Die Präsidentschaftswahl als Gipfel politischer Prozesse
Keiner der 44 Kandidat*innen scheint den Erwartungen der ukrainischen Wähler*innen gerecht werden zu können. Trotzdem gibt es eine Reihe wichtiger Punkte, derer sich Beobachter bei den anstehenden Wahlen bewusst sein sollten.
Es wird gesagt, dass Wiktor Juschtschenko 2005, frisch gewählter Präsident der Ukraine, zum ersten Mal nach seinem Wahlsieg in Folge der Orangenen Revolution in sein Präsidentenbüro trat, dabei unsicher auf seine Mitarbeiter schaute und fragte: „Jetzt wo wir hier sind, was machen wir nun?“.
Von den 44 Kandidat*innen, die 2019 um das Amt des Präsidenten der Ukraine wetteifern, wären nur wenige in der Lage, diese Frage zu beantworten. Sie haben schlichtweg kein Programm und keinen Plan. Die überwältigende Mehrheit der Kandidaten braucht auch keinen. Nur sehr wenige sind mit ehrlicher Absicht in den Wahlkampf gezogen; die übrigen sind einfach nur zur Selbstprofilierung oder Ablenkung der Wähler da.
Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine wichtige Wahl. Es geht um die Bekräftigung der ukrainischen Entscheidung für Europa. Also darum, die immer noch allgegenwärtige Korruption auszurotten, das Problem einer nicht reformierten und nur langsam wachsenden Wirtschaft anzugehen und eine echte Friedenslösung im Donbas anzustreben.
Unglücklicherweise deutet wenig darauf hin, dass es einen Kandidaten oder eine Kandidatin gibt, der bzw. die den Erwartungen der Bürger geschweige denn des Westens gerecht werden könnte. Trotzdem gibt es eine Reihe wichtiger Punkte, derer man sich bei der Beobachtung des anstehenden Wahlspektakels bewusst sein sollte.
Große Unzufriedenheit bei den Wählerinnen und Wählern
Am Freitag, den 8. Februar, meldete die Wahlkommission 44 Kandidat*innen- 20 mehr Kandidaten als im bisherigen Rekordjahr 2004. Dabei dürfte die Wahl trotzdem auf ein Duell zwischen den zwei alten Erzrivalen hinauslaufen, dem Amtsinhaber Poroschenko und seiner Herausforderin Tymoschenko.
Um diese Konstellation besser zu verstehen, sollte man sich daran erinnern, dass die Beiden seit Ende der 1990er Jahre in der ukrainischen Politik sind. Beide entstammen einer Politiker-Generation, die auf dramatische Weise nicht in der Lage war, nennenswerte Veränderungen anzustoßen. Das erklärt den Drang der Menschen an neuen Gesichtern.
An der Wirtschaftsfront ist das jährliche Prokopf-Einkommen der Haushalte in der Ukraine im letzten Jahr um 45 Prozent unter den Rekordwert vom Dezember 2014 gesunken. Vereinfacht gesagt, geht es vielen Ukrainern wirtschaftlich schlechter als vor 5 Jahren. Das Niveau der Korruption hingegen bleibt alarmierend: Dem Index zur Wahrnehmung von Korruption von Transparency International von 2018 zufolge liegt das Land auf dem 120. Platz; am unteren Ende der Skala zusammen mit Mali, Liberia und Malawi. Das stellt für Ukrainer und ausländische Investoren, die in dem Land tätig werden wollen, eine reale Herausforderung dar.
Diese Faktoren veranschaulichen, warum keiner der beiden führenden Kandidaten einen überzeugenden Vorsprung hat und beide nur geringe Zustimmungsraten aufweisen. Weil viele Wähler desillusioniert sind, gibt es Raum für Populisten bzw. einen Kandidaten von außerhalb des Systems. Der Drang nach neuen Gesichtern erklärt die schnell gewachsenen Umfragewerte von Wolodymyr Selenskyj, dem zum Politiker gewandelten Entertainer.
Die Stabilität der Ukraine steht auf dem Spiel
Wahlen in der Ukraine wurden in der Vergangenheit oft von Wahlbetrug begleitet. Daher ist es für das Land von äußerster Wichtigkeit, dass diese Wahlen, wer auch immer der Sieger sein wird, nicht auf der Straße entschieden werden, sondern durch die Wähler*innen in den Wahllokalen. Das könnte sich als wichtiger Test für die junge Demokratie erweisen, da es bei dieser Wahl eine Reihe Kräfte gibt, die zwar nicht in der Lage sind, die Wahlen zu gewinnen, die aber sehr wohl das Land destabilisieren können.
