Militärische Analyse: Ein langwieriger Krieg
Ein halbes Jahr nach Beginn der großangelegten russischen Invasion muss der Westen die Ukraine mit weiteren Bekenntnissen und Waffenlieferungen unterstützen. Eine Analyse der aktuellen militärischen Lage von Mykola Vorobiov.
Am 24. August feierte die Ukraine den 31. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Genau sechs Monate zuvor begann die groß angelegte Invasion Russlands unter dem Deckmantel einer „besonderen militärischen Operation“. Wenn man das erste halbe Jahr dieses Krieges analysiert, kann man feststellen, dass sich die Ziele des Kremls nicht grundlegend geändert haben. Denn Moskau hat sich nach wie vor zum Ziel gesetzt, den ukrainischen Staat zu zerstören und die meisten seiner Gebiete als Teil des „historischen Russlands“ zu annektieren.
Gleichzeitig zwingen schwerwiegende, russische Verluste auf dem Schlachtfeld (bis zum 5. September beliefen sie sich auf etwa 50.000 Gefallene, 234 Selbstfahrlafetten, 200 Hubschrauber, etwa 2000 Panzer und 4300 gepanzerte Fahrzeuge) sowie beispiellose Sanktionen des Westens den Kreml dazu, von einem „Blitzkrieg“ zu einem Zermürbungskrieg gegen Kyjiw und seine wichtigsten Verbündeten überzugehen. Und solch ein Krieg könnte noch Jahre dauern.
Kämpfe im Südosten der Ukraine
Nach einer Reihe von Misserfolgen der russischen Armee in der Nähe von Kyjiw, Tschernihiw, Sumy und Charkiw, die in den ersten Kriegswochen eingenommen werden sollten, konzentrierte sich Moskau auf die südöstlichen Regionen. Damit beschränkten sich die Aufgaben der Armee auf den „Schutz“ und die „Befreiung“ des Donbas und seiner Bewohner vom „faschistischen Regime“ in Kyjiw. Zu den militärischen Prioritäten Moskaus gehört es derzeit, die administrativen Grenzen der Regionen Donezk und Luhansk zu erreichen, eine „Landbrücke“ von der Krim zu sichern, die Ukraine vom Zugang zum Schwarzen und Asowschen Meer abzuschneiden, um sie vor ernsthafte wirtschaftliche Herausforderungen zu stellen, und die bereits besetzten Gebiete um Cherson, Mykolajiw und Saporischschja zu verteidigen, einschließlich des im März besetzten Kernkraftwerks in der Stadt Enerhodar.
Obwohl es den ukrainischen Streitkräften gelang, eine wirksame Verteidigung zu organisieren (wie es zu Beginn der Invasion nur wenige erwartet hatten), erleidet die Armee weiterhin schwere Verluste – vor allem aufgrund der deutlichen russischen Überlegenheit in Bezug auf Artillerie und Munition (sie liegt nach unterschiedlichen Schätzungen bei zwischen 10:1 und 20:1). Dennoch begann Kyjiw am 29. August mit einer massiven Gegenoffensive in der Region Cherson, während sich das 109. Regiment der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ zusammen mit russischen Fallschirmjägern aus seinen Stellungen zurückzog und zu Verteidigung übergingen.
Ermöglicht wurde dies weitgehend durch westliche Waffenlieferungen, zum Beispiel Mehrfachraketenwerfer, bodengestützte Luftverteidigungssysteme aus den USA, Haubitzen, Selbstfahrlafetten, slowakische Haubitzen, deutsche Haubitzen und Gepard-Flugabwehrselbstfahrlafetten, 30 sowjetische Schützenpanzer, polnische selbstfahrende gepanzerte, Artilleriegeschütze und andere Bereitstellungen aus mehr als 20 Ländern. Im April bot das deutsche Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann der Ukraine den Kauf von 100 Leopard 2A7-Panzern an – nun muss die Regierung in Berlin dafür sorgen, dass diese Lieferung zustande kommt.
Vorstoß in der Region Charkiw
Dank der militärischen Unterstützung konnten die ukrainischen Streitkräfte auch die am 5. September begonnene Gegenoffensive in der Region Charkiw vorbereiten und durchführen. Innerhalb von einer Woche wurden etwa 40 Siedlungen in der Region Charkiw befreit, darunter die Städte Isjum, Balaklija und Kupjansk. Die russische Armee hatte mehr als drei Monate gebraucht, um diese Gebiete zu besetzen. Da die russischen Truppen überrumpelt wurden, gelangte die ukrainische Armee in den Besitz zurückgelassener militärischer Ausrüstung, darunter moderne Panzer, Schützenpanzer und eine seltene Radarstation. Allerdings erlitten die ukrainischen Truppen bei ihrem Vormarsch auch erhebliche Verluste (die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt).
Obwohl der Kreml damit drohte, die Wege der westlichen Militärlieferungen auch durch direkte Angriffe abzuschneiden, gelang es Kyjiw, diese zu sichern. Dies ermöglicht es der Ukraine nicht nur, sich selbst effektiv zu verteidigen und Leben zu retten, sondern auch russische Lagerhäuser, Militärflugplätze und andere Infrastrukturen in der Ferne anzugreifen, einschließlich auf der besetzten Krim und jenseits der russischen Grenze in Belgorod, wo die Streitkräfte der Ukraine in den letzten Monaten Dutzende militärischer Ziele eliminiert haben. Obwohl die westlichen Partner der Ukraine immer noch kein Artilleriesystem mit großer Reichweite (150–300 km effektive Reichweite) zur Verfügung gestellt haben, scheint Kyjiw seine modernisierten Marschflugkörper „Neptun“, „Grom“ und „Tochka‑U“ effektiv einzusetzen.
