfte an, um ihre Fahnen zu schwenken und sich selbst in Erinnerung zu rufen. Und fertig. Der Rest wird die Weihnachtsbäume schmücken, sich auf die Winterferien vorbereiten und das Gemüse für den Oliviersalat schnippeln. Und das bedeutet, dass seit dem heutigen Tag mit jedem von euch so umgegangen werden kann. Mit jedem. Ohne Gerichtsprozess und ohne Untersuchung.
„Wir sind die Toten“.
Wir wissen das. Das macht uns keine Angst. Aber wir werden gehen, während ihr allein mit dem Jahr 1937 zurückbleibt, mit billiger Wurst und der Unterhaltungsshow im Fernsehen.
[Ergänzungen der Redaktion in eckigen Klammern]
Der Text ist von Lesya Lytvynova und erschien bereits am 15. Dezember 2019 im Online-Magazin Zerkalo Nedelii. Übersetzt und empfohlen hat ihn unser Autor Johann Zajaczkowski.
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