Deportation von Ukrainern seit Beginn der russischen Invasion – völkerrechtliche Einordnung und Empfehlungen
Seit Beginn der Invasion verschleppen russische Soldaten unzählige Ukrainer nach Russland. Durch das vereinfachte russische Adoptionsrecht drohen vor allem Kinder unauffindbar zu werden. Es gibt jedoch Möglichkeiten, die Täter juristisch zu belangen.
Bereits in den ersten Wochen der umfassenden Invasion stellte die Russische Föderation Bedingungen her, unter denen die ukrainische Zivilbevölkerung keine andere Wahl hatte, als nach oder über Russland zu fliehen. Ukrainer, die aus den besetzten Gebieten in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen wollten, mussten die Frontlinie überqueren. Dort hatte die russische Armee Checkpoints eingerichtet und eröffnete oft das Feuer. Der Weg über die Krim und Russland erschien sicherer. Diejenigen, die durch die sogenannten russischen „Fluchtkorridore“ deportiert wurden, hatten überhaupt keine Alternative.
Die Zahl der ukrainischen Zivilisten, die aus den temporär besetzten Gebieten abtransportiert wurden, stieg mit jedem Monat. Nach Schätzungen des UNHCR haben bis zum 3. Oktober 2022 2.852.395 ukrainische Staatsbürger die Grenze zu Russland passiert. Nicht alle von ihnen wurden zwangsweise verschleppt. Internationale Organisationen haben bisher (Stand März 2023) keinen freien Zugang zu diesen Menschen – einer vom UN-Menschenrechtsrat verabschiedeten Resolution zum Trotz. Deshalb ist es schwierig, die Zahl der Deportierten zu ermitteln.
Das Nationale Informationsbüro der Ukraine gab die Gesamtzahl der Deportierten im November 2022 mit 45.995 an, darunter 8.140 Kinder. Diese Angaben basieren auf täglichen Stellungnahmen von unterschiedlichen Behörden auf sämtlichen Entscheidungsebenen, Berichten von Angehörigen und teilweise auf Informationen aus frei zugänglichen Quellen.
Gehirnwäsche bei deportierten Kindern
Die Informationen auf dem Webportal Children of War über deportierte Kinder werden täglich aktualisiert. Mit Stand vom 28. Februar 2023 listet das Portal 16.221 Kinder als gewaltsam verschleppt auf; davon wurden nur 307 zurückgebracht. Die Kinder lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen: diejenigen, die während des massiven russischen Beschusses verschwanden und deportiert wurden, ohne dass ein Versuch unternommen wurde, ihre Verwandten ausfindig zu machen; Waisenkinder, von denen einige lediglich zur medizinischen Versorgung in Kinderheimen untergebracht waren, die aber Verwandte haben; schließlich diejenigen Kinder, die mit dem Einverständnis ihrer Eltern zur sogenannten Rehabilitation auf die Krim gebracht, dann aber ohne deren Erlaubnis nach Russland deportiert wurden. In Russland werden die deportierten ukrainischen Kinder massiv militarisiert und in Schulen und speziellen Lagern einer Gehirnwäsche unterzogen, um so ihre Identität zu verändern und sie zur „Liebe gegenüber Russland zu erziehen“.
Die Adoption von deportierten ukrainischen Kindern ist ein Verbrechen der russischen Führung
Den deportierten Kindern droht eine ernste Gefahr – die Adoption. Laut der Website der Abteilung für Familie und Kindheit der russischen Stadt Krasnodar wurden alleine in dieser Region 1.000 ukrainische Kinder aus Mariupol zur Adoption freigegeben, weitere 300 befinden sich in einem laufenden Adoptionsverfahren. Am 30. Mai 2022 unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin ein Dekret, welches das Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für ukrainische Waisenkinder vereinfacht und eine Adoption damit erheblich erleichtert. Darüber hinaus können die Namen der adoptierten Kinder nach russischem Recht vollständig geändert und ihre Herkunft verschleiert werden. Es ist dann unmöglich, sie ausfindig zu machen. Gemäß internationalen Konventionen darf eine Adoption nicht während oder unmittelbar nach einer Notsituationen stattfinden.
