„Die Folgen eines russischen Sieges wären für Europa verheerend“ – Sicherheitsexperten rufen zum Strategiewechsel in der Ukraine auf
Zwei Jahre Angriffskrieg gegen die Ukraine: Wir haben Sicherheitsexpertinnen und ‑experten aus verschiedenen europäischen Thinktanks um ihre Einschätzung gebeten: War die bisherige Reaktion des Westens auf die russische Aggression angemessen? Sollte der Ansatz geändert werden? Was sollten die westlichen Staaten konkret tun?
Kristi Raik, Direktorin des Estnischen Instituts für Außenpolitik, Estland
Wir brauchen nur einen Blick auf das Schlachtfeld in der Ukraine zu werfen, um zu erkennen, dass die Reaktion des Westens nicht ausreichend war. Nicht nur, dass die Ukraine im vergangenen Jahr nicht in der Lage war, besetzte Gebiete zu befreien, Russland hat in letzter Zeit auch einige territoriale Gewinne gemacht. Das würde nicht passieren, wenn die Ukraine über genügend Waffen verfügen würde.
Wir haben im Westen zu viel Selbstbeweihräucherung über unsere geeinte Reaktion und zu wenig konkrete Handlungen gesehen. Vor allem Europa trägt eine erhebliche Verantwortung dafür, die Militärhilfe für die Ukraine nur langsam aufgestockt sowie ihre Verteidigungskapazitäten und ‑industrie nur mäßig gestärkt zu haben. Wir wissen, was getan werden muss, und die gute Nachricht ist, dass sich Europa in die richtige Richtung bewegt. Leider kann dasselbe nicht über die USA gesagt werden. Europa ist nicht in der Lage, die von den USA geleistete Militärhilfe kurzfristig zu ersetzen, längerfristig aber sehr wohl.
Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir einerseits dringend neue Wege finden, um die Ukraine mit dem zu versorgen, was sie braucht – Artillerie mit großer Reichweite, Munition und Luftabwehr. Andererseits müssen wir die langfristigen Bemühungen fortsetzen, die europäischen Verteidigungskapazitäten an das dramatisch verschlechterte Sicherheitsumfeld anzupassen. Europäische Politiker müssen der Öffentlichkeit kontinuierlich erklären, warum die Unterstützung der Ukraine von entscheidender Bedeutung ist: Die Folgen eines russischen Sieges wären für Europa verheerend – und das darf nicht zugelassen werden.
Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland; Senior Fellow beim Center for European Policy Analysis (CEPA) im Programm „Transatlantic Defense and Security” in Washington D.C. und Senior Advisor bei GLOBSEC
Der Westen hat durch seine bisherige geschlossene Reaktion und seine militärische Unterstützung der Ukraine Russland das Erreichen seiner militärischen Ziele verweigert. Doch jetzt ist ein Strategiewechsel notwendig: Anstatt weiter nur auf Putin zu reagieren, muss der Westen agieren. Anstatt auf ein Festfahren und Einfrieren des Krieges zu spekulieren, muss der Westen die Ukraine so ausstatten, dass sie sich militärisch durchsetzen kann. Gleichzeitig muss die Ukraine zu Beitrittsgesprächen in die NATO eingeladen werden. Nur mit militärischer Stärke der Ukraine und dauerhaften Sicherheitsgarantien kann der Frieden in Europa dauerhaft wiederhergestellt werden.
Nona Mikhelidze, Senior Fellow am Institut für Internationale Angelegenheiten (IAI), Italien
Trotz der Erfolge der Ukraine bei der Rückgewinnung der Kontrolle über das Schwarze Meer und bei den erleichterten Getreideexporten ist die Gegenoffensive zur Befreiung der besetzten Gebiete fehlgeschlagen. Die verzögerte militärische Unterstützung des Westens hat es Russland ermöglicht, seine Stellungen zu befestigen, was zu einem Stellungskrieg mit dem potenziellen Risiko einer Pattsituation geführt hat. Nach zwei Jahren des Konflikts befinden wir uns genau dort, wo die westliche Strategie – der Ukraine zu ermöglichen, sich zu verteidigen, aber nicht zu gewinnen, ganz einem Ansatz folgend, der als „Eskalationsmanagement“ bezeichnet wird – uns hingeführt hat: eine Situation, in der es der Ukraine nicht gelingt, weitere Gebiete zu befreien, und Russland auf der anderen Seite nicht in der Lage ist, weitere Gebiete zu erobern.
Nach westlichem Kalkül hätte dieses Szenario Putin schon längst an den Verhandlungstisch bringen müssen. Das ist jedoch nicht geschehen und wird auch in Zukunft nicht geschehen, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Putin will die gesamte Ukraine unterjochen. Das Zögern des Westens verdeutlicht die prekäre Situation, wonach Putins Drohgebärden gegenüber den NATO-Mitgliedern eine mögliche Eskalation zur Folge haben könnten. Die Bedeutung des Konflikts geht über die Ukraine weit hinaus und stellt eine umfassendere Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Die Anerkennung dieser Realität macht es erforderlich, die berühmte westliche Strategie des „how long as it takes“ in ein „was immer gebraucht wird“ zu überführen – und sicherzustellen, dass die Ukraine ihren (hoffentlich) letzten Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit gewinnt.
