Drei Gesich­ter der Solidarität

Foto: IMAGO /​ Michael Gstettenbauer

Was können wir in Deutsch­land für die Men­schen in der Ukraine und die­je­ni­gen, die die Flucht zu uns geschafft haben, tun? Ein Kom­men­tar von Olek­san­dra Bienert

Diese Woche gingen mir Bilder von zwei Frauen nicht aus dem Kopf: Eine Frau habe ich im Zelt am Ber­li­ner Haupt­bahn­hof kennen gelernt, wo Men­schen ankom­men, die gerade eine Ruhe­pause nach der Fahrt aus der Ukraine brau­chen, um wei­ter­zu­fah­ren. Sie hieß Natalya, war 48 und kam mit ihrem zehn­jäh­ri­gen Sohn Vasyl aus der kleinen Stadt Izyum im Charkiw-Gebiet nach Deutsch­land. Sie hum­pelte und war voller Leben, voller Energie, obwohl so erschöpft von der langen Flucht und Über­fahrt. Sie erzählte mir, dass sie drei Söhne hat. Ihre zwei älteren sind in der ukrai­ni­schen Armee. Der eine ist vor Kurzem gefal­len, mit dem zweiten hat sie seit Wochen keinen Kontakt mehr und weiß nicht, was mit ihm pas­siert ist. „Ich wollte wenigs­tens den Kleinen retten“, sagte sie mir. Izyum war umkämpft, als sie von dort flüch­te­ten. Seit dem 2. April ist die Stadt unter tem­po­rä­rer rus­si­scher Okkupation.

Die andere Frau lernte ich kennen, als ich ver­sucht habe, das Ankom­men in Berlin für sie und ihre Kinder zu erleich­tern. Sie hieß Svitlana, ist Leh­re­rin, enga­gierte sich in ihrer Stadt für Kinder mit Beein­träch­ti­gung und konnte dem Mas­sa­ker in Butscha ent­kom­men. Wir haben uns mehr­mals getrof­fen, und immer wieder über­raschte sie mich durch ihre innere Stärke. Am Ende unseres ersten Gesprächs sagte sie mir:

„Wir dürfen alle keine Angst vor Putin haben. Wir müssen ihn bekämp­fen. Die Ukraine wird siegen. Schließ­lich geht es um unsere Existenz.“ 

Einmal im März, als Butscha noch von der rus­si­schen Armee okku­piert war, hat sie unser Treffen kurz­fris­tig abge­sagt und schrieb mir: „Ich kann jetzt an nichts anderes denken, als an Butscha. Ich weiß nicht, ob meine engen Freunde noch leben. Wir haben seit Wochen keinen Kontakt mehr gehabt.“ Zuletzt erzählte Svitlana mir, sie geht zu einem Vor­stel­lungs­ge­spräch – als Lehrerin.

Was können wir nun in Deutsch­land für die Men­schen in der Ukraine und die­je­ni­gen, die die Flucht zu uns geschafft haben, tun? Der Angriffs­krieg wurde am 3. April von rus­si­scher Seite in einem Bericht der staat­li­chen Nach­rich­ten­agen­tur RIA Novosti bekräf­tigt: mit der kon­kre­ten, schrift­li­chen Absichts­er­klä­rung zum Völ­ker­mord und der Aus­lö­schung von ukrai­ni­scher Kultur und Iden­ti­tät. Die Antwort darauf kann nur die größt­mög­li­che Soli­da­ri­tät mit Opfern sein. Diese Soli­da­ri­tät hat viele Gesich­ter. Ich möchte drei davon benennen.

Das erste Gesicht beinhal­tet vieles, was in Deutsch­land bereits getan wird. Wir als ukrai­ni­sche Com­mu­nity sind sprach­los und über­wäl­tigt von der Soli­da­ri­tät, von jedem Ein­zel­nen, der helfen möchte, Hilfe anbie­tet. Von allen, die zurzeit ver­su­chen Geflüch­tete aus der Ukraine in Arbeit zu bringen, die ver­ste­hen, wie wichtig es ist, Men­schen wieder eine Mög­lich­keit zu geben als Subjekt eigenen Han­delns zu agieren und nicht nur in der pas­si­ven Rolle einer geflüch­te­ten Person, eines Opfers, zu sein. Wie dies nun auch im Fall der Leh­re­rin Svitlana ist. Wir sind allen unglaub­lich dankbar für diese Soli­da­ri­tät, die wir jeden Tag aufs Neue erleben.

Das zweite Gesicht dieser Soli­da­ri­tät ist ein höchst sen­si­bler Umgang der deut­schen Bevöl­ke­rung und Politik mit der Situa­tion. Zur Zeit der Mas­sa­ker, der aktiven Kampf­hand­lun­gen, sind keine Ver­söh­nungs- oder Dia­log­pro­jekte zwi­schen der Ukraine und Russ­land gefragt. Ich meine es ernst: Es ist nicht an der Zeit, irgend­wel­che gemein­sa­men Auf­tritte von rus­si­schen und ukrai­ni­schen Künstler_​innen zu orga­ni­sie­ren. Trau­ma­ti­sierte Men­schen, die aus der Ukraine ankom­men und einen Hasen zur Hälfte in rus­si­schen und zur Hälfte in ukrai­ni­schen Farben gehüllt, in der Mitte durch ein weißes Herz­chen ver­bun­den, sehen – wie es neulich im Frei­bur­ger Bahnhof der Fall war – werden nur wieder traumatisiert.

Solange die rus­si­sche Armee in der Ukraine wei­ter­hin Men­schen tötet, Zivilist_​innen mit Kopf­schuss ermor­det, Frauen ver­ge­wal­tigt, Men­schen foltert, solange Men­schen in der Ukraine nicht die Wahr­heit über ihre Toten erfah­ren, solange Kriegs­ver­bre­chen nicht auf­ge­ar­bei­tet und bestraft werden, kann es nicht um Ver­söh­nung gehen. 

Das dritte Gesicht der Soli­da­ri­tät ist die deut­sche Politik gegen­über der Ukraine. Jahr­zehn­te­lang hat man in Deutsch­land eine kata­stro­phale Russ­land­po­li­tik betrie­ben, die unter anderem durch den Bau von Nord Stream I und II die Sicher­heit der Ukraine unter­mi­nierte. Mit Mil­li­ar­den, die wir in Deutsch­land für Öl und Gas aus Russ­land bezahlt haben und immer noch zahlen, sub­ven­tio­nie­ren wir die rus­si­sche Armee und diesen Krieg. Die jetzige Situa­tion ist mit deut­scher Unter­stüt­zung entstanden.

Das dritte Gesicht von der Soli­da­ri­tät ist daher die für manche noch unan­ge­nehme Wahr­heit, dass die Ukraine drin­gend zur Selbst­ver­tei­di­gung die Lie­fe­rung deut­scher schwe­rer Waffen braucht. Diese Waffen werden Natalya ihren Sohn aus Izyum nicht zurück­ge­ben. Aber mit dieser Unter­stüt­zung können rus­si­sche Truppen zum Abzug gezwun­gen werden und es können weitere Kriegs­ver­bre­chen zumin­dest zu einem Teil, wo es noch möglich ist, ver­hin­dert werden.

Dieser Artikel ist zunächst im Forum Migra­tion Mai 2022 vom DGB Bil­dungs­werk e.V erschienen.

Textende

Portrait von Oleksandra Bienert

Olek­san­dra Bienert ist eine in der Ukraine gebo­rene und in Berlin lebende For­sche­rin und Aktivistin.

 

 

 

 

 

 

 

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