Gefan­gen­schaft und Flucht

© Pri­va­tes Archiv /​​​ Bida

Oleksii Bida musste seine Hei­mat­stadt Luhansk wegen des Krieges 2014 ver­las­sen. Zuvor war er einer der Mit­or­ga­ni­sa­to­ren des Luhans­ker Euro­mai­dan und wurde bei der Beset­zung des Luhans­ker Mili­tär­ko­mis­sa­ri­ats von Kämp­fern gefan­gen genom­men und schwer miss­han­delt. Für unsere Reihe „Fluchtgschich­ten“ ver­öf­fent­li­chen wir seine Geschichte, Gedan­ken und Ansichten.

Der Euro­mai­dan in Luhansk begann mit zehn Leuten und drei Orga­ni­sa­tio­nen – „Pro­gress“, „Bund der Archäo­lo­gen“ und das „Ost­ukrai­ni­sche Zentrum für Bür­ger­initia­ti­ven“ – mit denen wir flache Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren schufen. Die Arbeit war nach Tätig­kei­ten auf­ge­teilt. Min­des­tens einmal pro Woche orga­ni­sier­ten wir Demons­tra­tio­nen, zu denen wir über eine Face­book­gruppe aufriefen.

Meine Aufgabe war die Orga­ni­sa­tion, die Ver­wal­tung der Gruppe sowie Kom­mu­ni­ka­tion mit Behör­den. Dort waren einige Leute auf unserer Seite und warnten uns vor Pro­vo­ka­tio­nen gegen uns. Zwi­schen Charkiw, Donezk und Luhansk pen­del­ten damals Busse mit „Akti­vis­ten“. Dank der War­nun­gen aus der Stadt­ver­wal­tung konnten wir Zusam­men­stöße mit diesen Leuten bzw Über­fälle auf unsere Leute vermeiden.

Es wurden auch Gegen­pro­teste orga­ni­siert. Dort standen dann lokale Penner, Alko­ho­li­ker und bezahlte Omas, ebenso wie Anhän­ger der Oppo­si­ti­ons­par­teien. Zah­len­mä­ßig waren die ver­gli­chen mit unseren Pro­tes­ten immer in der Unter­zahl. Auch ihre Stör­ver­su­che mit Rauch­bom­ben oder Farb­beu­teln wirkten wenig bedrohlich.

Nach der am 27. Februar 2014 begon­ne­nen Beset­zung der Krim ver­sam­mel­ten wir uns am 6. März und es kamen sogar jene, die vorher Angst hatten, auf die Straße zu gehen. Am 9. März kam es bei einer Aktion zum Jah­res­tag von Taras Schewtschen­kos Gedicht­samm­lung „Kobsar“ zu ersten hef­ti­gen Zusam­men­stö­ßen mit Gegen­de­mons­tran­ten aus Russ­land, deren Autos und Busse mit rus­si­schen Num­mern­schil­dern in der ganzen Stadt zu sehen waren. Schließ­lich wurde Euro­mai­dan-Akti­vis­ten ver­prü­gelt und die Gebiets­ver­wal­tung besetzt. Uns wurde klar, dass etwas pas­sie­ren musste.

Keiner von uns auf dem Maidan war zu einem bewaff­ne­ten Kon­flikt bereit. Wir alle waren gegen Mili­ta­ris­mus ein­ge­stellt und standen für einen gewalt­lo­sen Wider­stand. Aus heu­ti­ger Sicht denke ich, dass wir zu ers­te­rem Mittel hätten greifen sollen. Wenn einem Gewalt ent­ge­gen­schlägt, muss man sich ihr ent­ge­gen­stel­len. Denn wenn niemand Wider­stand leistet, führt dies zu noch mehr Gewalt. 

Nach dem 9. März ging es bergab. Immer mehr Ver­wal­tungs­ge­bäude wurde besetzt und die anti-Maidan-Pro­teste bekamen Ober­was­ser. Unsere letzte Demons­tra­tion war am 28. April. Danach wurde es zu gefähr­lich auf die Straße zu gehen, denn im besetz­ten SBU-Gebäude wurden Waffen einfach gegen Aus­weis­ko­pien aus­ge­ge­ben. In den Straßen waren Betrun­kene mit Kalasch­ni­kows, die Akti­vis­ten ver­folg­ten und Listen anfer­tig­ten. Es wurde klar, dass man uns angrei­fen wollte. Wir began­nen unsere Flucht zu planen. Wir packten Not­kof­fer und bespra­chen, wer wie aus der Stadt käme und wo man über­nach­ten könne, wenn das eigene Haus beschat­tet würde.

