Deutsch­land muss an der Seite der ukrai­ni­schen Frei­heits­be­we­gung stehen

In Deutsch­land werden die Rufe nach einer Annä­he­rung mit Russ­land trotz Kri­m­an­ne­xion und Krieg in der Ost­ukraine lauter. Wir sollten statt­des­sen die junge ukrai­ni­sche Frei­heits­be­we­gung unter­stüt­zen. Von Marie­luise Beck

Manch­mal muss man einen Blick zurück werfen, um schein­bare Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten wert­zu­schät­zen: Anfang der 1980er standen sich zwei riva­li­sie­rende und bis an die Zähne hoch­ge­rüs­tete Mili­tär­blö­cke gegen­über. Es gab eine reale atomare Bedro­hung. Durch Deutsch­land zog sich eine schier unüber­wind­bare Mauer.

Mit dem Fall des Eiser­nen Vor­hangs taten sich neue Frei­hei­ten und wun­der­bare Mög­lich­kei­ten auf. Die Über­win­dung der Block­kon­fron­ta­tion ermög­lichte dem 1945 gewalt­sam geteil­ten Europa, wieder zusam­men­zu­wach­sen. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte sich diese Tendenz abge­zeich­net. Es sei daran erin­nert, dass noch unter Bre­sch­new mit dem KSZE-Prozess gemein­same Ver­trags­werke zwi­schen Ost und West geschaf­fen wurden, die den Ver­zicht auf gewalt­same Grenz­re­vi­sio­nen und die Aner­ken­nung uni­ver­sel­ler Bür­ger­rechte ein­schlos­sen. Die nach dem Zerfall der Sowjet­union auch von Russ­land unter­zeich­nete Charta von Paris mani­fes­tierte die völ­ker­recht­li­che und frei­heit­li­che Archi­tek­tur Europas: Die Inte­gri­tät der Grenzen, die Aner­ken­nung der Sou­ve­rä­ni­tät und die freie Bünd­nis­wahl wurden allen Ländern garan­tiert. Die Ukraine, seit ihrer Unab­hän­gig­keit 1991 immer­hin dritt­größte Atom­macht der Welt, gab mehr als 1.000 Atom­spreng­köpfe frei­wil­lig ab. Dafür ver­spra­chen Moskau, Washing­ton und London im Buda­pes­ter Memo­ran­dum umfäng­li­che Sicher­heits­ga­ran­tien, dar­un­ter die Unver­letz­lich­keit ihrer Grenzen.

Ver­schie­dene Regie­run­gen der Ukraine, dar­un­ter auch die von Prä­si­dent Janu­ko­witsch, bemüh­ten sich in den Jahren seit der Unab­hän­gig­keit um eine Annä­he­rung an die Euro­päi­sche Union. Dies führte zu einem Asso­zi­ie­rungs­ver­trag, der die Öffnung nach Westen ermög­li­chen sollte, ohne die Ver­bin­dun­gen zum Osten zu kappen.

Eine gefähr­li­che Asym­me­trie in Europa

Mit der Schaf­fung der Eura­si­schen Wirt­schafts­union doku­men­tierte der Kreml, dass er ein anderes Spiel spielen wollte. Die Zoll­union hat das Ent­we­der-Oder zum Grund­satz. Sie bindet ihre Mit­glie­der aus­schließ­lich an die Seite Moskaus. Sie ist Symptom für die Grund­hal­tung des Kremls, der – das wurde auch 2008 in Geor­gien sicht­bar – darauf aus ist, seine alte Macht­sphäre wie­der­her­zu­stel­len. Deshalb durfte sich die Ukraine auch nicht die Frei­heit nehmen, sich gen Westen zu wenden.

