“Ich will das Leben schrei­bend feiern!”

Foto: Imago Images | Maxim Marusenko

Der in der Ukraine lebende, deut­sche Schrift­stel­ler Chris­toph Brumme hat seine Tage­buch­ein­träge ver­öf­fent­licht. Sie geben einen beson­de­ren Ein­blick in den Kriegsalltag.

Fliehen oder nicht? – diese Frage bestimmte für viele Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner die Wochen vor und nach Kriegs­be­ginn in der Ukraine. Auch der deut­sche Schrift­stel­ler Chris­toph Brumme, der mit seiner Familie in Poltawa, nur 120 Kilo­me­ter von der rus­si­schen Grenze ent­fernt, lebt, war sich zunächst unsi­cher. „Mein elf­jäh­ri­ger Sohn Kolja sagt, er möchte dort leben, wo uns die Russen nicht erschie­ßen“, schreibt Brumme in einem Tage­buch­ein­trag vom 25. Januar 2022. Es ist der erste Satz seiner kürz­lich in Buch­form ver­öf­fent­lich­ten Tage­buch­auf­zeich­nun­gen „Im Schat­ten des Krieges“.

Chris­toph Brumme ist geblie­ben – auch nach Kriegs­be­ginn. Und wir können ihm gewis­ser­ma­ßen dankbar dafür sein. Denn seine Tage­buch­auf­zeich­nun­gen aus der Zeit von Januar bis Mai 2022 sind nicht nur eine span­nende Lektüre, sondern auch ein ein­drucks­vol­les Zeugnis einer Zeit, deren his­to­ri­sche Bedeu­tung wir heute wahr­schein­lich noch nicht greifen können. Und es ist das Zeugnis eines genauen und empa­thi­schen Beob­ach­ters, eines „Ukraine-Ver­ste­hers“, nicht nur im intel­lek­tu­el­len Sinn, sondern vor allem im mensch­li­chen – denn darum geht es Brumme vor allem: um die Men­schen in seiner Wahlheimat.

Chris­toph Brumme lebt seit 2016 in der Ukraine. Auf­ge­wach­sen ist der 59-Jährige in der DDR. Damals, so schreibt er es, waren für ihn alle sowje­ti­schen Men­schen Russen. Diese Wahr­neh­mung änderte sich, als Brumme, der nach der Wende als frei­be­ruf­li­cher Autor in Berlin arbei­tete, 1999 das erste Mal in die Ukraine reiste. Später fuhr er mehr­mals mit dem Fahrrad durch das Land und weiter nach Russ­land, bis an die Wolga – 40.000 Kilo­me­ter ins­ge­samt. Was ihm damals schon auffiel: „Die Ukrai­ner sind weit weniger auto­ri­täts­hö­rig als Russen.“

Unsi­cher­heit als Normalität

In den Ein­trä­gen vor Kriegs­be­ginn zeich­net Brumme eine Welt der Unsi­cher­heit, in der es jeden Tag „los­ge­hen“ kann. Gleich­zei­tig zeigt er eine Gesell­schaft, die nicht in Panik gerät, und für die die täg­li­chen Droh­ge­bär­den aus dem Nach­bar­land zur Nor­ma­li­tät gewor­den sind. Sach­lich stellt er fest: „Ukrai­ner brau­chen ja keine Über­set­zer, um die Gehäs­sig­kei­ten aus Russ­land zu ver­ste­hen.“ Von Brummes Gesprächs­part­nern glauben zunächst nur die wenigs­ten, dass Putins Truppen wirk­lich in die Ukraine ein­mar­schie­ren würden. Wie auch, fragt bei­spiels­weise ein Taxi­fah­rer, die Hälfte Ukrai­ner hätten ja schließ­lich Ver­wandte in Russland.

Durch Gesprä­che, Refle­xio­nen und vor allem auch immer wieder hilf­rei­che Rück­bli­cke in die Ver­gan­gen­heit – Stich­wort: Wie­der­ho­lung der Geschichte – ent­schlüs­selt Brumme die Para­do­xi­tät und Absur­di­tät der Argu­mente, die der rus­si­schen Seite als Begrün­dung für diesen Krieg dienen. „In Poltawa“ schreibt er, „lacht man über die Vor­stel­lung, dass mit der Sprache Rus­sisch irgend­wel­che Sym­pa­thien für Putins Russ­land ein­her­ge­hen müssten.“ Ein anderes Bei­spiel, das die Tragik der Situa­tion, aber auch die Kom­ple­xi­tät des Landes offen­bart: Eine Frau aus Poltawa mit rus­si­schem Pass ist für die Ver­wand­ten in Russ­land eine Nazis­tin, weil sie schon lange in der Ukraine lebt, für ihre Freun­din aus Charkiw aber ist ihr rus­si­scher Pass ein Grund, die Freund­schaft zu kündigen.

