Die langsame aber stetige Strangulierung der Ukraine findet vor den Augen der Weltgemeinschaft statt
Russlands Krieg gegen die Ukraine geht bald ins sechste Jahr, doch viele verdrängen weiterhin den wahren Charakter des Konflikts. Ein Kommentar von Peter Dickinson.
Das Bild oben zeigt den deutschen Außenminister Heiko Maas (links) und seinen ukrainischen Amtskollegen Pawlo Klimkin auf einer Konferenz, im Anschluss an ihre Unterredungen in Kiew am 18. Januar 2019. Foto von Valentyn Ogirenko (Reuters).
Obwohl Russlands Krieg gegen die Ukraine bald ins sechste Jahr geht, verdrängen viele weiterhin den wahren Charakter des Konflikts. Die internationale Staatengemeinschaft fällt es schwer, die globale Bedeutung von Wladimir Putins Invasion anzuerkennen. Das führt wiederum dazu, dass man eine Art euphemistischer Sprache bevorzugt, die die Grenzen zwischen Opfer und Aggressor verschwimmen lässt. Dieser Ansatz, den Kopf angesichts der Realität eines neuen russischen Imperialismus in den Sand zu stecken, war auch während der jüngsten Visite von Bundesaußenminister Heiko Maas in Kiew zu beobachten, als Maas forderte, dass „alle Seiten zur Deeskaltion beitragen“ sollten.
Maas ließ sich offensichtlich nicht von der Absurdität stören, die in der Forderung an der Ukraine liegt, sie möge angesichts der Invasion und Zerteilung des eigenen Landes deeskalieren. Für das gegenwärtige Klima ist es bezeichnend, wenn einer der höchstrangigen Diplomaten Europas die Hauptstadt eines Landes besucht, das um sein Überleben kämpft, um dort dann Vorträge über eine Notwenigkeit zur Mäßigung zu halten.
Täter-Opfer Umkehr
Und er steht hier nicht allein. Seit dem Beginn der russischen Aggression im Frühjahr 2014 sind internationale Aufrufe, die beide Seiten zur Deeskalation mahnen, ein bedrückend regelmäßiger Bestandteil des Dialogs im Kontext dieses Konflikts geworden – sie sind das diplomatische Äquivalent zu einer Täter-Opfer-Umkehr.
Für diese Lage der Dinge geht ein Großteil der Verantwortung auf das Konto von Russland. Zwar glauben nur wenige an das anhaltende Leugnen des Kreml der Einmischung in der Ukraine, doch hat die glaubhafte Abstreitbarkeit, auf die sich Putins Art der hybriden Kriegsführung stützt, genug Uneindeutigkeit geschaffen, um weiterhin Zweifel zu säen.
Was eigentlich als glasklarer Fall der ersten europäischen Invasion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dastehen sollte, ist stattdessen als zwar unerfreuliches, aber eben auch undurchsichtiges Thema, das sich einfachen stimmigen Erklärungen entzieht, aus den Schlagzeilen gerutscht. Man könnte vermuten, dass dies einigen Kreisen nicht ganz ungelegen kommt, insbesondere deshalb, weil es den Westen der Pflicht enthebt, eine angemessenere, entschlossenere Antwort zu liefern. In diesem Sinne ist Russland bei weitem nicht der einzige Nutznießer von Putins Feigenblatt-Referenden und Stellvertreterarmeen.
Russischer Druck auf die Ukraine wächst
So zu tun, als sei die russische Invasion in der Ukraine lediglich ein Grenzscharmützel, bedeutet nicht, dass sie dadurch verschwindet. Ganz im Gegenteil: Der Kreml könnte sich auf einen langen Feldzug eingerichtet haben. Die Arbeiten an einer Reihe neuer Militärbasen entlang der ukrainischen Grenze sind abgeschlossen, während die Neuausrichtung russischer Eisenbahnlinien und andere, für militärische Logistik wichtige Veränderungen beharrlich auf Vorbereitungen für zukünftige Festlandsoperationen innerhalb der Ukraine hindeuten. In den letzten Monaten hat Moskau seinen Druck auf das Asowsche Meer und die südöstliche Küste der Ukraine erhöht. Gleichzeitig bemüht es sich, die Einkreisung des Landes auch an der nördlichen Grenze zu verstärken, indem die militärische Präsenz in Belarus erheblich erhöht wird. Die langsame, aber stetige Strangulierung der Ukraine findet für jedermann sichtbar statt.
Warum löst das keine umgehende internationale Reaktion aus? Die Weigerung des Westens, die Dimensionen der russischen imperialen Ambitionen in der Ukraine zu erkennen, ist nicht ausschließlich eine Folge der Tricksereien hybrider Kriegsführung und willfähriger geopolitischer Blindheit. Es hat auch mit Ignoranz und Irrtümern zu tun. Das Ausmaß des russischen Grolls über den verringerten postsowjetischen Status des Landes ist für das moderne westliche Publikum schlichtweg unverständlich. Das neigt nämlich zu der Annahme, dass Russland seine Werte weithin teilen würde. Die meisten Menschen im Westen hielten das Ende des Imperiums für einen unausweichlichen Prozess. Nur wenige sind in der Lage zu begreifen, dass die Russen heute in der Tat bereit sein könnten, im Streben nach archaischen imperialen Eroberungen ihren Lebensstandard oder gar ihr Leben zu opfern.