Der Vorwand, die rus­sisch­spra­chige Bevöl­ke­rung in der Ukraine habe geschützt werden müssen, ist ein alter Hut des Kremls 

Der weitere Fort­gang der Geschichte ist bekannt: Prä­si­dent Janu­ko­witsch reiste aus Moskau mit der Nach­richt nach Kiew zurück, das in der Ukraine all­seits erwar­tete Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men nicht zu unter­zeich­nen. Als ein Bür­ger­auf­stand diese Ent­schei­dung nicht hin­neh­men wollte und nach dem mas­si­ven Einsatz staat­li­cher Gewalt das repres­sive und klep­to­kra­ti­sche System Janu­ko­witsch ins­ge­samt infrage stellte, mar­schierte plötz­lich rus­si­sches Militär auf der Krim auf. Der Vorwand, die rus­sisch­spra­chige Bevöl­ke­rung in der Ukraine habe geschützt werden müssen, ist ein alter Hut in der Macht­po­li­tik des Kremls. Er kam ähnlich bereits 1956 Ungarn und 1968 in der Tsche­cho­slo­wa­kei zur Anwendung.

Zunächst behaup­tete die rus­si­sche Führung, sie habe mit der mili­tä­ri­schen Über­nahme der Krim nichts zu tun, bis Wla­di­mir Putin sich des Erfolgs seiner „Grünen Männ­chen“ brüs­tete. Nach einem Pseudo-Refe­ren­dum unter ganz und gar unde­mo­kra­ti­schen Bedin­gun­gen und einer Sitzung des Krim-Par­la­ments unter vor­ge­hal­te­ner Waffe, zu der Gegner eines Anschlus­ses gar nicht erst her­ein­ge­las­sen wurden, erfolgte nur wenige Tage später die Anne­xion durch Russland.

Mit diesem völ­ker­rechts­wid­ri­gen Akt ist die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung massiv erschüt­tert worden. Eine neue, gefähr­li­che Asym­me­trie tat sich auf: Der Kreml hat gezeigt, dass er zur Durch­set­zung seiner Inter­es­sen auch mili­tä­risch ein­greift, während der Westen jede mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit Russ­land scheut.

Kri­ti­ker wenden ein, dass bereits mit der Inter­ven­tion im Kosovo die euro­päi­sche Frie­dens­ord­nung infrage gestellt worden sei. Doch dieser Ver­gleich hinkt. Die Kosovo-Inter­ven­tion fand nach dem Genozid in Bosnien statt, der durch eben­jene Mili­tärs ange­rich­tet worden war, die nunmehr im Kosovo auf­mar­schier­ten. Es gab eine UN-Reso­lu­tion zum Schutz der Koso­va­ren, es wurde acht Jahre lang im inter­na­tio­na­len Format über den Status des Kosovo ver­han­delt – und vor allem gab es keine Annexion.

Russ­lands Fuß­ab­druck in der Ukraine

Doch mit der gewalt­sa­men Anglie­de­rung der Krim endete das mili­tä­ri­sche Vor­ge­hen Russ­lands gegen die Ukraine nicht. Es liegt offen zutage, dass die soge­nann­ten „Sepa­ra­tis­ten“ im Donbas durch den Kreml gesteu­ert sind. Die selbst­er­nann­ten Herren des Donbas könnten ohne umfang­rei­che mili­tä­ri­sche und finan­zi­elle Unter­stüt­zung aus Russ­land ihre Macht nicht aufrechterhalten.

Der hybride Krieg gegen die Ukraine wird mili­tä­risch, wirt­schaft­lich und pro­pa­gan­dis­tisch fortgesetzt 

In Minsk hat die Ukraine aus einer Situa­tion der Schwä­che heraus Moskau und seinen Stell­ver­tre­tern viele Zuge­ständ­nisse gemacht. Während Russ­land sich dahin­ter ver­steckte, dass die „Sepa­ra­tis­ten“ nicht steu­er­bar seien und der Westen diesen Mythos gerne glaubte, weil er eine Kon­fron­ta­tion mit Moskau ver­mei­den wollte, baute der Kreml seine fak­ti­sche Macht im Donbas sys­te­ma­tisch aus. Der hybride Krieg gegen die Ukraine wird mili­tä­risch, wirt­schaft­lich und pro­pa­gan­dis­tisch fort­ge­setzt. Und es wurde alles für einen de facto-Anschluss ein­ge­lei­tet – die Ein­füh­rung des Rubels, neue rus­si­sche Schul­bü­cher, neue Pässe und, wie Daten­leaks bezeu­gen, ein Durch­griff Russ­lands zur selbst­er­nann­ten Admi­nis­tra­tion der DNR und LNR.

