30 Jahre Unabhängigkeit der Ukraine – Interview mit Oskar Mangur
Ein Jubiläum, das Anlass für eine historische Rückschau bietet. Warum hat sich die ukrainische Gesellschaft nicht schneller modernisiert? Warum führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine? Ein Geschichtslehrer blickt zurück.
Ukraine verstehen: Am 24. August 1991 proklamierte das ukrainische Parlament mit überwältigender Mehrheit die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine. Gleichzeitig wurde beschlossen, am 1. Dezember 1991 ein Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten. Bei der Volksabstimmung stimmten dann 92,3 Prozent dafür, bei einer Wahlbeteiligung von 84,2 Prozent.
Warum war diese Zustimmung so hoch? Im Donbas lag diese Zahl ebenfalls bei über 80 Prozent. Sagt man nicht, dass die Ukraine ein geteiltes, zerrissenes Land ist?
Oskar Mangur: Es war eine Zeit der Unsicherheit und Ohnmacht. Nach dem Putsch in Moskau im August 1991 spürten viele die Angst, dass sie in eine sowjetische Diktatur zurückfallen könnten. Und das nach dem Gorbatschow-Tauwetter – mit seinem kulturellen Liberalismus und Glasnost! Nach der Rehabilitierung der Opfer der stalinistischen Repression! Gewissensfreiheit und die Möglichkeit, frei die Kirche oder einen Nachtclub zu besuchen! Die Menschen hatten schon einen Vorgeschmack darauf, wie es war, fast alles zu diskutieren und zu kritisieren, wenn man Ungerechtigkeit empfand ... Jede Musik zu hören, die man wollte ... Das war etwas, woran sich das sowjetische Volk lange Zeit nicht erinnern konnte und was es auch nicht kannte! Und dann der Sommer 1991, der Putsch und die Aussicht auf einen neuen kommunistischen Totalitarismus!? Und im August 1991 – das war wie das Gefühl eines hungrigen Hundes (die Armut war damals enorm) ... Einem hungrigen Hund kann man nicht nur das Bellen verbieten, sondern man kann ihn auch an die Kette legen! Und hier, denke ich, war diese Tatsache der Auslöser, so dass 92,3 % zum Referendum kamen und für die Unabhängigkeit der Ukraine stimmten.
Eine Menschenkette von Lwiw nach Luhansk
Ukraine verstehen: Sie selbst haben damals in Saporischschja gelebt, in einer Region, die an den Donbas grenzt. Sie haben auch an der Menschenkette teilgenommen, die von Lwiw nach Luhansk gebildet wurde, eine Strecke von fast 1000 Kilometern, um die Einheit der Ukrainer zu zeigen. Welche Hoffnungen hatten Sie für die Unabhängigkeit der Ukraine?
Oskar Mangur: Ja, ich lebte zu dieser Zeit in Saporischschja und es schien mir damals, dass jeder in der Umgebung maximal „politisiert“ war. Deshalb hatte ich bei der Aktion am 21. Januar 1990 das Gefühl, dass hier die neue Ukraine ist – ehrlich und offen. Ich stand auf der (Mitten in der Stadt gelgenen) Insel Chortyzja und hielt mit der ganzen Ukraine Händchen! Ich hatte das Gefühl, dass die kommunistische Finsternis vergangen war und eine „wunderbare neue Welt“ voller Glück und Optimismus auf uns wartete.
Aber wer hat dann welchen Inhalt in das Wort Ukraine gesetzt!? Wir haben es nicht ausreichend verstanden. Es ist wie im indischen Gleichnis über den Elefanten und die Blinden. Für manche war die Ukraine eine Schatzkammer mit ihrer schwarzen Erde, der Industrie, dem wissenschaftlichen Potenzial, den natürlichen Ressourcen. Sie träumten davon, dass die Ukraine, nachdem sie den sowjetischen „Ballast“ mit seinen imperialen und militaristischen „Komplexen“ losgeworden war, so reich und unabhängig wie Frankreich und Deutschland werden würde. Heute würden das zum Beispiel nur sehr wenige Menschen glauben, aber Ende der 80er Jahre standen Bergleute aus den Regionen Donezk und Lugansk an vorderster Front im Kampf um die Unabhängigkeit. Protestierende Bergleute haben bis zum Ende der 1980er Jahre, außer für wirtschaftliche Forderungen (Lohnzahlung), für politische Forderungen gekämpft – für die Unabhängigkeit der Ukraine!
