Armut und Hoffnung
Soll die soziale Not überwunden werden, genügt es nicht, die Wirtschaft zu modernisieren. Auch die ukrainische Gesellschaft muss sich ändern. Doch der Aufbruch in die Moderne findet unter schwierigen Bedingungen statt.
Ein Auto des städtischen Wasserwerks fährt durch unser Wohnviertel. „Bezahlen Sie das Wasser!“, schallt es aus den Lautsprechern auf dem Autodach. „Das Wasser wird abgestellt, wenn Sie drei Monate nicht bezahlen!“ So übt man neuerdings moralischen Druck auf die Schuldner aus, erklärt meine Frau. Auch ihre Mutter kann die „kommunalen Gebühren“ Strom, Gas, Wasser und Heizung nicht immer bezahlen. In den Wintermonaten müsste sie dafür fast ihre gesamte Rente hergeben, umgerechnet etwa 65 Euro.
Ein Budget von einem bis zwei Euro pro Tag und Person für Nahrungsmittel ist für Rentner und für alleinstehende Mütter mit Kindern durchaus repräsentativ. Für umgerechnet einen Euro kann man beispielsweise 200 Gramm Käse und ein halbes Brot kaufen. Oder einen Liter Milch und zwei Brötchen mit Mohnkrümeln. Oder ein Kilogramm Kartoffeln, fünf Eier und einen Kohlkopf. Weißkohl ist neben Brot wahrscheinlich das wichtigste Nahrungsmittel. Ein mittlerer Kopf kostet 20 bis 30 Cent. Kohl ist gesund, man kann ihn vielseitig verwenden, ihn kochen, braten oder zu Salat verarbeiten. Möchte eine Großmutter ihrem Enkel den Spaß gönnen, 20 Minuten in einer Hüpfburg im Park herumzutoben, würde ihr Tagesbudget dafür in etwa reichen. Will das Kind noch eine Limonade bekommen, muss die Großmutter einen halben Tag hungern.
Präsident Selenskyj hat im Wahlkampf ein Ende der Epoche der Armut angekündigt. Doch es ist völlig unklar, wie das gelingen soll. Zwar sind die durchschnittlichen Bruttolöhne laut Angaben des Statistikamtes zuletzt um 18 Prozent und somit um etwa 63 Euro monatlich gestiegen, aber die Preise für Lebensmittel stiegen ebenfalls. Für Brot wurden die Preise um knapp 10 Prozent erhöht, für Obst gar um 18,8 Prozent, für Milch und Butter um 7,8 Prozent. Gemüse soll um 0,8 Prozent billiger geworden sein.
Krankheiten, Unfälle oder notwendige Operationen ruinieren oft ganze Familien. Da bittet in der Presse eine Familie um Spenden in Höhe von umgerechnet 1300 Euro, weil ihr Sohn und Vater eine lebensnotwendige Nierenoperation nicht bezahlen kann. Keine Krankenversicherung hilft, kein staatlicher Notfallfond.
Die Einheimischen kennen solche Tragödien zur Genüge. Da müssen einem Mann beide Beine amputiert werden, aber der Mann hatte überhaupt kein Geld, auch nicht für Medikamente. Also operiert man ihn zwar, doch gewährt ihm nur fünf Tage Aufenthalt im Krankenhaus. Wie er dann allein in seiner Wohnung überlebt, woher er Schmerzmittel bekommt, dafür ist niemand zuständig.
Streiks für bessere Arbeitsbedingungen oder höhere Löhne finden dennoch nur sehr selten statt. Für einen aussichtsreichen Streik muss eine Firma in einer strategisch wichtigen Position sein. In Poltawa haben beispielsweise zuletzt die Transportunternehmen des öffentlichen Nahverkehrs einige Tage lang gestreikt, um eine Erhöhung des Fahrpreises von 4 auf 5 Griwna durchzusetzen, etwa 4 Euro-Cent. In Verhandlungen mit den städtischen Behörden konnte ein Kompromiss erzielt werden, ursprünglich sollte eine Erhöhung auf 6 Griwna erreicht werden. Angesichts dieser harten sozialen Verhältnisse ist es nicht erstaunlich, dass die Schwarzmärkte blühen. Niemand kann kontrollieren, wie viele Kilogramm Gemüse jemand aus dem eigenen Garten verkauft. Im Notfall nennt man es Naturalwirtschaft, diese dient auch der Pflege von Freundschaften. Jemand angelt eben gern und verschenkt Fische, dafür bekommt er beispielsweise Kartoffeln, Speck oder Pilze.
Oft ist die Frage schwer zu beantworten, wo Mundraub endet und wo Korruption beginnt. Juristisch gesehen ist die Entscheidung zwar fast immer klar. Man soll die Gesetze einhalten. Man soll vom Notar eine Rechnung für die Beglaubigung eines Dokuments verlangen, auch wenn die Rechnung dann doppelt so teuer ist. Man soll beim Schaffner keine abgelaufene Fahrkarte kaufen, auch wenn man dann erst am nächsten Tag nach Hause fahren kann. Und der Busfahrer soll nicht einen „Zehnten“ einstecken, um seinen Kindern Spielzeug kaufen zu können.
