Warum Wolodymyr Selenskyj ukrainische Oligarchen im Kampf gegen das Coronavirus verpflichtet
Petro Poroschenko versprach, das Land von den Oligarchen zu befreien. Doch er scheiterte. Sein Nachfolger im Präsidialamt, Wolodymyr Selenskyj, hofft dagegen, die Oligarchen für den Dienst am Staat zu gewinnen. Von Fabrice Deprez
Der Moment, als Andrij Stawnitser seinen Auftrag als erledigt ansah, kam am 5. Mai, fünfzig Tage nachdem die Quarantäne das öffentliche Leben in der Ukraine zum Erliegen gebracht hatte. An diesem Tag verkündete Stawnitser, dass das „Anti-Krisenzentrum der Region Odesa“ schließen werde. Der 37 Jahre alte Geschäftsmann aus der Schwarzmeerstadt hatte das Krisenzentrum ins Leben gerufen und größtenteils selbst finanziert. „Das Krisenzentrum hat seinen Teil der Abmachung erfüllt“, schrieb Stawnitser auf Facebook. Insbesondere habe man 42 Beatmungsgeräte, hunderte warme Mahlzeiten, 48.000 Schutzanzüge und 231.000 Atemmasken geliefert.
„Wir haben eine klaffende Lücke im Gesundheitswesen geschlossen, und wir haben der Region alles Notwendige zur Verfügung gestellt“, erklärte Stawnitser und ergänzte schließlich, „wir haben von Anfang an klargestellt, dass unsere Arbeit nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann.“
Anderthalb Monate zuvor trafen sich Stawnitser und eine Gruppe der reichsten Männer der Ukraine im Präsidentenpalast in Kyjiw. Zu dieser Zeit gab es in der Ukraine zwar nur sieben Corona-Fälle. Den Anwesenden war jedoch klar, dass das korrupte und unterfinanzierte Gesundheitssystem bei einer Massenepidemie zusammenbrechen werde. Sie müssten einen Beitrag leisten sowie „Geld und Leute bereitstellen“, um eine Katastrophe zu verhindern, teilte Präsident Selenskyj den Oligarchen Rinat Achmetow, Ihor Kolomojskyj, Viktor Pintschuk sowie anderen Großunternehmern mit, die sich am Konferenztisch versammelt hatten. Das Treffen am 16. März ist ein seltenes Beispiel dafür, wie man die mächtigsten Männer der Ukraine zusammenbringt und wie der Präsident ein neues Verhältnis zu den Geschäftsleuten aufbaut, die noch immer die Geschicke des Landes bestimmen.
Mit den Oligarchen zusammenarbeiten, statt ihre Macht zu beschränken
Die meisten Oligarchen haben ihr Vermögen unter dubiosen Umständen in den Neunzigerjahren gemacht und die Gesellschaft seitdem massiv beeinflusst. Schon öfter wurden Oligarchen von der Regierung zu Hilfe gerufen, um die Versäumnisse des Staates auszubügeln. Im Jahr 2014 konnte das heruntergewirtschaftete Militär den von Russland mit Material und Truppen unterstützten Separatisten nur schwer standhalten.
Von Geschäftsleuten aufgestellte und großzügig finanzierte Privatbataillone haben damals einen kompletten Kollaps der Ukraine im Donbas verhindert.
Seitdem hat sich viel verändert, und die Corona-Epidemie macht Selenskyjs Probleme mit der Schattenherrschaft der Oligarchen besonders deutlich. Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko kam durch eine breit unterstützte Revolution an die Macht, die sich gegen Korruption und gegen den Einfluss der Oligarchen richtete. Dass Militäreinheiten privat finanziert wurden, wurde in Kauf genommen und schien angesichts eines drohenden Kollapses unvermeidbar. Die Macht der Oligarchen zu brechen, wurde auf der anderen Seite als ebenso wichtig eingestuft.
So musste sich Poroschenko, zumindest offiziell, zur „De-Oligarchisierung“ des Landes verpflichten, was auch von der Zivilgesellschaft und den westlichen Partnern der Ukraine verlangt wurde. Diese Haltung kann man bestenfalls als zynisch beschreiben angesichts der Tatsache, dass Poroschenko selbst als Oligarch gilt, der sein Vermögen in der Süßwarenindustrie machte und unter dem Spitznamen „Schokoladenkönig“ berühmt wurde.