Am 3. Mai 2014 geriet ich in Gefan­gen­schaft. Wir ver­such­ten Kontakt zum ukrai­ni­schen Militär her­zu­stel­len und die Sol­da­ten mit Lebens­mit­teln zu ver­sor­gen, denn der Zustand der Armee war desolat. Unter denen, die wir unter­stütz­ten, war ein Spe­zi­al­kräf­te­ba­tail­lon aus Tscher­niwzi. Als dieses Batail­lon nach Luhansk verlegt wurde, kam es zu Pro­vo­ka­tio­nen nach dem bekann­ten „Krim-Sze­na­rio“. Meist ältere Ein­hei­mi­sche pro­tes­tier­ten mit Parolen, während hinter ihnen bewaff­nete Kämpfer standen. Was wie ein fried­li­cher Protest aussah, sollte aber Warn­schüsse oder sogar Opfer unter der Zivil­be­völ­ke­rung pro­vo­zie­ren. Die Sol­da­ten riefen mich an und baten mich zu kommen um zu schauen, was rund um das Mili­tär­ko­mis­sa­riat, in dem sie sta­tio­niert waren, passierte.

Als ich dort ange­kom­men aus dem Auto stieg, wurde ich erkannt, umringt und unter Waf­fen­ge­walt gefan­gen genom­men. Meine Pei­ni­ger ver­dreh­ten mir die Arme hinter dem Rücken, zogen sie hoch und ver­ban­den sie mit einer Schlinge um den Hals. So würgte ich mich selbst, da ich die Hände nicht ständig hoch halten konnte. So wurde ich in das von den Milizen besetzte Gebäude des Geheim­diens­tes SBU gebracht. Erst als nicht mehr viel bis zur Selbst­er­dros­se­lung fehlte, nahmen sie die Schlinge ab und fes­sel­ten mich mit Kabel­bin­dern. Drei Stunden lang wurde ich mit ver­schie­de­nen Gegen­stän­den geschla­gen, ohne dass die Schlä­ger über­haupt fragten, wer ich war und warum ich hier war.

Danach wurde ich verhört. Die erste Frage, „kannst du dich frei­kau­fen?“ ver­stand ich nicht. Geld hatte ich keines, ebenso besaß ich keine gehei­men Infor­ma­tio­nen außer solchen, die öffent­lich zugäng­lich waren. Danach schnit­ten sie mir die Klei­dung vom Leib.

Die rus­si­sche Pro­pa­ganda hatte bereit ganze Arbeit geleis­tet und das Feind­bild des „Bandera-Anhän­gers“ eta­bliert. Auch wenn noch keiner davon bis Luhansk gekom­men war, so hatte man hier ein lokales Exem­plar vor sich, an dem man Angst und Hass aus­las­sen konnte. 

Am Abend erwar­te­ten meine Pei­ni­ger einen Angriff. Sie pos­tier­ten ein Maschi­nen­ge­wehr auf dem Dach und ver­bar­ri­ka­dier­ten die Fenster. Mir ver­sprach man, dass ich im Falle eines Angriffs als Schutz­schild benutzt würde. Ich war mit Händen und Beinen an einen Stuhl gefes­selt und hätte Kugeln ohne Deckung abbe­kom­men, da ich mich nicht zu Boden werfen könnte. Als ein Flug­zeug tief über das Haus flog, began­nen sie zu schie­ßen, bis nach 20 Sekun­den der Befehl kam „nicht schie­ßen – das ist ein rus­si­sches. Gehört zu uns!“ Das war knapp.

Als um 18 Uhr mein Ver­schwin­den bekannt wurde, gab es einen großen Medi­en­auf­ruhr, unter­stützt von Jour­na­lis­ten und Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen. Dies und ein Anruf unseres Sym­pa­tis­an­ten aus der Stadt­ver­wal­tung beim Anfüh­rer meiner Pei­ni­ger bewirk­ten, dass man um 23 Uhr auf­hörte mich zu schla­gen. Ich wurde in einen Abstell­raum gebracht, wo ich ein Buch mit dem Titel „Gesun­der Schlaf“ fand und es bis zum Morgen las. Aus diesem Buch riss ich mir ein Bild mit dem ukrai­ni­schen Drei­zack, das ich bis heute auf­be­wahre. Bis Mittags musste ich noch unter ver­ba­len Ernied­ri­gun­gen und Dro­hun­gen den Boden wischen und die Toi­let­ten putzen. Durch die Innen­hof-Fenster sah ich, dass in der Sport­halle gegen­über eine Kantine ein­ge­rich­tet worden war, wohin gerade 15 bis 20 rus­si­sche Sol­da­ten gingen. Sie trugen rus­si­sche Armee-Abzei­chen und ver­steck­ten sich nicht, weil sie wohl nicht damit rech­ne­ten, hier gesehen zu werden.

Um unge­fähr 12 Uhr wurden ich und eine eben­falls in Gefan­gen­schaft gera­tene Frau, frei­ge­las­sen. Auch ein am Bein ver­letz­ter Mann war dort, in dessen Rich­tung ich aller­dings nicht schauen durfte. Über sein Schick­sal ist mir nichts bekannt.

Ich kam nach Hause und meine zukünf­tige Frau begann mich zu unter­su­chen. An den Häma­to­men konnte man erken­nen, wo man mich getre­ten, wo mit einem Schlag­stock, einer Peit­sche, einem Kolben oder einer Kette geschla­gen hatte. Ein befreun­de­ter Sani­tä­ter kam vorbei, unter­suchte mich und sagte, dass keine Knochen gebro­chen seien. Als er ging, stürzte meine Mutter herein, die aus dem Fern­se­hen von meiner Gefan­gen­nahme erfah­ren hatte.

