Drei Gesichter der Solidarität
Was können wir in Deutschland für die Menschen in der Ukraine und diejenigen, die die Flucht zu uns geschafft haben, tun? Ein Kommentar von Oleksandra Bienert
Diese Woche gingen mir Bilder von zwei Frauen nicht aus dem Kopf: Eine Frau habe ich im Zelt am Berliner Hauptbahnhof kennen gelernt, wo Menschen ankommen, die gerade eine Ruhepause nach der Fahrt aus der Ukraine brauchen, um weiterzufahren. Sie hieß Natalya, war 48 und kam mit ihrem zehnjährigen Sohn Vasyl aus der kleinen Stadt Izyum im Charkiw-Gebiet nach Deutschland. Sie humpelte und war voller Leben, voller Energie, obwohl so erschöpft von der langen Flucht und Überfahrt. Sie erzählte mir, dass sie drei Söhne hat. Ihre zwei älteren sind in der ukrainischen Armee. Der eine ist vor Kurzem gefallen, mit dem zweiten hat sie seit Wochen keinen Kontakt mehr und weiß nicht, was mit ihm passiert ist. „Ich wollte wenigstens den Kleinen retten“, sagte sie mir. Izyum war umkämpft, als sie von dort flüchteten. Seit dem 2. April ist die Stadt unter temporärer russischer Okkupation.
Die andere Frau lernte ich kennen, als ich versucht habe, das Ankommen in Berlin für sie und ihre Kinder zu erleichtern. Sie hieß Svitlana, ist Lehrerin, engagierte sich in ihrer Stadt für Kinder mit Beeinträchtigung und konnte dem Massaker in Butscha entkommen. Wir haben uns mehrmals getroffen, und immer wieder überraschte sie mich durch ihre innere Stärke. Am Ende unseres ersten Gesprächs sagte sie mir:
„Wir dürfen alle keine Angst vor Putin haben. Wir müssen ihn bekämpfen. Die Ukraine wird siegen. Schließlich geht es um unsere Existenz.“
Einmal im März, als Butscha noch von der russischen Armee okkupiert war, hat sie unser Treffen kurzfristig abgesagt und schrieb mir: „Ich kann jetzt an nichts anderes denken, als an Butscha. Ich weiß nicht, ob meine engen Freunde noch leben. Wir haben seit Wochen keinen Kontakt mehr gehabt.“ Zuletzt erzählte Svitlana mir, sie geht zu einem Vorstellungsgespräch – als Lehrerin.
Was können wir nun in Deutschland für die Menschen in der Ukraine und diejenigen, die die Flucht zu uns geschafft haben, tun? Der Angriffskrieg wurde am 3. April von russischer Seite in einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Novosti bekräftigt: mit der konkreten, schriftlichen Absichtserklärung zum Völkermord und der Auslöschung von ukrainischer Kultur und Identität. Die Antwort darauf kann nur die größtmögliche Solidarität mit Opfern sein. Diese Solidarität hat viele Gesichter. Ich möchte drei davon benennen.
Das erste Gesicht beinhaltet vieles, was in Deutschland bereits getan wird. Wir als ukrainische Community sind sprachlos und überwältigt von der Solidarität, von jedem Einzelnen, der helfen möchte, Hilfe anbietet. Von allen, die zurzeit versuchen Geflüchtete aus der Ukraine in Arbeit zu bringen, die verstehen, wie wichtig es ist, Menschen wieder eine Möglichkeit zu geben als Subjekt eigenen Handelns zu agieren und nicht nur in der passiven Rolle einer geflüchteten Person, eines Opfers, zu sein. Wie dies nun auch im Fall der Lehrerin Svitlana ist. Wir sind allen unglaublich dankbar für diese Solidarität, die wir jeden Tag aufs Neue erleben.
Das zweite Gesicht dieser Solidarität ist ein höchst sensibler Umgang der deutschen Bevölkerung und Politik mit der Situation. Zur Zeit der Massaker, der aktiven Kampfhandlungen, sind keine Versöhnungs- oder Dialogprojekte zwischen der Ukraine und Russland gefragt. Ich meine es ernst: Es ist nicht an der Zeit, irgendwelche gemeinsamen Auftritte von russischen und ukrainischen Künstler_innen zu organisieren. Traumatisierte Menschen, die aus der Ukraine ankommen und einen Hasen zur Hälfte in russischen und zur Hälfte in ukrainischen Farben gehüllt, in der Mitte durch ein weißes Herzchen verbunden, sehen – wie es neulich im Freiburger Bahnhof der Fall war – werden nur wieder traumatisiert.
Solange die russische Armee in der Ukraine weiterhin Menschen tötet, Zivilist_innen mit Kopfschuss ermordet, Frauen vergewaltigt, Menschen foltert, solange Menschen in der Ukraine nicht die Wahrheit über ihre Toten erfahren, solange Kriegsverbrechen nicht aufgearbeitet und bestraft werden, kann es nicht um Versöhnung gehen.
Das dritte Gesicht der Solidarität ist die deutsche Politik gegenüber der Ukraine. Jahrzehntelang hat man in Deutschland eine katastrophale Russlandpolitik betrieben, die unter anderem durch den Bau von Nord Stream I und II die Sicherheit der Ukraine unterminierte. Mit Milliarden, die wir in Deutschland für Öl und Gas aus Russland bezahlt haben und immer noch zahlen, subventionieren wir die russische Armee und diesen Krieg. Die jetzige Situation ist mit deutscher Unterstützung entstanden.
Das dritte Gesicht von der Solidarität ist daher die für manche noch unangenehme Wahrheit, dass die Ukraine dringend zur Selbstverteidigung die Lieferung deutscher schwerer Waffen braucht. Diese Waffen werden Natalya ihren Sohn aus Izyum nicht zurückgeben. Aber mit dieser Unterstützung können russische Truppen zum Abzug gezwungen werden und es können weitere Kriegsverbrechen zumindest zu einem Teil, wo es noch möglich ist, verhindert werden.
Dieser Artikel ist zunächst im Forum Migration Mai 2022 vom DGB Bildungswerk e.V erschienen.
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