Es gab auch eine ziemlich enge Gruppe von Parteikadern, Komsomolzen und roter KGB-Elite. Für sie, denke ich, war es eine Gelegenheit zur Umverteilung des Eigentums, das von den Bolschewiken eingezogen und vergesellschaftet worden war. Und nur für etwa ein Viertel der Bevölkerung war es eine Herzensangelegenheit, ein ukrainisches Haus zu bauen. Die Möglichkeit, die ukrainische Kultur, die ukrainische Sprache wiederzubeleben. Und in einer „freien neuen Familie“ zu leben, von der Taras Schewtschenko geträumt hatte.
Die ukrainische Kultur hatte vor allem in den Dörfern überlebt
UV: In welchem Maße haben Sie sich als Ukrainer gefühlt, aber nicht als Sowjetbürger? Ihre Muttersprache ist Russisch. Sie haben an einer Schule mit russischer Unterrichtssprache gelernt. Wie war Ihr Verhältnis zur ukrainischen Kultur im Jahr 1991? Hatten Sie Verwandte im Dorf, die Sie oft besucht haben? Gab es auch ukrainische Sprachschulen?
Mangur: Ich denke, zu Hause, auf der Ebene der Familie, wusste fast jeder über seine ethnischen Wurzeln Bescheid. In meiner Familie hörte und sprach ich von Kindheit an Ukrainisch. Bevor ich zur Schule ging, hatte ich in der Heimat meiner Mutter, ein Dorf in der Region Poltawa, in den Sommerferien die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen Ukrainisch zu sprechen, wenn ich dort war. Dort waren viele ukrainische Traditionen und Lebensweisen noch lebendig. Ein kleines Dorf hatte in meinen Augen mehr Seele als eine riesige, graue, industrielle Metropole wie Saporischschja mit ihrer aggressiven kommunistischen Propaganda und der erstickenden Einsamkeit in der Menge.
Die großen Städte, der Osten, das linke Ufer (des Dnjepr) und der Süden der Ukraine waren fast zu 100 Prozent russifiziert. Wenn man dort ein Gespräch auf Ukrainisch hörte, wusste man, dass es entweder ein Dorfbewohner aus dem Nachbarbezirk oder ein Galizier (Westukrainer) war oder ein Lehrer für ukrainische Sprache und Literatur.
In den meisten Großstädten waren die ukrainischen Schulen in der überwältigenden Minderheit. In Luhansk, zum Beispiel, damals Woroschilowgrad, gab es keine einzige ukrainische Schule! Die interessantesten Zeitschriften und Zeitungen wurden auf Russisch veröffentlicht, ausländische Literatur – auf Russisch, Filme in den Kinos – auf Russisch! Höhere Bildung konnte man nur auf Russisch erhalten – der Sprache der internationalen Kommunikation in der UdSSR. Und Ukrainisch blieb ein Rudiment der Folklore.
Särge aus Afghanistan und westliche Musik
UV: Als Sie ein Kind waren, haben Sie heimlich BBC gehört. Warum haben Sie das getan? Was haben westliche Kulturen, westliche Musik für Sie bedeutet?
Mangur: Ich muss sagen, dass damals nicht viele Menschen den offiziellen Nachrichten vertrauten. Zum Beispiel gab es kaum Informationen über den Krieg in Afghanistan. Aber jeder wusste, dass regelmäßig „Zinksärge“ mit toten Soldaten aus Afghanistan zurückkehrten. Und in den offiziellen Nachrichten – da waren wir dem ganzen Planeten voraus! Aber wenn Sie in den Laden gingen, sieht die Realität anders aus: Knappheit, schlechte Qualität der Waren, und manchmal fehlt selbst das Wesentliche. Ich denke, dass damals (in den 80er Jahren) nur wenige Menschen den offiziellen Nachrichten vertrauten. Es wurde „in Küchen“ gesprochen, in kleinen Kreisen. Manchmal waren Gerüchte und Geflüster wahrer als die offiziellen Informationen des Programms Wremja. Jeder, der wenigstens ein bisschen kritisch denken konnte, verstand den Unterschied zwischen der offiziellen Wahrheit und der Realität.
