Neuer Akteur mit alten Ideen? Think Tanks und Zivilgesellschaft in der ukrainischen Wirtschaftspolitik
Nach der Revolution der Würde entstanden auch in der Wirtschaftspolitik, traditionell nicht unbedingt die klassische Sphäre von Bürgerengagement, zahlreiche Initiativen und Think-Tanks, die die ökonomische Debatte im Land erneuern wollen und den Reformprozess aktiv begleiten. Eine Analyse von Ewa Dąbrowska & Oliver Müser
Neue Akteure in der ukrainischen Wirtschaftspolitik
Einer dieser neuen Akteure ist VoxUkraine, gleichzeitig crowd-finanzierter Think-Tank, wirtschaftspolitische Informationsplattform und Netzwerk (hochkarätiger) ukrainischer Ökonomen im In- und Ausland. So ist der Berkeley-Professor Yuriy Gorodnichenko Mit-Gründer und der Nobelpreisträger Roger Myerson von der Universität Chicago sitzt im wissenschaftlichen Beirat. Vox publiziert seine Analysen auf Ukrainisch, Russisch und Englisch und bezieht so auch internationale Wirtschaftsexperten in die ukrainische Debatte ein. Der Fokus und die große Stärke von VoxUkraine liegen in der Wissenschaftskommunikation. Projekte wie VoxCheck, ein Fact-Checking-Segment, bei dem die Aussagen ukrainischer Politiker und Oligarchen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden oder der Index for monitoring of reforms (iMoRe), der den Reformfortschritt (oder –rückschritt) anhand gerade verabschiedeter Gesetze inhaltlich prägnant und mit einem Graphen optisch verständlich aufbereitet, schlagen eine Brücke zwischen Wirtschaftswissenschaft und Bevölkerung, zwischen abstrakten Reformvorhaben und konkreten Auswirkungen. VoxCheck untersuchte stellte unter anderem fest, dass überprüfbare Aussagen von Präsidentschaftskandidatin Julia Timoschenko in weniger als 10% der Fälle der Wahrheit entsprechen.
Weitere neue Organisationen sind beispielsweise der EasyBusiness Think Tank, der die Regierung seit 2014 beim Abbau von Bürokratie berät und das 2015 gegründete Centre for Economic Strategy (CES), das vor allem im Bereich Privatisierung und Bankenreform Einfluss auf die Regierungspolitik übt. Ebenfalls 2015 wurde das Bendukidze Free Market Center unter anderem vom ehemaligen Finanzminister Oleksandr Danylyuk gegründet und dürfte somit vor allem während dessen Amtszeit von 2016 bis 2018 beträchtlichen Einfluss auf das Regierungshandeln gehabt haben.
Neue Spielräume für alte Akteure
Neben der Entstehung neuer Organisationen haben sich auch für wirtschaftspolitische Think Tanks, die bereits seit vielen Jahren in der Ukraine aktiv sind, durch den Maidan neue Spielräume ergeben. Das Institute for Economic Research and Policy Consulting (IER), das 1999 von der Deutschen Beratergruppe Ukraine als Teil eines langfristigen Reformprojekts des Bundeswirtschaftsministeriums mitbegründet wurde, untersucht seit 2014 unter anderem die ökonomischen Folgen der Anti-Korruptionsgesetze oder befragt Unternehmen nach den Hindernissen in ihrer Geschäftstätigkeit. Solche empirischen Untersuchungen sind besonders wichtig, um die Reformagenda an die Realitäten der ukrainischen Wirtschaft anzupassen. Die DiXi Group, einer der führenden Think Tanks zu energiepolitischen Themen, wurde 2008 gegründet, hat aber im Zuge des Maidan ihr Wirkungsfeld ausgeweitet. DiXi nimmt seit 2014 jenseits von Analysen und Politik-Monitoring mit Unterstützung der Europäischen Union stärker operativen Einfluss. Eine von DiXi initiierte Koalition von zivilgesellschaftlichen Akteuren erarbeite eine Energiereform-Roadmap und erreichte die Verabschiedung eines überarbeiteten Umsetzungsplans der EU-Richtlinien für die Energiegemeinschaft durch die ukrainische Regierung.
