Mili­tä­ri­sche Analyse: Ein lang­wie­ri­ger Krieg

Foto: David Ryder /​ Imago Images

Ein halbes Jahr nach Beginn der groß­an­ge­leg­ten rus­si­schen Inva­sion muss der Westen die Ukraine mit wei­te­ren Bekennt­nis­sen und Waf­fen­lie­fe­run­gen unter­stüt­zen. Eine Analyse der aktu­el­len mili­tä­ri­schen Lage von Mykola Vorobiov.

Am 24. August feierte die Ukraine den 31. Jah­res­tag ihrer Unab­hän­gig­keit. Genau sechs Monate zuvor begann die groß ange­legte Inva­sion Russ­lands unter dem Deck­man­tel einer „beson­de­ren mili­tä­ri­schen Ope­ra­tion“. Wenn man das erste halbe Jahr dieses Krieges ana­ly­siert, kann man fest­stel­len, dass sich die Ziele des Kremls nicht grund­le­gend geän­dert haben. Denn Moskau hat sich nach wie vor zum Ziel gesetzt, den ukrai­ni­schen Staat zu zer­stö­ren und die meisten seiner Gebiete als Teil des „his­to­ri­schen Russ­lands“ zu annektieren.

Gleich­zei­tig zwingen schwer­wie­gende, rus­si­sche Ver­luste auf dem Schlacht­feld (bis zum 5. Sep­tem­ber belie­fen sie sich auf etwa 50.000 Gefal­lene, 234 Selbst­fahr­la­fet­ten, 200 Hub­schrau­ber, etwa 2000 Panzer und 4300 gepan­zerte Fahr­zeuge) sowie bei­spiel­lose Sank­tio­nen des Westens den Kreml dazu, von einem „Blitz­krieg“ zu einem Zer­mür­bungs­krieg gegen Kyjiw und seine wich­tigs­ten Ver­bün­de­ten über­zu­ge­hen. Und solch ein Krieg könnte noch Jahre dauern.

Kämpfe im Süd­os­ten der Ukraine

Nach einer Reihe von Miss­erfol­gen der rus­si­schen Armee in der Nähe von Kyjiw, Tscher­ni­hiw, Sumy und Charkiw, die in den ersten Kriegs­wo­chen ein­ge­nom­men werden sollten, kon­zen­trierte sich Moskau auf die süd­öst­li­chen Regio­nen. Damit beschränk­ten sich die Auf­ga­ben der Armee auf den „Schutz“ und die „Befrei­ung“ des Donbas und seiner Bewoh­ner vom „faschis­ti­schen Regime“ in Kyjiw. Zu den mili­tä­ri­schen Prio­ri­tä­ten Moskaus gehört es derzeit, die admi­nis­tra­ti­ven Grenzen der Regio­nen Donezk und Luhansk zu errei­chen, eine „Land­brü­cke“ von der Krim zu sichern, die Ukraine vom Zugang zum Schwar­zen und Asow­schen Meer abzu­schnei­den, um sie vor ernst­hafte wirt­schaft­li­che Her­aus­for­de­run­gen zu stellen, und die bereits besetz­ten Gebiete um Cherson, Myko­la­jiw und Sapo­rischschja zu ver­tei­di­gen, ein­schließ­lich des im März besetz­ten Kern­kraft­werks in der Stadt Enerhodar.

Obwohl es den ukrai­ni­schen Streit­kräf­ten gelang, eine wirk­same Ver­tei­di­gung zu orga­ni­sie­ren (wie es zu Beginn der Inva­sion nur wenige erwar­tet hatten), erlei­det die Armee wei­ter­hin schwere Ver­luste – vor allem auf­grund der deut­li­chen rus­si­schen Über­le­gen­heit in Bezug auf Artil­le­rie und Muni­tion (sie liegt nach unter­schied­li­chen Schät­zun­gen bei zwi­schen 10:1 und 20:1). Dennoch begann Kyjiw am 29. August mit einer mas­si­ven Gegen­of­fen­sive in der Region Cherson, während sich das 109. Regi­ment der soge­nann­ten „Donez­ker Volks­re­pu­blik“ zusam­men mit rus­si­schen Fall­schirm­jä­gern aus seinen Stel­lun­gen zurück­zog und zu Ver­tei­di­gung übergingen.

