„Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt“
Noch bevor der Krieg in der Ukraine zu Ende gegangen ist, hat der ukrainisch-amerikanische Historiker Serhii Plokhy eine Geschichte des ersten Kriegsjahres im historischen Kontext vorgelegt – ein im Wortsinn aufklärerisches Werk mit wachem Blick auf Russlands imperiale Verstrickungen.
Der in Harvard lehrende Serhii Plokhy ist sicherlich einer der profiliertesten ukrainischen Historiker seiner Generation. Er ist in den vergangenen Jahren mit einer allgemeinen Darstellung der ukrainischen Geschichte ebenso bekannt geworden wie mit Studien über die Konferenz von Jalta, russischen Nationalismus oder die Katastrophe von Tschernobyl. Auch in seiner Untersuchung des russischen Angriffs auf die Ukraine bleibt er dem Ansatz treu, das Geschehen aus dem historischen Kontext zu erklären und konsequent in größere zeitliche und geographische Zusammenhänge einzuordnen.
Für Serhii Plokhy ist der militärische Konflikt zwischen Moskau und Kyjiw das jüngste Beispiel für einen nationalen Befreiungskampf. Er sieht den Krieg als einen Baustein in einer langen Geschichte von Kriegen, die den Zerfall großer Imperien begleiten – von der amerikanischen Revolution bis in die Gegenwart. Aus diesem historischen Wissen schöpft der Verfasser auch Hoffnung für sein Heimatland: Plokhy ist fest davon überzeugt, dass die Zeit gegen die Imperien und für eine Ordnung souveräner Nationalstaaten arbeite.
Das toxische Erbe der Diktatur
Seine Erzählung der Vorgeschichte dieses Krieges beginnt Plokhy mit dem Zerfall der UdSSR 1991. Hier trennten sich die Wege Russlands und der Ukraine. Die Ukrainerinnen und Ukrainer hatten durch ihr klares Bekenntnis zur Unabhängigkeit ihres Landes am 1. Dezember 1991 den Weg zum Ende der Sowjetunion geebnet. Dennoch waren sie kaum auf die Unabhängigkeit und ihre Herausforderungen vorbereitet.
Das toxische Erbe der Diktatur lastete auf der Ukraine ebenso wie auf den anderen Sowjetrepubliken. Doch im Unterschied zu Russland definierte sie sich nun als Nationalstaat und nicht als imperiale Macht. Damit wurden die Weichen für die unterschiedlichen Entwicklungen der beiden Nachbarn schon früh gestellt. Für die Ukraine war die Auflösung der Sowjetunion eine Chance, für die russisch-sowjetischen Eliten hingegen eine Tragödie. Sie hatten bereits unmittelbar nach 1991 verstanden: Ohne die Ukraine würde Russland nicht mehr dieselbe imperiale Macht haben.
Der Einfluss imperialer Mythen
Doch neben dem Ende der UdSSR analysiert Plokhy auch die älteren imperialen Mythen, die Russlands Ansprüche auf die Ukraine historisch untermauert sehen. Seit Generationen sieht Moskau den Beginn der eigenen Staatlichkeit in Kyjiw. Obwohl die historischen Gebiete der Ukraine lange Zeit unter polnisch-litauischer, tatarischer oder Habsburger Herrschaft standen, sieht Moskau sie als Grundbestandteil eines unveräußerlichen ostslawischen Imperiums, das auf der organischen Einheit der Russen, Ukrainer („Kleinrussen“) und Belarusen („Weißrussen“) beruhe. Die Eroberung der Ukraine unter Peter I. und Katharina II. war aus russischer Sicht demnach auch eine „Wiedervereinigung“ zuvor getrennter Bestandteile eines Reiches. Anschaulich schildert Plokhy, wie diese Mythen bis in die Gegenwart die russische Wahrnehmung beeinflussen.
