Kann der Straßenbau Selenskyjs Präsidentschaft retten?
In der Ukraine sinkt die Popularität von Präsidenten Selenskyj. Mit einem ehrgeizigen Straßenbauprogramm will der Amtsinhaber seine Errungenschaften festigen. Eine Analyse von Fabrice Deprez.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war in den letzten Tagen viel unterwegs. Allein im September besuchte er 13 Regionen des Landes. Während sich die politischen Kräfte auf, die am 25. Oktober stattfindenden Lokalwahlen konzentrieren, hatte der Präsident nur ein Thema auf der Agenda: Das „Große Bauprogramm“, ein breit angelegtes Infrastrukturprojekt, das Selenskyj in diesem Jahr angekündigt hatte.
„Natürlich ist das ein ehrgeiziger Plan“, sagte Selenskyj im September während eines Besuchs in der Region Transkarpatien. „Wir planen, 370 Kilometer Straßen (in den Regionen) zu reparieren, 223 Kilometer haben wir schon geschafft.“ Das sei mehr gewesen als in der gesamten letzten Dekade, versicherte Selenskyj.
Bei dem Bauprogramm sollen auch hunderte neue Kliniken, Schulen und Sportplätze entstehen sowie 6000 Kilometer Straßen in der Ukraine instandgesetzt werden, verspricht die Regierung. Die Ausgaben für den Straßenbau sprangen von 21,3 Milliarden Hrywna (ca. 740 Millionen Dollar) im Jahr 2019 auf 113 Milliarden Hrywna (ca. 4 Milliarden Dollar) in diesem Jahr.
Von Covid-19 zum Straßenbau
Das Bauprogramm ist zwar ehrgeizig, aber dringend nötig, meinen viele Ukrainer. Wie in Russland sorgt auch in der Ukraine der klägliche Zustand der Straßen für Frust und Unmut. Zwar hat das Land in den letzten Jahren Autobahnen gebaut, um die größten Städte miteinander zu verbinden. Viele Landstraßen wurden jedoch jahrzehntelang vernachlässigt. Kein Wunder, dass das Projekt auf große Zustimmung stößt. Laut einer Umfrage des renommierten Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie wird das Projekt von 67 Prozent der Ukrainer voll unterstützt.
Dennoch wird Selenskyj kritisiert. Denn die Regierung hat bis zu 9 Milliarden Hrywna (ca. 317 Millionen Dollar) für den Straßenbau abgezweigt, obwohl das Geld eigentlich für den Kampf gegen Corona bestimmt war. Auch wurde Selenskyjs Tour durch die Regionen eher als Wahlkampfauftritt wahrgenommen. Die Präsidentenpartei Diener des Volkes hatte bei den Parlamentswahlen 2019 zwar die absolute Mehrheit errungen. Bei den Lokalwahlen dürften es Kandidaten der Regierungspartei dennoch schwer haben, gegen die in den Regionen tief verwurzelten und gut vernetzten Lokalpolitiker anzukommen.
Sehr wahrscheinlich wollte Selenskyj bei seiner Tour durch die Regionen nicht nur für den Straßenbau werben, sondern auch seine Kandidaten unterstützen.
So war zum Beispiel bei jedem Auftritt des Präsidenten auf den Rednertribünen das Logo der Partei „Diener des Volkes“ zu sehen.
Von Selenskyj für Selenskyj
Wenn das „Große Bauprogramm“ ein politisches Instrument ist, dann soll nicht nur die Präsidentenpartei davon profitieren, sondern vermutlich auch der Präsident persönlich. Er wolle als der Präsident in Erinnerung bleiben, der Straßen gebaut hat, sagte Selenskyj im Mai.
