Der Angriffskrieg gegen die Ukraine – Realität vs.
russische Propaganda
Die westlichen demokratischen Länder verurteilen den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Es gibt weltweit jedoch auch Unterstützer Putins. Ihre Motive sind vielfältig. Was sie eint: Sie sehen die Ukraine als eine Nation, die es eigentlich gar nicht gibt.
Gegenwärtig erleben wir eine große Welle der Solidarisierung mit der Ukraine. National und international hat die Unterstützung für das von Russland überfallene Land – so scheint es – einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Münchener Sicherheitskonferenz demonstrierte im Februar 2023 die Geschlossenheit des Westens bei der militärischen Unterstützung der Ukraine. In einer Resolution der Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilten am 23. Februar 2023 von 193 Mitgliedsstaaten 141 die russische Aggression – ebenso viele wie vor einem Jahr, unmittelbar nach Kriegsbeginn.
In der Tat, die Realität erscheint eindeutig: Russland marschierte am 24. Februar 2022 mit einer Armee von mehr als 100.000 Mann in die Ukraine ein, deren Souveränität und Grenzen es seit den 1990er Jahren in zahlreichen Verträgen völkerrechtlich anerkannt hatte. Nach der Annexion der Krim 2014 besetzte Russland nun auch die Regionen Donezk und Luhansk, Cherson und Saporischschja und forderte den Sturz der Zentralregierung in Kyjiw. Insbesondere die Region Donezk liegt derzeit in Schutt und Asche. Zahlreiche Kriegsverbrechen der russischen Soldateska sind dokumentiert.
Die Grenzen der Solidarität
Kann es angesichts dieser Tatsachen verschiedene Meinungen und unterschiedliche Bewertungen geben? Offensichtlich ja, denn am Rand der deutschen Gesellschaft formiert sich eine „Friedensbewegung“, die der Ukraine das Recht bestreitet, sich militärisch zur Wehr zu setzen und ein Ende der westlichen Waffenhilfe für die Ukraine verlangt. Der ungarische Ministerpräsident Orban nennt die Ukraine ein „Niemandsland“. Und die bevölkerungsreichsten Staaten der Erde, China und Indien, verweigern der Ukraine die Solidarität. Das Gleiche gilt für Lateinamerika und manche Staaten in Afrika.
Was sind die Motive?
Es gibt sehr unterschiedliche Motive und Interessen; hier seien nur einige stichwortartig genannt. In Deutschland wirkt die jahrzehntelang kultivierte Friedensmentalität nach, die sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stützen konnte, und aus dem Glauben bestand, man brauche nur „Schwerter zu Pflugscharen“ umzuschmieden, dann werde es keine Kriege mehr geben. Das verband sich mit dem irrationalen Glauben an die überragende Bedeutung Russlands für unsere Vergangenheit und Zukunft sowie der Überzeugung, das postkommunistische Russland sei ein europäischer Partner wie Frankreich oder Italien.
Die Ukraine existierte in diesem politischen Weltbild gar nicht. Gleiches gilt wohl auch für viele Länder Lateinamerikas und Afrikas, wo Russland als Großmacht durchaus wahrgenommen wurde, die Ukraine aber ein weitgehend unbekanntes Land war. Für die Länder des globalen Südens stehen ökonomische Interessen im Vordergrund. Manche Länder, vorab China, machen gute Geschäfte mit den westlichen Sanktionen gegen Russland, die sie nicht nur ablehnen, sondern aus denen sie zusätzlichen Profit ziehen, indem sie sich als alternative Handelspartner anbieten.
Etwas anderes kommt hinzu: Die Ukraine sieht sich als Teil der westlichen Wertegemeinschaft. Sie kämpft für ihre Integration in die westlichen Gemeinschaften. Die meisten Länder des globalen Südens teilen diese Zukunftsvision keineswegs. Sie sehen sich – und das verbindet sie mit Russland – als Zivilisationen außerhalb oder im Gegensatz zur westlichen, liberalen und demokratischen Tradition. Die zentrale Rolle der Vereinigten Staaten in der gegenwärtigen Solidargemeinschaft für die Ukraine dürfte in vielen Ländern die Distanz vergrößern. Auch in Deutschland funktioniert der antiamerikanische Reflex in manchen gesellschaftlichen Schichten zuverlässig.