Russischer Narrativ beeinflusst Wahrnehmung der Ukraine im Westen
Noch begrenzter aber ist – außerhalb des Landes – das Verständnis für die Ukraine. Seit 1991 hat der Westen damit gekämpft, die enormen geopolitischen Implikationen einer ukrainischen Unabhängigkeit zu begreifen und er hat das Land für gewöhnlich wie einen ungebetenen Gast behandelt. Von den wenigen Gelegenheiten, bei denen sich die Menschen im Westen mit der Ukraine befassten, haben die meisten von ihnen das Land durch das Prisma verzerrender und überkommener russischer Narrative betrachtet. Das hat eine Kultur exzessiver Vorsicht genährt und ein ähnliches Engagement verhindert, wie es anderen neuen unabhängigen Nationen in Mitteleuropa und dem Baltikum zuteilt wurde. Es ist frappierend, dass die Ukraine sogar jetzt noch – nach zwei auf eine Demokratisierung abzielenden Revolutionen und einem bereits fünf Jahre währenden bewaffneten Konflikt zur Stützung ihrer Westintegration – fest im postsowjetischen Niemandsland gefangen ist, und dass Fahrpläne für eine Mitgliedschaft in der EU wie der NATO ganz augenfällig fehlen.
Die Ukraine dazu aufzurufen, einen Ausgleich mit dem russischen Eindringling zu suchen, ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch aus strategischer Sicht töricht. Der Westen sieht sich bereits jetzt in einem Kalten Krieg mit einem Russland gefangen, einem Krieg, dessen Wurzeln fest in der Ukraine liegen. Solang der Krieg in der Ukraine andauert, wird diese Konfrontation weiterhin eskalieren. Seit seinem ersten Angriff auf die Ukraine hat Russland seine hybriden Feindseligkeiten an einer mehr als beeindruckenden Reihe von Fronten ausgeweitet, angefangen in Syrien bis hin zu den Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA. Nun entwickelt sich Afrika zum Schauplatz des Kalten Krieges, während die Bemühungen des Kreml, quer durch den Westen demokratische Prozesse zu untergraben, in keinster Weise abebben. Gleichwohl führen alle Wege nach Kiew.
Ukraine als Epizentrum des hybriden Krieges Russlands gegen den Westen
Putins hybrider Krieg in der Ukraine bleibt weiterhin das Epizentrum des globalen Konfliktes, und der Kampf könnte nun in seine entscheidende Phase treten. 2019 werden in der Ukraine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden, wobei beide Urnengänge wohl den historischen Schwenk des Landes in Richtung einer euro-atlantischen Integration zementieren dürften. Eine erneute Wahl eines prowestlichen Präsidenten und prowestlichen Parlaments wäre ein verheerender Schlag für die russischen imperialen Ambitionen, und zwar einer, der den Kreml davon überzeugen könnte, zunehmend drastische Maßnahmen in Erwägung zu ziehen. Angesichts einer drohenden Degradierung vom Helden der Krim hinab zu dem Mann, der die Ukraine verlor, wird Putin sich sehr wohl bewusst sein, dass sein Regime ein solches Debakel wohl nicht überleben würde.
Klare Unterstützung für die Ukraine ist vonnöten
Wenn Russland die Kämpfe einstellt, wird es keinen Krieg mehr geben. Wenn die Ukraine die Kämpfe einstellt, wird es keine Ukraine mehr geben.
Daher ist es so wichtig, dass die internationale Gemeinschaft jetzt die richtigen Signale an den Kreml sendet. In den kommenden Monaten muss an die Stelle allen Geredes von einer beidseitigen Deeskalation eine klare und unzweideutige Unterstützung für die Ukraine und deren Verteidigung gegen russische Aggression treten. Moskau muss schmerzhaft bewusst werden, welche Konsequenzen es haben wird, sollte der Kreml versuchen, die Entschlossenheit des Westens und das ukrainische Durchhaltevermögen weiter auf die Probe zu stellen. Der neue Kalte Krieg ist das direkte Ergebnis der seit 2014 unternommenen Bemühungen des Westens, gegenüber Moskau eine Politik des Appeasement zu betreiben und die unangenehme Realität eines revanchistischen Russland abzuwenden. Diese Spielart des Wunschdenkens sollte jener Art Klarheit weichen, durch die der erste Kalte Krieg gewonnen wurde. Letztendlich ist kein Gleichgewicht zwischen ukrainischem Widerstand und russischer Aggression möglich. Wenn Russland die Kämpfe einstellt, wird es keinen Krieg mehr geben. Wenn die Ukraine die Kämpfe einstellt, wird es keine Ukraine mehr geben.
Der Artikel erschient zuerst beim „Ukraine Alert“ des Atlantic Council. Aus dem Englischen übersetzt von Hartmut Schröder.
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