Ermög­licht wurde dies weit­ge­hend durch west­li­che Waf­fen­lie­fe­run­gen, zum Bei­spiel Mehr­fach­ra­ke­ten­wer­fer, boden­ge­stützte Luft­ver­tei­di­gungs­sys­teme aus den USA, Hau­bit­zen, Selbst­fahr­la­fet­ten, slo­wa­ki­sche Hau­bit­zen, deut­sche Hau­bit­zen und Gepard-Flug­ab­wehr­selbst­fahr­la­fet­ten, 30 sowje­ti­sche Schüt­zen­pan­zer, pol­ni­sche selbst­fah­rende gepan­zerte, Artil­le­rie­ge­schütze und andere Bereit­stel­lun­gen aus mehr als 20 Ländern. Im April bot das deut­sche Rüs­tungs­un­ter­neh­men Krauss-Maffei Wegmann der Ukraine den Kauf von 100 Leopard 2A7-Panzern an – nun muss die Regie­rung in Berlin dafür sorgen, dass diese Lie­fe­rung zustande kommt.

Vorstoß in der Region Charkiw

Dank der mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung konnten die ukrai­ni­schen Streit­kräfte auch die am 5. Sep­tem­ber begon­nene Gegen­of­fen­sive in der Region Charkiw vor­be­rei­ten und durch­füh­ren. Inner­halb von einer Woche wurden etwa 40 Sied­lun­gen in der Region Charkiw befreit, dar­un­ter die Städte Isjum, Bal­a­k­lija und Kup­jansk. Die rus­si­sche Armee hatte mehr als drei Monate gebraucht, um diese Gebiete zu beset­zen. Da die rus­si­schen Truppen über­rum­pelt wurden, gelangte die ukrai­ni­sche Armee in den Besitz zurück­ge­las­se­ner mili­tä­ri­scher Aus­rüs­tung, dar­un­ter moderne Panzer, Schüt­zen­pan­zer und eine seltene Radar­sta­tion. Aller­dings erlit­ten die ukrai­ni­schen Truppen bei ihrem Vor­marsch auch erheb­li­che Ver­luste (die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt).

Obwohl der Kreml damit drohte, die Wege der west­li­chen Mili­tär­lie­fe­run­gen auch durch direkte Angriffe abzu­schnei­den, gelang es Kyjiw, diese zu sichern. Dies ermög­licht es der Ukraine nicht nur, sich selbst effek­tiv zu ver­tei­di­gen und Leben zu retten, sondern auch rus­si­sche Lager­häu­ser, Mili­tär­flug­plätze und andere Infra­struk­tu­ren in der Ferne anzu­grei­fen, ein­schließ­lich auf der besetz­ten Krim und jen­seits der rus­si­schen Grenze in Bel­go­rod, wo die Streit­kräfte der Ukraine in den letzten Monaten Dut­zende mili­tä­ri­scher Ziele eli­mi­niert haben. Obwohl die west­li­chen Partner der Ukraine immer noch kein Artil­le­rie­sys­tem mit großer Reich­weite (150–300 km effek­tive Reich­weite) zur Ver­fü­gung gestellt haben, scheint Kyjiw seine moder­ni­sier­ten Marsch­flug­kör­per „Neptun“, „Grom“ und „Tochka‑U“ effek­tiv einzusetzen.