Scho­nungs­los schreibt er auch über die Kriegs­fremd­heit und Nai­vi­tät im west­li­chen Europa, ins­be­son­dere in Deutsch­land. Er spricht von „Zeugen des Sofas“ und „Möch­te­gern-Pazi­fis­ten“ und wünscht sich, dass mehr deut­sche Poli­ti­ker und Exper­ten sich Orte wie Butscha anschauen. Mit kleinen Anek­do­ten wie dieser zeigt er die Dop­pel­mo­ral der deut­schen Regie­rung: „Niemand macht mir Vor­würfe, dass die Deut­schen jetzt nur Helme schi­cken. Dafür nähen die Ukrai­ne­rin­nen den Deut­schen zum hie­si­gen Min­dest­lohn Uni­for­men für ihre Armee.“ Je länger der Krieg dauert, desto größer wird auch sein Frust über das Unver­ständ­nis und die Igno­ranz in Deutsch­land. Einmal ist er kurz davor, seine deut­sche Staats­bür­ger­schaft gegen die ukrai­ni­sche einzutauschen.

Geschich­ten aus dem Biergarten

Trotz­dem wirkt Brumme nie hämisch. Die Sprache ist leicht und klar, der Ton bis­wei­len zynisch und selbst­iro­nisch. Seine Ana­ly­sen, die er zwi­schen Beob­ach­tun­gen und Gesprä­che streut, sind meist eigene Erkennt­nisse und Refle­xio­nen. Brumme ist niemand, der vom „Pro­fes­so­ren­zim­mer“ aus Theo­rien auf­stellt, er sitzt lieber mit gespitz­tem Ohr im Bier­gar­ten. Seine Auf­zeich­nun­gen zeigen, wie nah er den Men­schen ist, wie vor­ur­teils­frei und neu­gie­rig er ihnen begeg­net und wie groß seine Bewun­de­rung für die Ukrai­ner ist. Man hat das Gefühl, Brumme ist immer dann da, wenn Men­schen ein offenes Ohr brau­chen. Er wirkt wie eine Art alter­na­ti­ver Bot­schaf­ter, der den Ukrai­nern ein anderes Bild von Deutsch­land zeigt als das, was sie derzeit aus den Nach­rich­ten wahrnehmen.

Am 25. Februar kommt dann doch die Frage: „Bin ich der letzte Dumm­kopf, der hier­bleibt?“ Er beschreibt die Geis­ter­haf­tig­keit, die Stille und die Ungläu­big­keit am Tag nach Kriegs­be­ginn und die schnelle Mobi­li­sie­rung der Gesell­schaft, die unfass­bare Soli­da­ri­tät und Unter­stüt­zung unter den Men­schen, die Brumme so sehr bewun­dert. Nicht ohne Selbst­iro­nie erzählt er von seinem eigenen gesell­schaft­li­chen Enga­ge­ment, dem Orga­ni­sie­ren von huma­ni­tä­rer Hilfe – etwas, für das er vor dem Krieg nie Inter­esse gezeigt hatte.

Poli­ti­sche Mel­dun­gen unter­bre­chen seinen Gedan­ken­fluss, so wie man es selbst aus dem Alltag kennt. Brumme ver­sucht sie ein­zu­ord­nen, aber zuse­hends spürt man auch seinen Frust über die Bericht­erstat­tung im Ausland. Immer wieder weist er auf Denk­feh­ler hin oder fragt sich, wie es sein kann, dass Poltawa auf der mili­tä­ri­schen Karte des SPIEGEL wochen­lang als besetz­tes Gebiet mar­kiert ist: „Der SPIEGEL irrt sich und das ist schön!“ Dabei reflek­tiert er auch seine eigenen Medi­en­be­richte und Inter­views, die zuneh­mend emo­tio­na­ler werden.

So schwer man sich ein Kriegs­ta­ge­buch vor­stel­len mag – Brumme ver­gisst auch die schönen Momente nicht. Er schreibt über ein Paar, das wieder zusam­men­fand („Der Krieg hat ihre Tole­ranz geför­dert“) und darüber, wie dieser Krieg und die direkte Kon­fron­ta­tion mit der End­lich­keit Men­schen zusam­men­bringt und den Fokus wieder auf das Wesent­li­che bringt.

Ob er beim Tee­trin­ken mit den Ein­woh­nern von Poltawa Flucht­rou­ten bespricht, aus Ver­se­hen fast seinen Nach­barn ersticht oder im Park von einem betrun­ke­nen Gitar­ris­ten ange­grif­fen wird – Brumme ist mit­ten­drin. Oder in seinen Worten: „Ich will das Leben (schrei­bend) feiern, nicht zit­ternd im Bunker hocken“.

Chris­toph Brumme: „Im Schat­ten des Krieges“, S. Hirzel Verlag, Stutt­gart 2022. 112 Seiten, 15 Euro

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