Aber es gibt ja außer den juristischen Gesetzen noch die moralischen. Beide stimmen leider nicht immer überein, obwohl es so sein sollte. Oft kann die Befolgung der Gesetze sogar das Überleben gefährden und zu Hunger und Obdachlosigkeit führen. „Kann mir jemand vorwerfen, dass ich die Einnahmen für Nachhilfestunden nicht bei der Steuerbehörde melde, wenn mein offizielles Einkommen nicht für nötige Medikamente ausreicht?“ So die Frage eines kürzlich verstorbenen Dozenten für Philosophie. Er fuhr auf das Grundstück seiner Eltern, um dieses zum Verkauf vorzubereiten, um dann die nötigen Medikamente kaufen zu können. Doch dort erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt. Einer seiner Freunde vermutet, die Nutzer des Grundstücks hätten „nachgeholfen“, damit sie das Land behalten können. „Er hätte sowieso nicht mehr lange gelebt, und dort ernährt das Land eine Familie!“, tröstete sich der Freund.
Löhne, die ein bequemes Leben ermöglichen, zahlt man beispielsweise in der Gas- und Ölindustrie, im IT-Bereich und natürlich in der Schönheitschirurgie. Auch mit guten Fremdsprachenkenntnissen kann man in letzter Zeit recht hohe Einnahmen erzielen; Englisch für Chinesen ist ein neuer Trend. Virtuelle Sprachschulen garantieren Zuverlässigkeit und organisieren die Video-Konferenzen mit Schülern und Lehrkräften, und die Möglichkeiten für Geldüberweisungen sind äußerst vielfältig.
Eine der schlimmsten Auswirkungen der Armut ist allgemeine Passivität. Viel zu wenige Menschen engagieren sich ehrenamtlich in Bürgerinitiativen oder Vereinen. Denn zunächst sind die meisten Menschen mit dem eigenen Überleben beschäftigt. In Deutschland arbeiten 14 Millionen Menschen ehrenamtlich, fast jeder vierte Erwachsene; in der Ukraine sind es vielleicht zwei von hundert, sehr wohlwollend geschätzt. Einigkeit herzustellen, Interessen gemeinsam zu vertreten, das ist wie überall kompliziert. In der Ukraine umso mehr, weil diese Kultur in der Zeit der Sowjetunion pervertiert und ein Instrument der staatlichen Unterdrückung gewesen war. Deshalb ist die im Jahr 2015 kurz nach der Euro-Revolution eingeführte Dezentralisierungsreform so wichtig und erfolgreich. Die Kommunen erhalten nun viel mehr Geld als früher. Die Einnahmen lokaler Etats wuchsen von 68,6 Milliarden Griwna im Jahr 2015 auf 189,4 Milliarden Griwna im Jahr 2018, also beinahe um das Dreifache. Kleinere Gemeinden werden seitdem auch mit Hilfe finanzieller Anreize ermutigt, sich zu größeren Gemeinden zusammenzuschließen und so auch mehr Fördergelder und Steuereinnahmen für größere Projekte zu bekommen. Fast 40 Prozent der Gemeinden haben seitdem schon die Möglichkeiten zum Fusionieren genutzt. In der „Fiskal-Dezentralisierung“ liegt die Ukraine mittlerweile im EU-Durchschnitt.
Dank der Freiwilligkeit der Reform haben im ländlichen Bereich tausende Einwohnerversammlungen stattgefunden, in denen die Menschen ihre Wünsche und Interessen für die Gestaltung ihrer unmittelbaren Umgebung frei äußern konnten. Die Entscheidungsträger vor Ort werden mit größeren Vollmachten ausgestattet, es entstehen Arbeitskräfte in den Gemeinden. Die lokalen demokratischen Institutionen werden enorm gestärkt, die vor-sowjetischen Traditionen der Selbstverwaltung wieder zum Leben erweckt. Die sukzessive Einführung des Magdeburger Rechts mit seiner Betonung der städtischen Selbstverwaltung begann in westukrainischen Städten schließlich schon im 14. Jahrhundert, in Kyjiw im Jahre 1494, also kurz nachdem Kolumbus Amerika entdeckt hatte. Das gleiche Prinzip der Selbstorganisation bei Kultur gilt neuerdings auch in der Kultur. Eine mittelgroße Stadt wie Poltawa (200.000 Einwohner) erhält in den nächsten fünf Jahren 1,5 Milliarden Griwna für kulturelle Projekte – für die Sanierung von Bibliotheken, Museen und Theatern, für die Finanzierung kultureller Organisationen und Festivals, für
Informationskampagnen, die Unterstützung von Kreativteams und die Ausbildung von Kulturmanagern. Bisher wurden die meisten kulturelle Aktivitäten entweder ehrenamtlich oder von staatlichen Institutionen durchgeführt. Nun können viele basisdemokratische und zivilgesellschaftliche Initiativen finanziert werden. Vieles von dem, was in westlichen Gesellschaften selbstverständlich ist – Mitsprache, Basisdemokratie, Belohnung von Eigeninitiativen – muss in der Ukraine erst mühsam erprobt, oft geduldig erkämpft werden. Doch nach und nach findet die ukrainische Gesellschaft Anschluss an die europäische Moderne.
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