Ukrainische Zivilgesellschaft in den Zeiten von COVID-19
In den Zeiten der Corona-Pandemie haben viele Träger der ukrainischen Zivilgesellschaft ihre Arbeit schnell in kreativer Weise verändert. Nach wie vor agiert die fragile Zivilgesellschaft, aber unter sehr schwierigen Bedingungen. Von Oleksandra Bienert
Die Reaktion der ukrainischen Zivilgesellschaft auf die Gefahr durch COVID-19 erfolgte beeindruckend schnell. Das ukrainische Gesundheitssystem befindet sich in einem für die Pandemie komplett unvorbereiteten Zustand. Es mangelt so ziemlich an allem, an finanziellen Resourcen, Ärzten und Pflegepersonal, Informationen und Transparenz, medizinischen Geräten sowie unzureichender Schutzkleidung und ‑masken. In dieser Situation hat die Zivilgesellschaft bereits am Anfang der Quarantäne viele Aufgaben übernommen: Gelder für medizinische Geräte zu sammeln, neue soziale Hilfeleistungen in der Corona-Zeit anzubieten, Ärzte zur Arbeit zu fahren, Hilfe für Obdachlose und Geflüchtete anzubieten oder über Arbeitsrechte aufzuklären. Deswegen hat eine Aktivistin eine Übersicht (auf Ukrainisch) von diesen in Kürze ins Leben gerufenen Initiativen zusammengestellt.
Einige Menschenrechtsorganisationen nahmen ebenfalls das Thema der gegenwärtigen Pandemie in ihre Arbeit mit auf. So hat die NGO „Vostok SOS“ einen Monitoring der desaströsen Lage des Gesundheitssystems in der ostukrainischen Region Luhansk durchgeführt und Empfehlungen dazu veröffentlicht. Die Pandemie kann das Kriegsgebiet und die östliche Ukraine noch schwerer treffen als den Rest der Ukraine.
Neue Formen des Widerstands und Empowerment
Ebenfalls in Windeseile wird zurzeit in der Ukraine nach neuen Formen des Widerstandes und Engagements gesucht. So fand am 27. März ein erster großer Online-Protest statt. Tausend Menschen waren dabei – Kunstschaffende, AktivistInnen, KulturträgerInnen, FilmregisseurInnen, JournalistInnen, Abgeordnete. Noch mehr Menschen – laut Veranstaltern, rund zehn tausend Personen – hatten den Wunsch am Protest teilzunehmen und konnten es nur bedingt: der Online-Dienst Zoom lässt nur 1.000 Teilnehmende gleichzeitig an einem Meeting zu. Unter dem Motto „Nein zum Vernichten der Kultur!“ haben die Kulturschaffenden so gegen die vom ukrainischen Finanzministerium zuvor angekündigten drastischen Kürzungen der Ausgaben für Kultur zugunsten des gesundheitlichen Bereichs protestiert. Fast jeder der Teilnehmenden, die zu Wort kamen, erwähnte in seiner Ansprache jene Wucht, die von diesem gemeinsamen Handeln gerade ausging. Es ist ein Präzedenzfall – zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine fand so ein großer Protest online statt.
Viele NGOs, die sich mit Empowerment beschäftigen und/oder Bildungsarbeit machen, haben ebenfalls ihre Arbeit modifiziert. Der Bildungsträger „Insha Osvita“ befasste sich kurz nach der Einführung der Quarantäne mit neuen Formen des Widerstandes. Sie starteten gleich mehrere Online-Seminare: „Zivilgesellschaftlicher Widerstand in den Zeiten der Pandemie“, „Wie können wir in dieser Zeit nicht nur reagieren, sondern auch pro-aktiv sein, sich und eigene Organisation neu erfinden?“, „Wie unterstütze ich mein Team online?“. Mit Empowerment beschäftigt sich ebenfalls die Plattform „EUprostir“, die einen Online-Kurs „Kommunikation in der Krise“ für die NGOs startete. Ein Team von Freiwilligen, die aus verschiedenen Organisationen kommen, hat zudem ein Handbuch zur Selbstorganisation entworfen, „Geschichten und Ratgeber für soziale Stabilität in Zeiten von Corona, Pandemie und Krisen“.