Bei einem Treffen am 16. Februar 2023 dankte die russische Ombudsfrau für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, Putin dafür, dass er ihr die Adoption eines Kindes aus Mariupol ermöglicht und die Adoption ukrainischer Kinder grundsätzlich erleichtert habe. Dies alles sei „sein Verdienst“. Putin lächelte und nickte zustimmend. Solche Interviews helfen dabei, die Befehlskette für das Verbrechen der Deportation während des russischen Krieges gegen die Ukraine bis an die Spitze nachzuverfolgen. (Mittlerweile hat der Internationale Strafgerichtshof im Zusammenhang mit den Deportationen einen Haftbefehl gegen Putin und Lwowa-Belowa erlassen, Anmerkung der Redaktion.)
Völkerrechtliche Einordnung und Möglichkeiten der Strafverfolgung
Das internationale Strafrecht erachtet Deportation (gewaltsame Verbringung) nicht für sich genommen als internationalen Straftatbestand. Deportation kann aber als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie – unter bestimmten Umständen – als Völkermord eingestuft werden.
Aus der Warte des humanitären Völkerrechts stellt die Deportation beziehungsweise gewaltsame Verschleppung einen schweren Verstoß dar und ist laut den Paragraphen GCIV, Art. 49 und Art. 147; API, Art. 78 und Art. 85(4)(a) sowie CIHL, Regel 129 A verboten. Sie kann als Kriegsverbrechen im Rahmen der internationalen Rechtsprechung verfolgt werden – und steht laut Römischem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Art. 8(2)(a)(vii), sowie Art. 8(2)(b)(viii) unter Strafe. Dieser Gerichtshof ist auch für die Situation in der Ukraine juristisch zuständig.
Eine strafrechtliche Verfolgung von Deportationen ist unter der nationalen Gerichtsbarkeit der Ukraine nur nach Art. 438 des Strafkodex möglich. Darin wird dieses Verbrechen nicht erwähnt, als allgemeine Vorschrift ermöglicht der Artikel jedoch die direkte Anwendung der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts. Bis November 2022 haben die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden 33 Strafverfahren aufgrund der Verschleppung von 5.561 Kindern von ukrainischem Hoheitsgebiet eingeleitet.
Deportation und gewaltsame Verschleppung könnten auch als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Römischen Statuts des IStGH nach Art. 7(d) gewertet werden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen schließen sich nicht gegenseitig aus. Der ukrainische Strafkodex stellt Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch nicht unter Strafe, sodass eine solche Einstufung und Verfolgung derzeit nur im Rahmen der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs möglich ist.
Die Deportation von ukrainischen Kindern nach Russland könnte ferner als Völkermord eingestuft werden. Sowohl das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (Art. 6(e)) als auch der Strafkodex (Art. 442) verurteilen die gewaltsame Verbringung von Kindern von einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in eine andere, falls diese in der Absicht begangen wird, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu vernichten. Die Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland und ihre anschließende Adoption oder Erziehung in russischen Familien und Schulen mit der Absicht, ihre Zugehörigkeit zur ukrainischen Nation zu zerstören, kann dazu führen, dass die Kinder sich völlig verändern und ein neues nationales und ethnisches Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Ein internationales Verbrechen vom Ausmaß eines Völkermordes erfordert eine sorgfältige Sichtung von Beweisen. Das trifft insbesondere auf Informationen zu, die auf die Absicht und das Ausmaß eines Völkermordes hindeuten. Derzeit prüft die Generalstaatsanwaltschaft laufende Kriegsverbrecherverfahren in Hinblick auf den Vorsatz zum Völkermord.
Was können die Ukraine und ihre internationalen Partner tun?