Darüber hinaus sind CES, IER, DiXi und EasyBusiness Mitglied im Reanimation Package of Reforms (RPR), einer der spannendsten Initiativen, die direkt aus dem Maidan heraus entstanden ist. Das RPR ist eine Vereinigung von fast 100 Nichtregierungsorganisationen, Experten und Journalisten, die ihre Ressourcen mit dem Ziel zusammenbringen, die Öffentlichkeit in den Reformprozess einzubringen, diesen voranzubringen und die Umsetzung der Reformen zu kontrollieren.
Viele Akteure, fehlende Vielfalt
Auffällig ist bei der Vielzahl der Akteure allerdings durchaus ein Mangel an inhaltlicher Pluralität. Ein Großteil der wirtschaftspolitischen Denkfabriken verfolgt Ideen, die in (Mittel)Osteuropa in den frühen 1990ern en vogue waren und oft mit dem Begriff der „Schock-Therapie“ assoziiert werden. So war beispielsweise Ivan Miklos, Mitgründer des CES, von 1991 bis 2012 in verschiedenen Ministerämtern einer der führenden Vertreter radikaler Marktreformen in der Slowakei, die das Land zwar einerseits auf Platz 32 des Ease of Doing Business-Index der Weltbank hievten, andererseits aber durch drastische Kürzung der Sozialleistungen unter anderem einen Roma-Aufstand zur Folge hatten. In eine ähnliche Richtung maximaler Deregulierung orientieren sich auch Easybusiness und das Bendukidze Center.
Beide sind außerdem Mitglied beziehungsweise assoziiert mit dem Atlas-Netzwerk, das von den ultrakonservativen US-Industriellen Charles und David Koch finanziert wird. Generell lassen sich die meisten Mitglieder des RPR dem wirtschaftsliberalen Lager zuordnen.
Die Dominanz dieser wirtschaftspolitischen Überzeugungen in der Post-Maidan Ukraine ist auf mehreren Ebenen problematisch. Zum einen berücksichtigen sie die – oben angedeuteten – Erfahrungen mit der Transformation der 1990er kaum. Schon damals standen auch in der Ukraine Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaft und des Finanzsystems ganz oben auf der Reformagenda. Allerdings verlief der Reformprozess anders als geplant. Die Liberalisierungsgewinne wurden von einigen wenigen, oft kriminellen Personen oder Gruppen vereinnahmt. Die wirtschaftliche Öffnung ermöglichte es diesen dann, ihre Gewinne in Offshores zu verlegen, um Steuern zu umgehen und gefährdete so das Funktionieren des ukrainischen Staates. Eine Gruppe Ökonomen aus Großbritannien und der Ukraine hat im Sommer 2018 im Auftrag der Linken-Fraktion im EU-Parlament eine Studie dazu veröffentlicht, wie ukrainische Metallurgie-Konzerne ihre Gewinne in Offshores verlagern.
Der Markt und die Oligarchen
Hier zeigt sich, dass marktwirtschaftliche Reformen im Kontext der polit-ökonomischen Machtstruktur in der Ukraine unerwünschte Folgen haben können. Wirtschaftliche und politische Eliten sind in der Ukraine immer noch aufs Engste miteinander verwoben. Die Wirtschaft Marktmechanismen zu überlassen, kann daher bedeuten, die Interessen der bereits arrivierten Wirtschaftsakteure gegenüber den weniger privilegierten Marktteilnehmern, einschließlich der Konsumenten, zu stärken. Dieses Machtungleichgewicht stellt daher in Frage, ob die erfolgreiche Herstellung von Marktmechanismen zentraler Maßstab für den Reformerfolg sein sollte.