Damit erlan­gen diese Gebiete den Status des von Geor­gien abge­trenn­ten Abcha­sien. Der OSZE bleibt eine flä­chen­de­ckende Beob­ach­tung des Kampf­ge­sche­hens, der auch Russ­land in den Minsker Ver­ein­ba­run­gen zuge­stimmt hat, ver­wehrt. Auch wenn Ver­let­zun­gen des Waf­fen­still­stands dies­seits und jen­seits der Kon­takt­li­nie fest­ge­hal­ten werden, bleibt fest­zu­hal­ten, dass die ukrai­ni­sche Armee völ­ker­recht­lich gesehen das Recht wahr­nimmt, eigenes Ter­ri­to­rium zu ver­tei­di­gen, während die „Sepa­ra­tis­ten“ die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine angrei­fen. Die mili­tä­ri­schen Akti­vi­tä­ten Russ­lands in der Ost­ukraine sind als Aggres­sion von außen zu werten. Damit sind die Kri­te­rien eines inter­na­tio­na­len Kon­flik­tes erfüllt, was nichts anderes heißt, als dass Russ­land in der Ukraine einen ver­deck­ten Krieg führt.

Keine neue Achse Berlin-Moskau auf Kosten der Ukraine

Ver­mut­lich gibt es in Europa kaum eine Gesell­schaft, die stärker als die deut­sche einen tiefen Wunsch nach engen, freund­schaft­li­chen Bezie­hun­gen mit Russ­land hegt. Es bleibt jedoch eine his­to­ri­sche Tat­sa­che, dass der deut­sche Angriffs­krieg auf die Sowjet­union auch und vor allem die Men­schen auf den Ter­ri­to­rien getrof­fen hat, die zwi­schen Berlin und Moskau liegen. Der ame­ri­ka­ni­sche Holo­caust­for­scher Timothy Snyder bezeich­net diese Region als „Blood­lands“. Sie umfasst nicht nur das heutige Russ­land, sondern auch das Bal­ti­kum, Polen, Belarus und die Ukraine.

Als schwarze Zeit unserer gemein­sa­men Geschichte muss der Hitler-Stalin-Pakt bezeich­net werden. Beide tota­li­tä­ren Regime trafen ihre Ver­ein­ba­run­gen auf dem Rücken Dritter. Die Achse Berlin-Moskau bedeu­tete für die dazwi­schen lie­gen­den Länder mehr als einmal in der Geschichte großes Unheil.

Wir müssen wieder zu einer fried­li­chen Zusam­men­ar­beit auf der Basis der Prin­zi­pien von Hel­sinki und Paris finden 

Dieses Bewusst­sein muss die deut­sche und die rus­si­sche Außen­po­li­tik kenn­zeich­nen. Für uns in Deutsch­land, deren Wehr­macht auf ukrai­ni­schem Boden in unvor­stell­ba­rer Weise gewütet hat, bedeu­tet das eine Ver­pflich­tung nicht nur gegen­über den Men­schen in Russ­land, sondern auch der heu­ti­gen Ukraine. Des­we­gen hat Deutsch­land eine beson­dere his­to­ri­sche Ver­ant­wor­tung gegen­über dem gerecht­fer­tig­ten Streben der ukrai­ni­schen Bür­ge­rin­nen und Bürger nach Unab­hän­gig­keit und Freiheit.

Eine Ver­stän­di­gung mit Russ­land liegt im euro­päi­schen Inter­esse. Sie kann aber nicht auf dem Rücken der Ukraine und der anderen „Zwi­schen­län­dern“ erfol­gen. Wir müssen wieder zu einer fried­li­chen Zusam­men­ar­beit auf der Basis der Prin­zi­pien von Hel­sinki und Paris finden.


Dieser Beitrag ist im Sep­tem­ber 2017 in der Zeitung „Peters­bur­ger Dialog“ erschie­nen. 

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