Ich wech­selte sofort meinen Arbeits­platz nach Dnipro. Am 7. Mai fuhr uns ein Bekann­ter in einem unauf­fäl­li­gen Auto aus der Stadt. Zuvor schaffte ich es noch unseren Jungs von der ukrai­ni­schen Armee, einige Sachen zum Luhans­ker Flug­ha­fen zu bringen.

Mit der Zeit ver­stand ich, dass wir uns in vielen Situa­tio­nen unbe­dacht ver­hal­ten hatten. Man hätte auch aus dem Auto aus beob­ach­ten können und nicht aus­stei­gen müssen, um eine solche Ent­wick­lung der Ereig­nisse zu ver­mei­den. Doch in deiner Hei­mat­stadt spürst du keine Gefahr, denn das ist dein Zuhause. 

Die Hoch­zeit mit meiner zukünf­ti­gen Frau hatten wir schon lange im Voraus für Juni 2014 geplant. Nun mussten wir die Stadt und den Ablauf ändern und noch einige büro­kra­ti­sche Hürden besei­ti­gen, denn es war damals gesetz­lich ver­bo­ten, außer­halb des gemel­de­ten Wohn­or­tes zu hei­ra­ten. Wenigs­tens hei­ra­te­ten wir am geplan­ten Tag. Später wurde ich in Luhansk zur Fahn­dung aus­ge­schrie­ben und Bekannte berich­te­ten, dass wirk­lich nach mir gesucht wurde. Damals gab es noch keine feste Kon­takt­li­nie und jeder­mann hätte nach Dnipro fahren können, um mich im Kof­fer­raum zu ent­füh­ren. Deshalb zogen wir im Juli 2014 nach Kyjiw.

Bis 2015 war ich in der Orga­ni­sa­tion Vostok SOS aktiv und half den Sol­da­ten. Dank der Dia­spora in Deutsch­land konnten wir Aus­rüs­tung und Uni­for­men direkt an die Front liefern, als dies noch von keinem Gesetz regu­liert wurde. Ab 2015 wurde die Armee besser ver­sorgt und seitdem arbeite ich für die Hels­k­inki-Gruppe an der Doku­men­ta­tion von Kriegs­ver­bre­chen und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und leite dort das Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum. Wir befra­gen Zeugen, sammeln Infor­ma­tio­nen aus offenen Quellen und legen Daten­ban­ken an. Dann schrei­ben wir Berichte für den Inter­na­tio­na­ler Strafgerichtshof.

In unserer Serie „Geschich­ten einer Stadt“ beschrei­ben wir, was während der Beset­zung pas­siert ist und weiter passiert.

Ich habe bis heute nicht das Gefühl, sicher zu sein. Als Bin­nen­flücht­linge sind wir inner­halb von zwei Jahren fünfmal umge­zo­gen. Erst jetzt, mit eigener Wohnung, habe ich einen neuen Bekann­ten­kreis auf­ge­baut und mich als Reser­vist zu einer Hei­mat­schutz­ein­heit gemel­det. Meine Schlaf­pro­bleme sind ver­schwun­den und ich fühle mich endlich angekommen.

Meine Ein­tei­lung in ein Vorher und Nachher ist nicht nur an meinen Wohnort gebun­den, sondern auch an innere Umbrü­che und Über­zeu­gun­gen. Während ich früher als Medi­en­ge­stal­ter für Zei­tun­gen arbei­tete und mich eher mit Kon­zer­ten, Aus­stel­lun­gen und Fes­ti­vals beschäf­tigte, so machte der Beginn des Krieges hier einen Schnitt. Ich höre seitdem keine Musik mehr, lese keine Lite­ra­tur und schaue keine Filme mehr, das Malen und Gedich­te­schrei­ben lassen ich sein. Ich habe mich beruf­lich kom­plett umori­en­tiert und meinen Akti­vis­mus auf den Aufbau der Zivil­ge­sell­schaft in meinem Land gerich­tet. Meine poli­ti­schen Ansich­ten haben sich von links zu rechts der Mitte gewandelt.

Ich ver­misse die Krim. Dies war ein Ort, wo ich immer einige Monate auf­tan­ken konnte. Ich habe immer noch keine Alter­na­tive dafür gefun­den. Ich ver­stehe, dass es schwie­ri­ger wird, die Krim zu befreien als den Donbas. Und wenn eine Befrei­ung statt­fin­det, dann wohl erst im Donbas. Obwohl ich die Situa­tion prag­ma­tisch sehe, hindert sie mich nicht daran zu träumen. Wenn es inner­halb Russ­lands zu Ver­än­de­run­gen käme und unsere Ter­ri­to­rien befreit würden, könnte ich mir vor­stel­len, dort als Leiter einer Kreis­ver­wal­tung zu arbei­ten, um den Wie­der­auf­bau der Gemein­den und der Gesell­schaft vor­an­zu­brin­gen. Aber leben möchte ich dort nicht mehr.

Über­set­zung aus dem Ukrai­ni­schen von Simon Muschick.

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