Es sind mindestens drei entscheidende Schritte erforderlich: eine erhebliche qualitative und quantitative Steigerung der Waffenlieferungen, die Beschlagnahme eingefrorener russischer Vermögenswerte in Höhe von 300 Milliarden Dollar und eine NATO-Einladung der Ukraine zum bevorstehenden Gipfel in Washington.
Hennadij Maksak, Geschäftsführender Direktor des Foreign Policy Council „Ukrainian Prism“, Ukraine
Seit Beginn der umfassenden Aggression haben Sicherheitsexperten ihre Szenarien für die Entwicklung der Lage wiederholt angepasst. Die Militärhilfe für die Ukraine ist eine der Variablen, die die Entwicklung auf dem Schlachtfeld entscheiden werden. Es ist deutlich zu erkennen, dass die kollektiven Bemühungen der westlichen Partner zu langsam, zu halbherzig und zu weit entfernt waren von den tatsächlichen Bedürfnissen der ukrainischen Armee, die in einen Abnutzungskrieg geraten ist. Abnutzung bedeutet das Überleben des Stärkeren in Bezug auf Munition, Waffen und Truppen. In all diesen Punkten wird die Ukraine nun von Russland ausgestochen, das trotz der Sanktionen des Westens in der Lage war, seine Wirtschaft auf den Krieg einzustellen und große Mengen an Munition und Raketen aus Nordkorea und dem Iran zu beschaffen.
Um aus dieser dramatischen Sackgasse zu gelangen, muss der Westen seine Strategie von der Unterstützung der Ukraine „how long as it takes“ zur Strategie „so viel es braucht, um zu gewinnen“ ändern. Auf kurze Sicht sollte die Ukraine mit der notwendigen NATO- und sowjetischen Munition versorgt werden, um das Gebiet aktiv verteidigen und den Feind daran hindern zu können, massive Angriffe auf ukrainische Stellungen durchzuführen. Dieses Jahr kann das Jahr der Stabilisierung der Lage auf dem Schlachtfeld sein. Gleichzeitig sollten die Partner unverzüglich mit der gemeinsamen Bestellung von Angriffswaffen beginnen, die die Ukraine benötigt, um rechtzeitig wieder in die Offensive zu kommen. Diese strategische Verantwortung erfordert die Bereitschaft, eigene Fehleinschätzungen einzugestehen und zu korrigieren.
Gustav Gressel, Senior Policy Fellow, European Council on Foreign Relations (ECFR), Deutschland
Russland verfolgt seit dem Zerfall der Sowjetunion das Ziel, den postsowjetischen Raum wieder unter seine Kontrolle zu bringen: Seit 2004 mischt sich Russland ständig in die inneren Angelegenheiten Kyjiws ein. Seit 2014 äußert es sein Begehren durch militärische Aggression und Destabilisierung. Am 24. Februar 2022 brach es eine vollumfassende Invasion vom Zaun, um die Ukraine-Frage aus seiner Sicht endgültig zu entscheiden: Die Ukraine soll unterworfen und als eigenständige Nation ausgelöscht werden, um Russland wieder zu einer vor allem Europa militärisch dominierenden Großmacht zu machen.
Von diesem Projekt wird Putin erst ablassen, wenn sich die russischen militärischen Ressourcen erschöpft haben. Das ist aber, wenn die russische Armee seine Materialressourcen in ähnlichem Maße wie jetzt abnützt, frühestens 2026 der Fall. Bis dahin muss die Ukraine mit dem versorgt werden, was sie für ihre Verteidigungsanstrengungen braucht.
Das größte Problem der westlichen Unterstützung ist die Nachhaltigkeit über einen längeren Zeitraum hinweg. Beispiel Artilleriemunition: 2022 und 2023 hatte man die Ukraine aus Depots und Einkäufen am Weltmarkt versorgt, doch nun hinken sowohl die amerikanische als auch die europäische Industrie Ausbauplänen hinterher – die Ukraine leidet unter akutem Munitionsmangel. In zwei Jahren hat die Ukraine aber auch 748 Kampfpanzer, 853 Schützenpanzer, 405 Mannschaftstransportpanzer, 355 andere gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 138 Pionierfahrzeuge, 186 gezogene Geschütze, 289 Artillerie-Selbstfahrlafetten, 55 Artillerie-Raketenwerfer, 135 Fliegerabwehrsysteme und 80 Kampfflugzeuge verloren.
Wie gedenkt der Westen die Ukraine im Krieg zu halten, wenn dieser bis 2026 oder gar 2028 dauert? Auf eine Artilleriegranate wartet man sechs Monate, auf einen Panzer drei Jahre. Vorlaufzeiten zur Steigerung der Produktion sind höher, weil diese Systeme ungleich komplexer sind, ihre Herstellung auf hunderte Zulieferer angewiesen ist. Aber nachdem 2023 der Pool der alten „Ost-Systeme“ (Gerät, das durch die Umstellung der mittelosteuropäischen Staaten auf NATO-Gerät übrig blieb) sich weitestgehend erschöpfte und 2024 der Pool an altem Westgerät erschöpft werden wird, muss in die Produktion gegangen werden.