Abgesehen von den jüngsten russischen Regionalwahlen ist es Moskau nicht gelungen, „Volksabstimmungen“ in den besetzten ukrainischen Gebieten zu organisieren, da die ukrainische Armee in der Region Charkiw, die innerhalb von nur zwei Wochen fast vollständig von russischer Besatzung befreit wurde, eine massive Gegenoffensive durchgeführt hat. Die russischen Truppen hatten mehr als drei Monate gebraucht, um die Region unter hohen Verlusten zu besetzen. Insgesamt konnten die ukrainischen Truppen dank des wirksamen Einsatzes ihrer Streitkräfte und der internationalen Unterstützung – einschließlich moderner Waffen aus Deutschland – rund 6.000 km² des Landes befreien.
In seinem jüngsten Interview erklärte Präsident Selenskyj, dass die Annexion der ukrainischen Gebiete jegliche Friedensverhandlungen zum Erliegen bringen werde. Gleichzeitig forderte er die Partner der Ukraine auf, einzugreifen und die Ausstellung von EU-Visa für russische Staatsbürger zu verbieten sowie weitere Einschränkungen vorzunehmen. Außerdem appellierte er an die NATO, die Ukraine unverzüglich in den Membership Action Plan aufzunehmen, der Zugang zum Waffenarsenal der NATO und zu anderer dringend benötigter Ausrüstung ermöglichen würde.
Unterstützung aus den USA
Auch aus Moskauer Sicht steht viel auf dem Spiel, denn der Kreml will sich vor den geplanten „Volksabstimmungen“ so viele ukrainische Gebiete aneignen wie möglich – auch wenn die Termine noch nicht feststehen. Anders als auf der Krim könnten diese Pläne durch die ukrainische Gegenoffensive durchkreuzt werden. Kyjiw erwartet aktuell ein von US-Präsident Joe Biden unterzeichnetes „Land-Lease-Gesetz“. Dieses soll bis zum 1. Oktober in Kraft treten und der Ukraine militärische Unterstützung einschließlich Langstreckenraketen im Wert von mehreren Milliarden Dollar zur Verfügung stellen. Dies würde es der Ukraine ermöglichen, in Zukunft mehr russische Militärziele zu treffen, auch in den besetzten Gebieten und darüber hinaus innerhalb Russlands.
Höchstwahrscheinlich wird es den Kreml dazu veranlassen, härter zu handeln. Erst kürzlich vergrößerte Präsident Putin die Zahl der russischen Streitkräfte um 137 000 Mann – auf jetzt 1,15 Millionen. Der eingeführte Erlass tritt am 1. Januar 2023 in Kraft. Infolgedessen ist der russisch-ukrainische Krieg in die Phase eines langwierigen Konflikts eingetreten. Moskau versucht, den ukrainischen Widerstandswillen zu untergraben und eine Spaltung seiner westlichen Verbündeten, insbesondere Deutschland, vor der Heizperiode im Winter herbeizuführen.
Dieser Strategie folgend hat Russland vor Kurzem die Gaslieferungen über Europas wichtigste Versorgungsroute Nord Stream 1 gekappt – ein Schritt, der darauf abzielt, die Aussichten auf eine Rezession in den europäischen Ländern zu erhöhen, insbesondere in denen, die die Ukraine aktiv unterstützen. Während Gazprom erklärte, die jüngste Abschaltung sei notwendig gewesen, um Wartungsarbeiten durchzuführen, stellte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck Anfang des Monats klar, Nord Stream 1 sei „voll funktionsfähig“ und es gebe keine technischen Probleme. Weitere Einschränkungen der europäischen Gaslieferungen würden die Energiekrise verschärfen, die bereits zu einem 400-prozentigen Anstieg der Großhandelspreise für Gas seit August letzten Jahres geführt hat. Bereits jetzt geraten Verbraucher und Unternehmen unter Druck und die Regierungen sind gezwungen, Milliarden an Subventionsgeldern auszugeben.
Weitere Waffenlieferungen
Die Ukraine braucht dringend mehr Waffen – darunter insbesondere Panzer, gepanzerte Fahrzeuge, Haubitzen, Flugabwehrsysteme und andere Ausrüstungsgegenstände, die Deutschland besitzt. Nur so kann die Zahl der Opfer zu verringert werden und die Ukraine der überwältigenden russischen Militäraggression standhalten. Dies kann als Ergänzung zu den Lieferungen dienen, die das Land bereits seit Januar bereitgestellt hat.
Während der Winter vor der Tür steht, wird Russland Europa weiterhin durch Manipulationen der Energieversorgung, nukleare Drohungen wie jetzt im größten europäischen Atomkraftwerk in Saporischschja, Desinformation, Einmischung in innenpolitische Prozesse, Cyberangriffe und andere Instrumente erpressen. Taktiken, die Moskau bereits vor einer umfassenden Invasion der Ukraine eingesetzt hat und die daher für die europäischen Regierungen nicht neu sein sollten.
Europa ist mit der größten militärischen und möglicherweise nuklearen Bedrohung seit den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges konfrontiert. Daher sollten die westlichen Verbündeten geeint sein wie nie zuvor.
Am 10. September erklärte Präsident Selenskyj in seiner Rede auf dem „Yalta European Strategy“ Forum in Kyjiw, dass die kommenden 90 Tage des Winters eine entscheidendere Rolle für die Ukraine spielen würden, als die vergangenen 30 Jahre der Unabhängigkeit und Existenz der Europäischen Union. Dies bedeute auch, dass Moskau nach den jüngsten militärischen Misserfolgen nichts unversucht lassen wird, um mit ausbleibenden Energielieferungen als „letztem Argument“ die Ukraine und ihre Verbündeten zu destabilisieren.
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