Abge­se­hen von den jüngs­ten rus­si­schen Regio­nal­wah­len ist es Moskau nicht gelun­gen, „Volks­ab­stim­mun­gen“ in den besetz­ten ukrai­ni­schen Gebie­ten zu orga­ni­sie­ren, da die ukrai­ni­sche Armee in der Region Charkiw, die inner­halb von nur zwei Wochen fast voll­stän­dig von rus­si­scher Besat­zung befreit wurde, eine massive Gegen­of­fen­sive durch­ge­führt hat. Die rus­si­schen Truppen hatten mehr als drei Monate gebraucht, um die Region unter hohen Ver­lus­ten zu beset­zen. Ins­ge­samt konnten die ukrai­ni­schen Truppen dank des wirk­sa­men Ein­sat­zes ihrer Streit­kräfte und der inter­na­tio­na­len Unter­stüt­zung – ein­schließ­lich moder­ner Waffen aus Deutsch­land – rund 6.000 km² des Landes befreien.

In seinem jüngs­ten Inter­view erklärte Prä­si­dent Selen­skyj, dass die Anne­xion der ukrai­ni­schen Gebiete jeg­li­che Frie­dens­ver­hand­lun­gen zum Erlie­gen bringen werde. Gleich­zei­tig for­derte er die Partner der Ukraine auf, ein­zu­grei­fen und die Aus­stel­lung von EU-Visa für rus­si­sche Staats­bür­ger zu ver­bie­ten sowie weitere Ein­schrän­kun­gen vor­zu­neh­men. Außer­dem appel­lierte er an die NATO, die Ukraine unver­züg­lich in den Mem­bers­hip Action Plan auf­zu­neh­men, der Zugang zum Waf­fen­ar­se­nal der NATO und zu anderer drin­gend benö­tig­ter Aus­rüs­tung ermög­li­chen würde.

Unter­stüt­zung aus den USA

Auch aus Mos­kauer Sicht steht viel auf dem Spiel, denn der Kreml will sich vor den geplan­ten „Volks­ab­stim­mun­gen“ so viele ukrai­ni­sche Gebiete aneig­nen wie möglich – auch wenn die Termine noch nicht fest­ste­hen. Anders als auf der Krim könnten diese Pläne durch die ukrai­ni­sche Gegen­of­fen­sive durch­kreuzt werden. Kyjiw erwar­tet aktuell ein von US-Prä­­si­­dent Joe Biden unter­zeich­ne­tes „Land-Lease-Gesetz“. Dieses soll bis zum 1. Oktober in Kraft treten und der Ukraine mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung ein­schließ­lich Lang­stre­cken­ra­ke­ten im Wert von meh­re­ren Mil­li­ar­den Dollar zur Ver­fü­gung stellen. Dies würde es der Ukraine ermög­li­chen, in Zukunft mehr rus­si­sche Mili­tär­ziele zu treffen, auch in den besetz­ten Gebie­ten und darüber hinaus inner­halb Russlands.

Höchst­wahr­schein­lich wird es den Kreml dazu ver­an­las­sen, härter zu handeln. Erst kürz­lich ver­grö­ßerte Prä­si­dent Putin die Zahl der rus­si­schen Streit­kräfte um 137 000 Mann – auf jetzt 1,15 Mil­lio­nen. Der ein­ge­führte Erlass tritt am 1. Januar 2023 in Kraft. Infol­ge­des­sen ist der rus­­sisch-ukrai­­ni­­sche Krieg in die Phase eines lang­wie­ri­gen Kon­flikts ein­ge­tre­ten. Moskau ver­sucht, den ukrai­ni­schen Wider­stands­wil­len zu unter­gra­ben und eine Spal­tung seiner west­li­chen Ver­bün­de­ten, ins­be­son­dere Deutsch­land, vor der Heiz­pe­ri­ode im Winter herbeizuführen.