Auf der Suche nach einer neuen Balance
Die Entmachtung der Oligarchen scheiterte, was nur Wenige verwunderte. Präsident Selenskyj indes unternahm nach seiner Wahl keine weiteren Schritte in diese Richtung. Stattdessen strebte der ehemalige Fernsehstar eher eine offene Beziehung zu den Oligarchen an.
Anstatt um Einfluss auf den Staatsapparat zu kämpfen, sollen sich die Oligarchen in die Dienste des Staates stellen, so die Vorstellung von Selenskyj.
Diese Idee trat bei dem Treffen am 16. März ganz offensichtlich zu Tage: Nach einem Bericht der Zeitung Ukrainska Pravda wurden neun der Oligarchen bestimmte Regionen zugeteilt, in denen diese den Kampf gegen die Epidemie koordinieren sollten. Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine, wurden die westlichen Regionen Iwano-Frankiwsk, Lwiw sowie die zentralen und östlichen Regionen Donezk, Luhansk und Krywyj Rih zugeteilt. Wiktor Pintschuk und Ihor Kolomojskyj, ebenfalls zwei der reichsten Männer des Landes, sollten sich um die Regionen Dnipropetrowsk und Saporischschja kümmern. Nun, da die Ukraine die von vielen befürchtete Massenepidemie abgewehrt hat, ist es unklar, wie entscheidend die Rolle der Oligarchen wirklich war. Tatsache bleibt jedoch, dass Selenskyj die Großunternehmer in einem Moment um Hilfe bat, als die Situation außer Kontrolle hätte geraten können.
Selenskyj hält sich nicht für gewappnet genug, um es mit den Oligarchen direkt aufzunehmen. Der Präsident, so schrieb Ukrainska Pravda, sehe sich eher als Schiedsrichter, als Staatsoberhaupt, der Streitigkeiten zwischen den Oligarchen schlichten und die Geschäftsleute kontrolliert einsetzen könne, falls es die Situation erforderlich macht.
Der Schiedsrichter der Oligarchen
Diese Logik galt schon vor der Corona-Epidemie: Im Juni 2019 appellierte Selenskyj an Rinat Achmetow, Wiktor Pintschuk und Ihor Kolomojskyj, die kriegsgeschüttelte Donbas-Region finanziell zu unterstützen. Damals sah der Präsident die Oligarchen als Ressource, um die Region wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen. Wie in der Corona-Krise bestand das Ziel darin, die gewaltigen Möglichkeiten der Oligarchen zu nutzen, um das Unvermögen des Staates in dieser Ausnahmesituation zu kompensieren. Genau das hat der Präsident immer noch vor Augen: Während einer Pressekonferenz am 20. Mai gefragt, bestritt Selenskyj, „die Interessen der Oligarchen zu lobbyieren“. „Ich baue Beziehungen zu Menschen auf, wie ich kann und wie ich will“, sagte er. Er fügte aber hinzu, dass „das Problem mit dem Wiederaufbau der Donbas-Region immer noch besteht.“ „In dieser Hinsicht rede ich mit ihnen und sie zeigen sich bereit, zu investieren. Ich bin zu Gesprächen mit Geschäftsleuten und Oligarchen bereit, um Krankenhäuser zu bauen“, sagte der Präsident.
Dieser Ansatz mag in Einzelfällen funktionieren, doch die Balance zwischen dem Staat und den Oligarchen ist extrem brüchig.
Sogar in einer relativ leichten Situation wie der Corona-Epidemie – mit ungefähr 32.000 Fällen und 900 Toten [Stand 15.06.2020] wurde das Land bisher vergleichsweise verschont – gab es Anzeichen von Spannungen: Im östlichen Oblast Charkiw errichteten der Geschäftsmann Oleksandr Yaroslawsky (der beim Treffen am 16. März dabei war) und Lokalgouverneur Oleksiy Kutscher konkurrierende Krisenzentren und beschuldigten sich gegenseitig der Sabotage. In der Region Odesa gab es ähnliche Reibereien zwischen dem Geschäftsmann Stawnitser und den Lokalbehörden, die teilweise auch das vorzeitige Ende des privaten Krisenzentrums erklären. Solche Spannungen sind unvermeidbar, und sie werden umso größer, je mehr der Einsatz steigt. Wie Selenskyj damit umgehen will, ist jedoch immer noch unklar.
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