In dieser Situation, in der Russland sich nicht an das Völkerrecht hält und weder mit der Ukraine noch mit internationalen Organisationen zusammenarbeitet, ist es dringend erforderlich, die Strategie und Zusammenarbeit innerhalb der Ukraine und darüber hinaus zu verbessern.
Zuständigkeiten klar aufteilen, gemeinsame Strategie entwickeln
Die aktuelle Situation ist durch eine Vielzahl der Instanzen und durch fehlende Klarheit gekennzeichnet. Die ukrainische Institution, die für den Schutz der Deportierten maßgeblich zuständig ist, ist das Ministerium für die Reintegration der temporär besetzten Gebiete. Dieses Ministerium koordiniert die Rückkehr ukrainischer Bürger – einschließlich der Kinder. Der ukrainische Ombudsmann überwacht die Situation und beteiligt sich ebenfalls an der Rückführung. Auch der militärische Nachrichtendienst sowie die In- und Auslandsnachrichtendienste der Ukraine verfügen über Befugnisse in diesem Bereich. Die Generalstaatsanwaltschaft arbeitet mit dem Nationalen Informationsbüro und der Polizei zusammen, um die entführten Kinder zu identifizieren; gleichzeitig verfügt der Inlandsgeheimdienst ebenfalls über Kompetenzen in diesem Bereich.
Es ist empfehlenswert, die Zuständigkeiten klar aufzuteilen und eine starke gemeinsame Strategie zu entwickeln. Um eine solche Zusammenarbeit der verschiedenen ukrainischen Exekutivbehörden zu erleichtern, wurde im Oktober 2022 eine Koordinierungsstelle zur Sicherstellung der Ausreise ukrainischer Bürger aus den temporär besetzten Gebieten eingerichtet. Es bleibt zu hoffen, dass ihre Arbeit erfolgreich sein wird.
Stärkere Einbeziehung internationaler Regierung- und Nichtregierungsorganisationen
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die stärkere Einbeziehung internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. Insofern besteht die Hauptaufgabe der ukrainischen Behörden zurzeit darin, eine ständige Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen bei der Informationsbeschaffung, bei der Rückführung von deportierten Personen und bei der Erfassung von Tatbeständen sicherzustellen.
In diesem Zusammenhang kann dem Ministerium für Reintegration, dem Außen- und Innenministerium sowie dem Staatlichen Migrationsdienst Folgendes empfohlen werden: Zum einen sollten sie Informationen über die Ursachen und Folgen der Deportationen verbreiten, zum anderen internationale Organisationen und weitere Mittlerinstanzen in den Prozess der Identifizierung von Deportieren einbeziehen. Außerdem sollten wirksame Maßnahmen zur Rückführung deportierter Kinder entwickelt sowie verlorengegangene Dokumente neu aufgesetzt und auch Dokumente für diejenigen Kinder ausgestellt werden, die nach dem 24. Februar 2022 in den temporär besetzten Gebieten geboren wurden. Schließlich sollte ein Mechanismus entwickelt werden, um Informationen über den Aufenthaltsort verschleppter Personen zu erhalten und über russische NGOs mit ihnen in Kontakt zu treten – um so Informationen über ihre Verwahrung zu erhalten sowie sicherzustellen, dass sie ihr Recht auf die Rückkehr in die Ukraine oder die Ausreise in andere Länder kennen.
Stärkere Zusammenarbeit von Generalstaatsanwaltschaft, Geheimdienst und Polizei
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, der Geheimdienst und die Polizei sollten stärker zusammenarbeiten, damit die für die Völkerrechtsverbrechen Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden können. Sie sollten eine gesonderte Statistik zu den Strafverfahren sowie ein Verzeichnis der Opfer führen. Außerdem müssen das Wissen und die Fähigkeiten des Personals in Bezug auf Deportationen und die Sammlung von Beweismitteln verbessert werden, um die Wirksamkeit der Strafverfolgung zu erhöhen.
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