Es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine in näherer Zukunft tiefgreifende Reformen umsetzt
Sollte Poroschenko die Wahl gewinnen, wird er vermutlich den gleichen langsamen Reformkurs verfolgen wie bisher. In diesem Falle würde sich an der Art und Weise wie Politik gemacht wird und wie diese mit der Wirtschaft verbunden ist wenig ändern. Auch für die Wähler würde sich substantiell wenig ändern. Sollte Julia Tymoschenko die Wahlen für sich entscheiden, wären die gleichen Ansätze in Politik und Wirtschaft zu erwarten, wie sie nach der Orangen Revolution zu beobachten waren. Der einzige Unterschied könnte darin bestehen, dass Tymoschenkos Handlungsspielraum, ihre zum Teil populistischen Wahlversprechen umzusetzen, begrenzt ist. Sie hatte zuletzt deutliche Erhöhungen der Sozialausgaben und weitreichende Verfassungsänderungen hin zu einer parlamentarischen Demokratie versprochen.
Was Selenskyj betrifft, so scheint er gegenwärtig nicht zu wissen, was er mit der Wirtschaft tun soll; das Gleiche gilt übrigens auch für andere Politikfelder. Zudem hat er immer noch keine erfahrenen Berater um sich geschart, an die er sich wenden könnte- abgesehen natürlich von Ihor Kolomojskyj, dem Oligarchen, der in Selenskyjs Wahlkampf omnipräsent ist und ihn mit Bodyguards, Wahlkampfpersonal und medialer Hofberichterstattung seines mächtigen Fernsehsenders versorgt.
Die Ukraine sollte ihren proeuropäischen Kurs nicht ändern, wird aber großen Schwierigkeiten konfrontiert werden
Wahlen in der Ukraine mündeten angesichts des Zickzack-Kurses zwischen Europa und Russland oft in einem Wechsel der Entwicklungsbahn. Aufgrund der Spaltungen innerhalb des prorussischen Lagers in der Ukraine ist es diesmal höchst unwahrscheinlich, dass die offen prorussischen Kräfte die Wahlen für sich entscheiden können. Falls Poroschenko siegt, dürfte das Land seinen gegenwärtigen Kurs einer allmählichen Integration mit Europa fortsetzen. Poroschenko hatte zuletzt angekündigt 2023 einen Beitritt zur EU und NATO beantragen zu wollen. Derzeit deutet nichts darauf hin, dass Europa in absehbarer Zukunft der Ukraine eine Beitrittsperspektive geben wird. Darüber hinaus entwickelte sich unter Poroschenko der Krieg im Donbas zu einer Sackgasse. Im Gegensatz zu anderen von Russland geförderten eingefrorenen Konflikten kommt es fast wöchentlich zu Verwundeten und Toten. Diese Entwicklung dürfte sich bei einem Sieg Poroschenkos fortsetzen.
Tymoschenkos Beziehung zu Russland ist stärker ambivalent. Sie hatte früher, unter anderem durch Mauscheleien mit Gasgeschäften mit Russland, ein Vermögen gemacht. Daher scheint sie eher zwischen den Stühlen zu sitzen. Einige Beobachter gehen trotz ihrer strammen pro-EU und pro-NATO Rhetorik davon aus, dass sie opportunistische Beziehungen mit Russland anstreben könnte.
Selenskyjs Haltung zu Russland bleibt unklar. Der russophile Komiker könnte versuchen, wieder Kontakte mit Russland aufzunehmen; oder er könnte experimentieren. Es wäre zu erwarten, dass er angesichts seiner mangelnden Erfahrung – willentlich oder nicht – potentiell gefährliche Fehler im Umgang mit Russland machen wird.
Es wird eine organisierte proeuropäische Opposition gebraucht
Im aktuellen Wahlkampf wird eines klarer denn je: Es mangelt an einem schlagkräftigen Kopf der prowestlichen und liberalen Wählergruppe. Umfragen deuten darauf hin, dass die ukrainischen Wähler sich eine Demokratie im westlichen Stil, politische Transparenz und freie Märkte wünschen. Traurigerweise gibt es keine schlagkräftige liberale Bewegung, die den Namen verdient hätte. Vielmehr schwächen die bestehenden Gruppen einander, indem alle gegeneinander bei den Wahlen antreten und um die gleichen Wähler*innen buhlen. Das führt zu einer Art politischen Inflation. In diesem Teil des politischen Spektrums gibt es derzeit fast mehr politische Gruppen als progressive Ideen. Zudem mangelt es den Anführern dieser Gruppen an den nötigen politischen und rhetorischen Fähigkeiten, Wahlkämpfe für sich zu entscheiden. Appelle des Westens, sich endlich zusammenzuschließen, wurden geflissentlich ignoriert.
Trotzdem gibt es mittelfristig Grund zur Hoffnung. Durch die vielfältigen Aktivitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft und befördert durch die Dezentralisierung entsteht in vielen Teilen des Landes derzeit eine neue junge politische Elite, die sich bereits in Teilen in der lokalen Politik engagiert. NGOs sollten deswegen weiter daran arbeiten junge Führungskräfte auszubilden, die über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, politische Verantwortung auf nationaler Ebene zu übernehmen, wenn sie die Möglichkeit dazu bekommen. Gleichzeitig besteht ihre Aufgabe darin, sich für jene politischen und wirtschaftlichen Reformen stark zu machen, die das Land so dringend braucht.
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