Die russische „Wirklichkeit“
Aber nirgendwo trifft die Realität des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf derartige Ablehnung, ja Verweigerung, wie in Russland. 75 Prozent der Bevölkerung Russlands unterstützen laut Meinungsumfragen den Krieg, vielmehr die angebliche „militärische Spezialoperation“, die von der Propaganda als Notwehr gegen einen Angriff der Ukraine und des Westens auf Russland dargestellt wird. Russland habe nicht die Ukraine angegriffen, sondern umgekehrt.
Hintergrund dieser Propagandalüge ist die jahrhundertealte Weigerung Russlands, die Identität der Ukraine und der Ukrainer anzuerkennen.
Die „russische Welt“ hat keine Grenzen
Ihre zeitgenössische Ausformung fand diese Identitätsverweigerung in der ideologischen Konstruktion von der „russischen Welt“. Diese „russische Welt“ ist vermeintlich überall dort, wo Russen und die russische Kultur oder Macht in Vergangenheit oder Gegenwart präsent waren oder sind. Insoweit gehört das gesamte Territorium der ehemaligen Sowjetunion ebenso zur „russischen Welt“ wie alle Russischsprachigen auf der ganzen Erde, auch beispielsweise in Berlin. Für eine selbständige Ukraine ist kein Raum in der „russischen Welt“. Die „russische Welt“ hat keine Grenzen, ebenso wie Russland – nach Meinung von Putin – keine Grenzen hat. Völkerrechtliche Festlegungen treten bei Bedarf jederzeit zurück hinter diese ideologischen Postulate, die weit hinausgehen über traditionelle Imperialismus-Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Der Begriff „russische Welt“ hat also keinen juristischen Inhalt, er ist eine ideologisch-politische Konstruktion.
Das Konstrukt der „allrussischen Nation“
Die Ideologie von der „russischen Welt“ fügt sich nahtlos ein in die Tradition viel älterer Formen der Identitätsverweigerung. Gelehrte Mönche des Kyjiwer Höhlenklosters entwickelten im 17. Jahrhundert die Vorstellung von einer einheitlichen Sakralgemeinschaft aller Ostslawen. Dies war der Ausgangspunkt für das Konstrukt der „allrussischen Nation“, die unter russischer Führung die sogenannten Kleinrussen, Weißrussen und Großrussen zu einer einheitlichen Nation vereinigt. Dieses Konstrukt wurde im 19. Jahrhundert zur Grundlage des staatlichen Selbstverständnisses des Zarenreichs. Die Ukrainer oder „Kleinrussen“ verschwanden also als eigenständige Gemeinschaft aus der Geschichte, denn sie waren lediglich ein Teil der russischen Nation.
Putin wird nicht müde, die postkommunistische Staatsideologie aufs engste mit dieser zarischen Tradition und dem russischen Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Ukrainer und Russen seien ein Volk, lautet seine Leitformel, die er im Vorfeld des Kriegs und zur Rechtfertigung der Aggression gegen die selbständige Ukraine breit entfaltete.
Die russische Kriegspropaganda stellt die Realität auf den Kopf
Eine von Russland unabhängige Ukraine ist in Putins Sprache ein „Antirussland“. Vor diesem Hintergrund der Identitätsverweigerung für eine selbständige Ukraine entfaltet sich gegenwärtig die russische Kriegspropaganda, die die Realität auf den Kopf stellt. Auch in seiner Botschaft an beide Kammern des russischen Parlaments vom 21. Februar 2023 wiederholte Putin: „Sie [d. h. die USA und die Nato, Anmerkung der Redaktion] haben den Krieg begonnen, und wir wenden Gewalt an, um ihn zu beenden“. „Wir verteidigen … unser eigenes Haus.“ Schon seit dem 19. Jahrhundert seien „jene historischen Territorien, die heute Ukraine heißen, unserem Land geraubt“ worden. Mit anderen Worten, Russland stelle die historische Gerechtigkeit wieder her, wenn es das „neonazistische Regime, das in der Ukraine seit dem Staatsstreich von 2014 entstanden ist“, liquidiere.
Immer wieder begegnet man in der russischen Propaganda dem Phänomen der Verdrehung der Realität. Es geht nicht um Nuancen oder Akzentverschiebungen, sondern um die brutale Verkehrung in das Gegenteil.
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