Auf Russland und die Ukraine konzentrierte Geschichte der post-sowjetischen Epoche
Neben dieser historischen Dimension analysiert der Verfasser auch die Geschichte der Gegenwart. Der Einstieg in sein Buch ist zugleich eine auf Russland und die Ukraine konzentrierte, geraffte Geschichte der post-sowjetischen Epoche. Plokhy verdeutlicht dabei, dass er bereits früh deutliche Unterschiede in der Entwicklung der beiden Staaten sieht. Während die Ukraine sich – trotz zahlreicher Krisen und Revolutionen – auf einen Weg in Richtung Demokratie und Pluralismus begab, triumphierte bereits in Jelzins Russland die autokratische Tradition. Am Ende der 1990er Jahre wurde Wladimir Putin als Nachfolger Jelzins ausgewählt, weil er die autokratischen, autoritären und antiwestlichen Haltungen verkörperte, die den Kern der russischen Eliten weiterhin prägten.
Neben dieser Parallelgeschichte der Entwicklung der beiden größten Nachfolgestaaten der Sowjetunion verfolgt Plokhy auch ihre Beziehungen zum Westen. Nach langen Jahren des Wankens und zwei Revolutionen entschied sich die Mehrheit der Ukrainerinnen für einen westlichen Weg ihres Landes. Es war diese umkämpfte Entscheidung, getroffen auf dem „Euromaidan“ in Kyjiw, die in den Krieg mit Russland führte, der 2014 mit der Annexion der Krim begann.
Scheitern der Berliner Russlandpolitik
Plokhy schildert in seiner Darstellung auch die oft vergessenen acht Jahre Krieg von 2014 bis zum Februar 2022, inklusive der gescheiterten Bemühungen der Europäer – insbesondere der Merkel-Regierungen –, Wladimir Putins Russland zu beschwichtigen. Trotz des Krieges und der russischen Verbrechen schreibt der Historiker ohne Schärfe und mit abgewogenem Urteil. Doch gerade diese Zurückhaltung offenbart vielleicht besonders eindrücklich das Scheitern der Berliner Russlandpolitik, das bis heute nicht ansatzweise aufgearbeitet wurde. Trotz zahlloser Fehleinschätzungen und Entscheidungen zum Nachteil der Ukraine wurden an Angela Merkel weiter hohe Preise verliehen. Wohl auch, damit sich das politische Berlin nicht dem Erbe ihrer Politik stellen muss.
Gelungene Darstellung eines kaum vergangenen Geschehens
Was Serhii Plokhy über den Weg zum russischen Überfall vom 24. Februar 2022 und über den Kriegsverlauf selbst schreibt, dürfte aufmerksame Zeitgenossen kaum überraschen. Der Vorteil des Buches ist hier die komprimierte Darstellung des Geschehens, die wiederum zahlreiche Akteure und Quellen einbezieht. Beim Lesen seiner Darstellung kann man die dramatischen Ereignisse, die wir durchlebt haben, noch einmal nachvollziehen. Die gelungene Darstellung eines kaum vergangenen Geschehens ist eine große Leistung des Historikers.
Ein waches Auge für Russlands Verstrickungen
Serhii Plokhy hat die erste umfassende, historisch fundierte Erzählung und Deutung des russischen Angriffs auf die Ukraine vorgelegt. Insbesondere für diejenigen, die keine ausgeprägten Kenntnisse der osteuropäischen Geschichte haben, dürften hier neue Aspekte und Lesarten des Krieges sichtbar werden. Plokhy hat ein waches Auge für Russlands Verstrickungen in die imperialen Traditionen des Zarenreiches und der Sowjetunion. Gerade in Deutschland, wo ukrainische Perspektiven immer noch in der Minderheit sind und die Nabelschau überwiegt, ist diesem Buch viel Erfolg zu wünschen. Es dient im wahrsten Sinne des Wortes der Aufklärung über Russlands Angriff auf die Ukraine.
Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023, 496 Seiten, Preis: 26 Euro
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