Und hier war die BBC. Ich war damals noch sehr jung, und meine Schwester war im ersten Jahr am Institut. Sie und ich teilten uns ein Zimmer. Und so hat sie irgendwann spät in der Nacht angefangen, auf der Mittelwelle Radio zu hören. Es war die Voice of America und BBC. Natürlich wurde das Signal gestört, der Ton war schrecklich, aber es dauerte lange, bis ich einschlief und dabei hörte ich jedes Wort der „alternativen“ Nachrichten. Es gab Shows, in denen Passagen aus (Alexander) Solschenizyn und (Warlam) Schalamow vorgelesen wurden. Es gab Sendungen, die Neuigkeiten aus der Musik brachten. Und es tat sich eine ganze Welt auf, eine alternative Welt – mit anderen Nachrichten, einer anderen Herangehensweise an das Senden mit anderen Inhalten.
Vorwärts im Schneckentempo
UV: Betrachten wir die Gegenwart. Warum hat sich die Ukraine nicht so gut entwickelt, wie damals erträumt? Millionen Ukrainer haben schon den Westen bereist und mit eigenen Augen gesehen, wie moderne Gesellschaften sich selbst formen. Warum schaffen das die Ukrainer nicht?
Mangur: Nur wenige Menschen verstanden am Anfang des Weges der Freien Ukraine, wie viele innere und äußere Widersprüche auf einen neuen jungen Staat warteten. 1991, so scheint es mir, bot sich die Chance, radikale Reformen durchzuführen. Aber weder die Gesellschaft noch die neue politische Elite, die meist aus ehemaligen Kommunisten und Verwaltungsfunktionären bestand, waren bereit, die notwendigen Reformen durchzuführen. Das alte kommunistische System wurde nachgeahmt und an die neuen Bedingungen der unabhängigen Ukraine angepasst. Ehemalige Kommunisten und Komsomolzen schufen „einen neuen Staat“ des oligarchischen Typs, mit eigenen Regeln. In dieser Zeit (bis Anfang 2000) gab es Korruption, gesetzliches Chaos, eine kolossale Kluft zwischen der neuen Klasse der Neureichen und der Armut derjenigen, die von Monatslohn zu Monatslohn leben. Es ist erniedrigend, Lehrer, Militär oder gar Arzt zu sein – die Gehälter sind gering. Kinder träumen davon, Finanziers, Anwälte, Büroleiter, Abgeordnete zu sein.
Derartige „Veränderungen“ wurden von einem Teil der Ukrainer in den 2000er Jahren wahrgenommen, als ob Korruption, Gesetzlosigkeit der Behörden und Armut die Früchte der Unabhängigkeit der Ukraine wären. Es scheint einen Teil der Menschen zu geben, der anfängt, sich nach der „stabilen“ UdSSR und der „starken Hand“, die „Ordnung“ bringen wird, zu sehnen. Aber es gab damals keine grundlegenden Reformen.
Im Prinzip lebte das Land noch im sowjetischen Rechtsrahmen. Erst nach der Revolution der Würde, 24 Jahre nach der Unabhängigkeit, hat das ukrainische Parlament endlich ein Gesetz zur Entkommunisierung verabschiedet. Das hätte der erste Schritt sein müssen, schon vor 25 Jahren. Die kolossale Trägheit unserer Gesellschaft stimmt nicht gerade optimistisch. Zum Trost denkt man daran, dass Moses das jüdische Volk vierzig Jahre lang durch die Wüste führte, um ins Gelobte Land zu gelangen. Und wir sind jetzt erst dreißig und kommen aus der Wüste des Kommunismus, es liegt also noch alles vor uns. Und es ist möglich, dass der junge ukrainische Achilles die alte europäische Schildkröte einholen kann. Wenn es sich aus der erdrückenden Umarmung des „großen Bruders“ befreit, natürlich. Zumal zwei Generationen, junge Menschen der Unabhängigen Ukraine, bereits erwachsen geworden sind.
Warum führt Russland Krieg gegen die Ukraine?
UV: Haben Sie sich jemals vorgestellt, dass Russland einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine beginnen würde? Militärisch, medial, wirtschaftlich, moralisch? Warum tut Russland das? Wie lautet Ihre Vorhersage? Wann wird der Krieg enden? Oder will Putin die ganze Ukraine erobern? Wenn er das versuchen würde, was würde passieren? Würden die meisten Ukrainer sagen: Es ist uns egal, unter welcher Regierung wir arm sein werden? Oder ist die Freiheit und Unabhängigkeit schon zu süß, so dass die meisten Ukrainer definitiv nicht unter russischer Herrschaft leben wollen?
