Der Euromaidan als erster Akt im russisch-ukrainischen Krieg
Vor zehn Jahren, am 21. November 2013, begannen nach der Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens die prodemokratischen Massenproteste auf dem Maidan in Kyjiw – die sogenannte „Revolution der Würde“. Heute ist klar: Die Aussetzung des Abkommens auf Druck Moskaus war der erste Akt in Russlands lang angelegtem Krieg gegen die Ukraine.
Für mich persönlich begann die Revolution in Kyjiw schon einige Monate vor ihrem offiziellen Beginn am 21. November 2013 auf dem Maidan-Platz im Zentrum der Stadt. Im Sommer 2013 kauften Verbündete des korrupten prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch die Zeitschrift Korrespondent auf, die ich zehn Jahre lang geleitet hatte. Das Magazin hatte das Janukowitsch-Regime oft lautstark kritisiert, sarkastische Titelseiten und fundierte Recherchen über den Präsidenten und seine Entourage veröffentlicht.
So hatten wir eine zehnseitige Fotoreportage publiziert, die Janukowitschs geheimnisvolles Anwesen in der Nähe von Kyjiw einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machte. Wir waren die Ersten, die seine schicke Villa mit Seen, Pferden und einer Sammlung von Oldtimern aus der Luft zeigten. Das Anwesen war so groß wie der Hyde Park in London, also gut 140 Hektar. Das war der Moment, in dem jeder in der Ukraine erkannte, dass Janukowitsch ein Kleptomane war und das Land ausgeplündert hatte.
Der Korrespondent sollte durch Aufkauf zum Schweigen gebracht werden
Um unsere kritische Berichterstattung zu stoppen, befahl Janukowitsch am Vorabend der Präsidentschaftswahlen seinen Freunden, den Korrespondent aufzukaufen und zum Schweigen zu bringen. Die Meister der Zensur – die Bosse der populären russischen Medien – reisten aus Moskau an, um eine „neue redaktionelle Strategie“ einzuführen, wie sie es nannten. Zu dieser Strategie gehörte erwartungsgemäß ein komplettes Verbot von Kritik am Präsidenten und seinen Freunden.
Ich verließ die Redaktion aus Protest, ebenso wie der größte Teil des Redaktionsteams. Vier Tage später begannen die Proteste auf dem Maidan. Der Maidan war also der richtige Ort für mich, sozusagen „the place to be“. Ich beteiligte mich aktiv an den Protesten, indem ich prominente Journalisten zusammenbrachte, um eine Ansprache an die Nation zur Unterstützung der prodemokratischen Veränderungen aufzunehmen.
Am Vorabend einer wichtigen Abstimmung im Parlament veröffentlichte ich auch die Telefonnummern aller Janukowitsch-freundlichen Abgeordneten, auch die seines Sohnes, auf meiner Facebook-Seite. Ich bat die Öffentlichkeit, den Abgeordneten höflich zu erklären, wohin sie das Land führten. Von meiner Seite aus war das zugegebenermaßen nicht ganz ethisch korrekt. Aber das Land in eine korrupte Diktatur zu verwandeln, war auch von Janukowitsch nicht besonders korrekt. Schließlich unterstützte das Parlament die Demonstranten und Janukowitsch floh nach Moskau.
Der Euromaidan als Familienangelegenheit
Der Maidan war für mich aber auch eine Familienangelegenheit. Meine Frau und ich stellten entsetzt fest, dass unsere 17-jährige Tochter mit anderen Schülerinnen und Schülern auf dem Maidan Molotowcocktails füllte, als die Scharfschützen anfingen, einen Demonstranten nach dem anderen zu erschießen. Also zwangen wir sie, nach Hause zurückzukehren. An diesem Tag tötete die Polizei etwa 100 Menschen mitten im Zentrum der Hauptstadt.
Heute wissen wir, dass Janukowitsch unter dem Druck Moskaus handelte und deshalb die Proteste mit Gewalt unterdrückte. Wladimir Putin verstand nicht, dass jemand bereit sein könnte, sein Leben im Kampf für die Freiheit zu riskieren. In seiner typischen Verschwörungsmanier gab sich das Kreml-Establishment davon überzeugt, dass die Proteste in Kyjiw vom Westen angezettelt worden seien.
Auslöser für die Revolution
Tatsächlich begann die „Revolution der Würde“, als die Polizei auf dem Maidan Studenten verprügelt hatte. Die Studenten wollten gegen Janukowitschs Entscheidung protestieren, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zugunsten einer Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan aufzugeben. Kyjiw nahm den Angriff auf die jungen Menschen nicht einfach hin, zwei Tage später strömten bereits 200.000 empörte Menschen auf die Straßen.
Diese Ereignisse waren jedoch nur der Auslöser für die Revolution. Der eigentliche Grund für den Umsturz war die Entscheidung der Ukraine für zivilisatorische Errungenschaften. Der Maidan war ein klares Bekenntnis dazu, dass die Ukraine nach 20 Jahren des Zögerns eine Demokratie mit Respekt vor freien Medien und Menschenrechten werden wollte. Und das signalisierte Russland und seinen Kumpanen deutlich, dass die Ukraine sich von ihnen verabschieden wollte.
Putin beschloss, dass es an der Zeit sei, zu handeln
Putin jedenfalls hatte diese Botschaft verstanden. Einen Monat nach dem Erfolg der „Revolution der Würde“ annektierte er die Krim und zettelte einen Krieg im Donbas an. Das konnte die Ukraine jedoch nicht davon abhalten, sich auch weiterhin Richtung Westen zu bewegen. Kyjiw entwickelte einen fairen politischen Wettbewerb, kritische Medien, Bürgerrechte und eine umfangreiche Antikorruptionskampagne. Als Anerkennung für die Erfolge Kyjiws führte die EU Visafreiheit für Ukrainerinnen und Ukrainer ein.
Als auch der neu gewählte Präsident Wolodymyr Selenskyj den proeuropäischen Weg einschlug, beschloss Putin, dass es an der Zeit sei, zu handeln. Er startete eine groß angelegte Invasion.
Es gibt in der Ukraine keine prorussische Stimmung mehr
Der Krieg hat jede prorussische Stimmung in der Ukraine ausgelöscht. Es gibt keine prorussischen politischen Parteien mehr, und die Ukrainer geben bewusst die russische Sprache zugunsten des Ukrainischen auf. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung sind für einen Beitritt zur NATO und zur EU. Kyjiw nimmt Gespräche mit Brüssel über den EU-Beitritt auf.
Mit anderen Worten: Die Ukraine hat eine klare Entscheidung getroffen. Sie zieht einen Schlussstrich unter ihr postsowjetisches Erbe und ihre jahrhundertelangen engen Beziehungen zu Russland – und wandelt sich zu einem europäischen Staat.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Entwicklung vor zehn Jahren auf dem Maidan in Kyjiw begann. Ohne den Euromaidan wäre die Ukraine vermutlich jahrzehntelang ein russischer Vasall mit allen Attributen eines autokratischen und ineffizienten Staates geblieben.
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