Der Bildungsträger „Tolerance Space“ hat als Antwort auf die globale Frage „Mensch und Wahl in den extremen Zeiten“, ein Seminar dazu für die MultiplikatorInnen durchgeführt. Ein wichtiges Fazit war – Auch, wenn wir nicht wissen, wie die Reaktionen auf eine extreme Situation ausfallen, sind wir trotzdem angehalten verantwortlich zu handeln. Verantwortliches Handeln bedeutet nicht nur ‚Heldentaten‘ vollbringen, sondern vor allem Unterstützung für die nächste Umgebung – ob im Rahmen einer Familie, eines Hauses oder eines Stadtteils.
Beeindruckend sind die Flexibilität sowie die produktive Haltung, mit der neue Angebote von ukrainischen NGOs in dieser schwierigen Zeit entstehen. Diese Angebote bergen auch Antworten auf die Fragen, die zurzeit viele von uns beschäftigen, bspw. wie gehen wir in der Zeit der Pandemie mit den Werten einer offenen Welt um? Die NGO „STAN“, eine Organisation aus Luhansk, die wegen des Krieges in der Ostukraine nach Iwano-Frankiwsk fliehen musste, hat als Antwort darauf das Projekt „Globales Teetrinken“ ins Leben gerufen. Das Projekt wählte als thematischen Rahmen die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“. AktivistInnen aus der Ukraine wurden dabei „zum Online-Tee“ bei jemanden aus anderem anderen Land eingeladen. So fanden mittlerweile Gespräche mit AktivistInnen aus Amman, Bischkek, Zagreb, London, Mailand, Minsk und Taschkent statt. Manchmal endete so ein Online-Teetrinken sogar mit gemeinsamen Singen.
Herausforderungen und die Kraft, diese zu meistern
Auch, wenn einige Projekte nicht wie ursprünglich geplant stattfinden können bzw. verschoben oder abgesagt wurden, sind viele Träger mit ihren Projekten online gegangen. Die Menge und die Qualität der Angebote, die nun online gestellt wurden, beweist die Entwicklung der Zivilgesellschaft nach dem Maidan – die trotz des Krieges, Burnouts und schwierigen Bedingungen weiterhin arbeitet. Dennoch bleibt diese Zivilgesellschaft sehr fragil. Nach Angaben einer Umfrage, die vom 19. bis zum 23. März 2020 auf Prostir.UA zur Reaktion der Zivilgesellschaft auf COVID-19 unter 250 Organisationen durchgeführt wurde, werden der schwierige Wiederaufbau der Einrichtungen, eine neue Welle von Burnouts, der Weggang des Personals sowie der Verlust des Vertrauens seites der Bevölkerung als größte Herausforderungen der nächsten Zeit genannt. Fast ein Viertel der Befragten sieht für sich die Aufgabe, nach neuen Formen des Engagements zu suchen sowie die Arbeit der Freiwilligen zu koordinieren. Für ein Drittel der Befragten wäre die Unterstützung bestehender Initiativen wichtig.
Die oben beschriebene Kraft, mit der die ukrainische Zivilgesellschaft bereits jetzt mit der Krise umgeht, liegt vielleicht nicht nur am Erbe des Maidan, sondern auch an dem, was Anna Lentschowska, die das Seminar von „Tolerance Space“ leitete, als „Gedächtnis“ bezeichnete. Ein (kollektives) Gedächtnis von Menschen, die auf dem Territorium der Ukraine über Generationen hindurch durch Kriege, Hungersnöte, den Holocaust, Deportationen, Zwangskollektivierungen, Enteignungen, Repressionen, Verfolgungen, Revolutionen und eine fast ununterbrochene Instabilität gegangen sind. „Irgendwo in unserem Gedächtnis“, meinte sie am Ende ihres Seminars, „haben wir diese Fähigkeit zum Überleben. Wir sind Nachfahren all derer, die überlebt haben und wir tragen diese Überlebensstrategien in uns. Vielleicht gibt es etwas in Ihren Familien, die Strategien des Überlebens zurzeit anwenden müssen. Vielleicht aber haben Sie auf diese Strategien geschaut und ein neues (Überlebens-)Modell entworfen. Dieses Modell werden wir an unsere Kinder weiter geben.“
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