Mangur: In den frühen 90er Jahren glaubten nur die politisch versierten „Nationalisten“, dass ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine bevorstand. Das wäre den meisten Bewohnern damals gar nicht in den Sinn gekommen. Welcher Krieg? Wir sprechen die gleiche Sprache, hören die gleiche Musik, erzählen die gleichen Witze und trinken den gleichen Wodka. Viele von uns haben Verwandte, Freunde, Kollegen dort in Russland. Ja, wir haben zusammen im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Das wäre in etwa die Antwort der überwältigenden Mehrheit der Befragten. Viele gingen nach Moskau, um dort zu arbeiten. Verschiedene Musikstars kamen aus Moskau in die Ukraine und füllten die Hallen in allen größeren Städten der Ukraine. Russische Musik war überall zu hören, vom Radio bis zu den Bierbuden. Russisches Fernsehen – bitte, russische Seifenopern und Filme wurden gezeigt, und die Leute kauften sie. Wer hätte damals gedacht – „Krieg mit Russland!“? Erst 2008 hat man darüber nachgedacht, als Russland Georgien angegriffen hat. Und das waren nicht alle, sondern nur eine Minderheit. Warum tut Russland das? Russland ist ein Imperium. Die russische fundamentale imperiale Ansicht über Ukrainer, Russen und Weißrussen ist, dass sie alle ein Volk sind – russisch. Und Kyjiw, das ist demnach die angestammte Heimat dieser drei russischen Völker – Kyjiw ist die „Mutter der russischen Städte“. Putin hat kürzlich ein prächtiges Denkmal für den Kyjiwer Prinzen Wolodymyr eröffnet, der Russland (im Jahr 988) getauft hat. Die pompöse Eröffnung mit Patriarch Kirill und dem „höfischen Gefolge“ des Denkmals für den Kyjiwer Prinzen in Moskau, nahe dem Kreml! Ist das nicht absurd?
Und dort, in diesem imperialen Paradigma, ist alles logisch – es gibt ein dreieiniges, russisches Volk: Großrussen, Kleinrussen und Weißrussen. Aber es gibt keine Ukrainer und es gibt keine Ukraine – es gibt Kleinrussland als Teil Russlands und Kleinrussen als Teil des „russischen Volkes“. Der Zusammenbruch der UdSSR ist für Putin „die größte geopolitische Katastrophe“. Ich denke, das maximale Programm für ihn ist die Wiederherstellung des Russischen Reiches innerhalb seiner „historischen Grenzen“. Wobei laut kaiserlicher Kartographie die Ukraine mit Ausnahme von Galizien vollständig enthalten ist. Daher wird der Krieg erst dann enden, wenn das Imperium geschwächt ist und die Ukraine zumindest militärisch ein starker Staat wird. Oder stellen Sie sich eine solche „fantastische Geschichte“ vor, dass die Ukraine NATO-Mitglied wird. Bisher sind solche Aussichten in naher Zukunft nicht abzusehen. Deshalb wird der Krieg weitergehen. Die einzige Frage ist die Intensität und das Ausmaß der Feindseligkeiten dieses hybriden Krieges.
UV: Würde die Mehrheit der Ukrainer im Falle einer russischen Okkupation sagen: Es ist uns egal, unter welcher Regierung wir arm sind? Oder schmecken Freiheit und Unabhängigkeit schon zu süß, so dass die meisten Ukrainer definitiv nicht unter russischer Herrschaft leben wollen?
Mangur: Nein, ich muss sagen, dass in diesen 30 Jahren der Unabhängigkeit eine Zivilgesellschaft in der Ukraine gewachsen ist. Es gibt immer mehr Menschen, für die die Ukraine einen bestimmten Inhalt hat und nicht nur ein Gebiet ist, in dem sie zufällig geboren wurden und leben. Viele haben gekämpft, waren Freiwillige, viele sind in diesem russisch-ukrainischen Krieg gestorben ... Und natürlich gibt es in der Ukraine diese starke Gruppe von Patrioten, die niemals sagen wird, „es ist uns egal, wer die Regierung sein wird und wie die Ukraine heißen wird“.
UV: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Die Fragen stellte Christoph Brumme.
Oskar Mangur wurde 1970 in Saporischschja geboren, studierte Geschichte und arbeitete als Geschichtslehrer. Wegen der demotivierenden Bezahlung gab er diesen Beruf auf und bildete sich zum Fotografen aus. Seit 2016 arbeitet er auch als Freiwilliger für die NGO „Europäische Initiative Poltawa“.
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