Darüber hinaus herrscht unter internationalen Ökonomen spätestens seit der Finanzkrise 2008 relativ breite Einigkeit darüber, dass selbst unter guten Governance-Bedingungen nicht alles dem Markt überlassen werden sollte. Insbesondere die Finanzmarktliberalisierung, aber auch über das Ausmaß von Sozialleistungen oder die Privatisierung des Gesundheitswesens werden in Deutschland und anderen westlichen Industriestaaten kontrovers diskutiert. Warum finden solche Debatten in der Ukraine kaum, auf einem populistischen Niveau oder gar nicht statt?
Genau das scheint der problematischste Aspekt der neuen ukrainischen Akteure in der Wirtschaftspolitik: Die Dominanz einer Seite ist für keine Debatte gut: eine Demokratie braucht Pluralismus – in der Parteipolitik, aber eben auch in der Zivilgesellschaft.
Es gibt durchaus einige Think Tanks und NGOs, die andere Meinungen vertreten, wie beispielweise das links-progressive Center for Social and Labor Research, das kritische Magazin „Commons“ (Spil’ne) oder die sozialdemokratische SD Platform. Auch innerhalb der Deregulierungsfraktion gibt es kritische Stimmen, wie zum Beispiel Vitaly Protsenko von VoxUkraine, der in seinem Beitrag „The Economics of Pain and Injustice. How Ukrainians Turned Into a ‚Leftwing‘ Nation“ anmahnt, dass Verluste, die ärmere Bevölkerungsschichten im Reformprozess erleiden, ausgeglichen werden müssen, wenn die Reformen Erfolg haben sollen. Diese Stimmen bleiben aber am Rande der Debatte und spielen im Reformprozess kaum eine Rolle.
Raum schaffen für eine offene wirtschaftspolitische Debatte
Die Tatsache, dass die Zivilgesellschaft in Folge des Maidan zu einem ernstzunehmenden Akteur im Reformprozess geworden ist, ist an sich schon ein großer Erfolg für die ukrainische Gesellschaft. Als nächster Schritt wäre es aber nun wichtig, dass die Zivilgesellschaft die Vielfalt der Meinungen der Gesellschaft reflektiert. Dazu gehört auch, Widerstand in der Bevölkerung gegen (Teile der) der Reformen nicht als Ignoranz abzutun oder auf die gern vorgeschobene „sowjetische Mentalität“ abzuwälzen, sondern eine offene Debatte über die Inhalte der Reformen zu führen. Ukrainische Ökonomen unterschiedlicher politischer Orientierungen sind sich darin einig, dass Oligarchen das Hauptproblem der ukrainischen Wirtschaft darstellen. Es gilt also, komplexe Lösungen für ein kompliziertes polit-ökonomisches Umfeld zu finden, die weiter gehen als Bürokratieabbau und Privatisierung. Dazu gehören natürlich auch ein IWF und eine EU, die Spielraum für einen inhaltlichen Dialog über die Reformen zulassen. Damit das Versprechen des Maidans von einer würdevollen Gesellschaft für möglichst viele Ukrainer erfüllt wird.
Zum Artikel:
Ewa Dabrowska und Oliver Müser haben 2018 für den Berliner Grass-Roots Think-Tank Polis180 gemeinsam mit VoxUkraine ein Projekt zur Erweiterung der wirtschaftspolitische Debatte in der Ukraine durchgeführt. Im Zuge des Projektes setzten sich junge ukrainische ÖkonomInnen mit verschiedenen Positionen und Konzepten der Wirtschaftspolitik auseinander und produzierten anschließend kurze Videos zu unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Themen.
Informationen zum Projekt unter: https://polis180.org/highlights/ukrainomics-enhance-the-economic-debate-in-ukraine/
Das Projekt wurde durch eine Förderung des Auswärtigen Amts ermöglicht, im Rahmen des Programms “Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland”. Die Projektentwicklung wurde von Ukraine Calling unterstützt.
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