Dieser Stra­te­gie folgend hat Russ­land vor Kurzem die Gas­lie­fe­run­gen über Europas wich­tigste Ver­sor­gungs­route Nord Stream 1 gekappt – ein Schritt, der darauf abzielt, die Aus­sich­ten auf eine Rezes­sion in den euro­päi­schen Ländern zu erhöhen, ins­be­son­dere in denen, die die Ukraine aktiv unter­stüt­zen. Während Gazprom erklärte, die jüngste Abschal­tung sei not­wen­dig gewesen, um War­tungs­ar­bei­ten durch­zu­füh­ren, stellte der deut­sche Wirt­schafts­mi­nis­ter Robert Habeck Anfang des Monats klar, Nord Stream 1 sei „voll funk­ti­ons­fä­hig“ und es gebe keine tech­ni­schen Pro­bleme. Weitere Ein­schrän­kun­gen der euro­päi­schen Gas­lie­fe­run­gen würden die Ener­gie­krise ver­schär­fen, die bereits zu einem 400-pro­­zen­­ti­­gen Anstieg der Groß­han­dels­preise für Gas seit August letzten Jahres geführt hat. Bereits jetzt geraten Ver­brau­cher und Unter­neh­men unter Druck und die Regie­run­gen sind gezwun­gen, Mil­li­ar­den an Sub­ven­ti­ons­gel­dern auszugeben.

Weitere Waf­fen­lie­fe­run­gen

Die Ukraine braucht drin­gend mehr Waffen – dar­un­ter ins­be­son­dere Panzer, gepan­zerte Fahr­zeuge, Hau­bit­zen, Flug­ab­wehr­sys­teme und andere Aus­rüs­tungs­ge­gen­stände, die Deutsch­land besitzt. Nur so kann die Zahl der Opfer zu ver­rin­gert werden und die Ukraine der über­wäl­ti­gen­den rus­si­schen Mili­tär­ag­gres­sion stand­hal­ten. Dies kann als Ergän­zung zu den Lie­fe­run­gen dienen, die das Land bereits seit Januar bereit­ge­stellt hat.

Während der Winter vor der Tür steht, wird Russ­land Europa wei­ter­hin durch Mani­pu­la­tio­nen der Ener­gie­ver­sor­gung, nukleare Dro­hun­gen wie jetzt im größten euro­päi­schen Atom­kraft­werk in Sapo­rischschja, Des­in­for­ma­tion, Ein­mi­schung in innen­po­li­ti­sche Pro­zesse, Cyber­an­griffe und andere Instru­mente erpres­sen. Tak­ti­ken, die Moskau bereits vor einer umfas­sen­den Inva­sion der Ukraine ein­ge­setzt hat und die daher für die euro­päi­schen Regie­run­gen nicht neu sein sollten.

Europa ist mit der größten mili­tä­ri­schen und mög­li­cher­weise nuklea­ren Bedro­hung seit den schlimms­ten Zeiten des Kalten Krieges kon­fron­tiert. Daher sollten die west­li­chen Ver­bün­de­ten geeint sein wie nie zuvor.

Am 10. Sep­tem­ber erklärte Prä­si­dent Selen­skyj in seiner Rede auf dem „Yalta Euro­pean Stra­tegy“ Forum in Kyjiw, dass die kom­men­den 90 Tage des Winters eine ent­schei­den­dere Rolle für die Ukraine spielen würden, als die ver­gan­ge­nen 30 Jahre der Unab­hän­gig­keit und Exis­tenz der Euro­päi­schen Union. Dies bedeute auch, dass Moskau nach den jüngs­ten mili­tä­ri­schen Miss­erfol­gen nichts unver­sucht lassen wird, um mit aus­blei­ben­den Ener­gie­lie­fe­run­gen als „letztem Argu­ment“ die Ukraine und ihre Ver­bün­de­ten zu destabilisieren.

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Geför­dert

Portrait von Worobiow

Mykola Vorobiov ist ukrai­ni­scher Jour­na­list und Fellow an der Johns Hopkins Uni­ver­si­tät (SAIS).

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