Nach seinem verblüffenden Sieg im April 2019 hatte der ehemalige Komiker schwere anderthalb Jahre hinter sich. Die Zeit der Flitterwochen, als niemand das Staatsoberhaupt zu kritisieren wagte, währte nur kurz. Fernsehsender, die entweder dem ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko oder pro-russischen Kräften nahestehen, attackieren Selenskyj ständig. Sie werfen dem Staatschef vor, entweder vor Wladimir Putin oder ukrainischen Nationalisten zu kapitulieren. Auch bei der Bevölkerung verliert der Präsident an Glanz: Obwohl Selenskyj in Umfragen immer noch vorne liegt, gerät seine Popularität ins Wanken. Grund dafür sind schleppende Reformen, umstrittene Personalentscheidungen und die von der Corona-Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise. Selenskyj sieht sich besonders zwei Problemen ausgesetzt: Erstens bröckelt nach mehr als einem Jahr sein Image als Saubermann, obwohl er bisher nicht direkt in Korruptionsaffären verwickelt war. Zweitens hat Selenskyj sein Versprechen nicht eingelöst, den Krieg im Donbas zu beenden.
Selenskyj besitzt jedoch immer noch ein ausgefeiltes politisches Gespür und Geschick für Öffentlichkeitsarbeit. Beide Talente hat er wahrscheinlich seiner Arbeit in der Unterhaltungsbranche zu verdanken. Das „Große Bauprogramm“ wurde zwar vom ehemaligen Innenminister Oleksiy Hontscharuk ins Leben gerufen. Die Webseite des Projekts und Plakate am Straßenrand sprechen jedoch von einem „Programm des Präsidenten der Ukraine.“ Seit Februar erschienen auf der Webseite des Präsidenten mehr als 130 Mitteilungen über das Bauprojekt, obwohl Infrastrukturprojekte nicht in den Kompetenzbereich des Staatschefs fallen. Das „Große Bauprogramm“ ist eigentlich nur eine Ansammlung hunderter Projekte in einer schönen Verpackung, jedoch kein eigenständiges Programm. In einigen Fällen wurden Bauprojekte von Lokalbehörden angestoßen und landeten dann unter dem Schirm des „Großen Bauprogramms“ – und damit unter Selenskyjs Schirm.
Ein unklarer Effekt
Das Engagement beim Straßenbau bringt Selenskyj einen klaren Vorteil: Der Präsident kann sich als Macher darstellen, der reale Probleme löst, die für jeden Ukrainer offensichtlich sind. Während Anti-Korruptions-Reformen auf schwachen Füßen stehen und schwer wahrnehmbar sind, ist eine neue Straße ein sichtbarer Erfolg, den man buchstäblich „anfassen“ kann. Die Straße mag zwar von schlechter Qualität sein (die Korruption nagt auch am Bausektor) und ihren ersten Winter nicht überleben. Jedoch wird zu dieser Zeit vielleicht bereits ein neues Thema auf der politischen Agenda stehen.
Neue Straßen könnten also die Schwächen von Selenskyj in anderen Bereichen ausgleichen.
Das Projekt passt auch gut zum Versprechen des Präsidenten, das Land zu einen, strittige Probleme zu lösen sowie eine reiche und vielfältige Nation zu formen. Dieses Vorhaben verfolgte Selenskyj während seiner Amtszeit stets weiter, wenn auch nur symbolisch. Mit einem Straßenbauprojekt und greifbaren Resultaten könnte Selenskyj seine Versprechen einlösen. Was eignet sich besser, ein Land zu einen, als schnelle Transportwege?
Ob der Straßenbau auch die Präsidentschaft von Selenskyj sichert, ist unklar und kann noch nicht beurteilt werden. Der Erfolg des Programms hängt von einer dauerhaften Finanzierung ab, was schon immer ein Problem bei Infrastrukturprojekten in der Ukraine war. Auch die politischen Auswirkungen sind nicht eindeutig: Dieselbe Umfrage, die eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung zeigte, fand heraus, dass 70 Prozent der Befragten von dem Projekt nichts wussten. Und dass, obwohl das Bauprogramm ständig in sozialen Netzwerken und Fernsehsendern beworben wird. Außerdem sind Infrastrukturprojekte meistens lokale Angelegenheiten. Jemand in Cherson wird sich kaum für eine neue Straße in Ternopil interessieren. Durch den Straßenbau könnte Selenskyj vielleicht in die Geschichte eingehen. Straßen sind aber nur der Startpunkt für weitere Reformen.
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