Europäische Regierungen scheinen immer noch in der Wunschvorstellung zu leben, dass der Krieg bald enden würde. Das wird er nicht, vor allem nicht, wenn die Ukraine eine im Vergleich zu Russland geringere Materialdecke hat. Dann braucht Putin nur zu warten, bis er einen Sieg durch Erschöpfung des Gegners feiern kann.
Pavel Havlicek, Research Fellow am Forschungszentrum der Gesellschaft für Internationale Politik, Tschechische Republik
Ich halte mich aktuell in Washington auf, was meine Bewertung der westlichen Reaktion auf die umfassende Invasion prägt: Sie fällt eher negativ aus. Auch wenn die Reaktionen der Mitglieder der westlichen Gemeinschaft sehr unterschiedlich waren und viele Staaten wirklich das getan haben, was sie unter den gegebenen Umständen tun konnten, gibt es noch erheblich Raum für Verbesserungen, insbesondere auf der militärischen und sicherheitspolitischen Ebene: Es bestehen schwache Produktionskapazitäten, eine fehlende längerfristiger Planung und fehlende Beschaffungsmaßnahmen sowie eine Zersplitterung innerhalb der transatlantischen Gemeinschaft – besonders deutlich sichtbar wird das an den Problemen der Vereinigten Staaten.
Die USA stellten noch im letzten Jahr die Zahlung von direkter Budgethilfe für die Ukraine ein, nun stoppten sie auch den Beitrag zur militärischen Unterstützung und die Bereitstellung der für die Fortführung des Krieges notwendigen Ressourcen. Das ist für die Europäer schwer zu kompensieren, insbesondere kurzfristig. Auch wenn die längerfristige EU-Unterstützung der Ukraine durch die Ukraine-Fazilität und die Europäische Friedensfazilität positiv zu bewerten ist: Diese Maßnahmen würden ohne eine weitere substanzielle finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine nicht ausreichen. Das sollte das Hauptthema bei Gesprächen mit den US-Gesetzgebern des Repräsentantenhauses sowie mit Donald Trump und seinen Gefolgsleuten sein, die starken Einfluss auf den Entscheidungsprozess im Unterhaus des US-Kongresses haben.
Tadeusz Iwański, Abteilungsleiter für Ukraine, Belarus und Moldau am Centre for Eastern Studies (OSW), Polen
Putin fühlt sich stark und ungestraft. Dieses Gefühl wird durch das zunehmende Zögern des Westens in Bezug auf die Ukraine-Hilfen noch verstärkt. Die Farce der EU um die Fazilität für die Ukraine und die wahrhaft griechische Tragödie im US-Kongress in Bezug auf das 61-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine ermutigen Putin, immer selbstsicherer und gefährlicher aufzutreten.
Die Ukraine braucht sofort Waffen und Munition, denn Russlands Aggression kann nur durch Erfolge der ukrainischen Soldaten an der Front gestoppt werden. Der Westen bleibt immer wieder hinter dem tatsächlichen Bedarf der Ukraine zurück. Wäre die Entscheidung, die Ukraine mit schwerer Artillerie, Langstreckenraketen, Flugabwehrsystemen oder F‑16 zu beliefern, in den ersten Kriegsmonaten getroffen worden, sähe die Lage heute vielleicht ganz anders aus.
Was wir brauchen, sind schnelle und mutige Entscheidungen, die der Ukraine kurzfristig helfen und mittelfristig die Verteidigungsfähigkeit der EU durch eine verbesserte Abschreckung erhöhen. So sollte die Ukraine von Deutschland Taurus-Marschflugkörper erhalten, die es ihr ermöglichen, russische Ziele in den besetzten Gebieten wirksam zu treffen. Die andere Aufgabe für Berlin und Paris besteht darin, die Blockade der Europäischen Friedensfazilität aufzuheben und die Finanzierung von Waffen- und Munitionskäufen für die Ukraine außerhalb der EU zu ermöglichen. Die Ukraine könnte die benötigten Mengen an Artillerie und Munition aus den Beständen der Militäreinheiten einiger Länder westlich von Polen und den baltischen Staaten beziehen, da diese potenziell weniger von Angriffen bedroht sind als die an Russland und Belarus angrenzenden Länder. Parallel dazu müssen die EU-Staaten ihre eigene Produktion erhöhen – sowohl für den Verkauf an die Ukraine als auch für den Eigenbedarf.
Die reduzierten Munitionslieferungen an die Ukraine haben bereits negative Folgen: Die Russen sind in Awdijiwka eingedrungen und haben die Angriffe um Orichiw verstärkt. Es zeichnet sich eine Offensive auf Saporischschja ab – und diese kann nicht mit Worten, sondern nur mit Taten, sprich: mit Lieferungen von Waffen und Munition, gestoppt werden.
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