Fünf Jahren Krieg in der Ukraine. Ein Versuch der his­to­ri­schen Einordnung

Der Krieg im Donbas brach nicht an einem Tag aus. Im Früh­jahr vor fünf Jahren stei­gerte sich die Gewalt von Tag zu Tag. Mehr oder weniger pro­fes­sio­nell began­nen die Inva­so­ren, die ukrai­ni­sche Staat­lich­keit zu zer­stö­ren und durch eine Ordnung der Gewalt zu erset­zen. Ein Versuch der his­to­ri­schen Ein­ord­nung von Jan Claas Behrends

Es ist ein Cha­rak­te­ris­ti­kum des hybri­den Krieges, dass man keinen genauen Zeit­punkt fest­hal­ten kann, an dem der Waf­fen­gang begann. Dennoch bleibt fest­zu­hal­ten: der Krieg dauert nun fünf Jahre und damit bereits länger als der Erste Welt­krieg in West­eu­ropa. Deshalb und vor dem Hin­ter­grund der aktu­el­len Wahlen in der Ukraine und in der Euro­päi­schen Union lohnt es sich zu fragen, welche Bedeu­tung der Kon­flikt für die Ukraine, aber auch für Europa und Deutsch­land eigent­lich gewon­nen hat. Jen­seits der tages­po­li­ti­schen Fragen, die uns umtrei­ben, ist es an der Zeit eine vor­läu­fige Bilanz ziehen.

Portrait von Jan Claas Behrends

Jan Claas Beh­rends ist Pro­fes­sor an der Europa-Uni­ver­si­tät Via­drina und His­to­ri­ker am Zentrum für Zeit­his­to­ri­sche For­schung in Potsdam.

Im Früh­jahr 2014 war unter Ost­eu­ro­pa­ex­per­ten in Deutsch­land die Meinung weit ver­brei­tet, dass die Ukraine ein Kar­ten­haus sei, das bei Druck von außen ein­stür­zen werde. Sie sei ein schwa­cher Staat, die Kor­rup­tion und eine ver­meint­li­che sprach­lich-kul­tu­relle Spal­tung des Landes wurden viel­fach als Gründe für die feh­lende Widerst­ans­fä­hig­keit des Landes genannt. Heute sehen wir: dieses Sze­na­rio hat sich nicht bewahr­hei­tet. Ein Durch­marsch gelang den Inva­so­ren nur anfangs auf der Krim und dort waren die rus­si­schen Truppen ja bereits vorher sta­tio­niert. In den anderen Lan­des­tei­len der Ukraine zeigte sich, dass der mili­tä­ri­sche Wider­stand eben nicht nur vom Staat, sondern aus der Gesell­schaft orga­ni­siert wurde – und zwar von den Olig­ar­chen bis hin­un­ter zu lokalen Initia­ti­ven und den Frei­wil­li­gen vom Maidan. Heute ist die Frage, ob denn die Ukraine ein sou­ve­rä­ner Staat, eine euro­päi­sche Nation sei, obsolet. Doch der Krieg hat nicht nur die Zweifel an der Sou­ve­rä­ni­tät Kyjiws besei­tigt, er hat auch die Dynamik der Natio­nen­bil­dung stark beschleu­nigt. Trotz aller Pro­bleme einte in den ver­gan­ge­nen Jahren die über­wie­gende Mehr­zahl der Ukrai­ner der Kampf gegen den Aggressor.

Zuletzt haben die Prä­si­dent­schafts­wah­len ver­deut­licht, dass – im Unter­schied zu den anderen Staaten des post-sowje­ti­schen Raumes – die Ukrai­ner tat­säch­lich frei ihr Staats­ober­haupt bestim­men. Bei allen Zwei­feln an der Eignung des Gewin­ners ist es diese Tat­sa­che, die zählt: es gibt auf dem Boden der frü­he­ren UdSSR Politik jen­seits der auto­kra­ti­schen Macht­ver­ti­ka­len. Damit hat die Ukraine ihre Son­der­stel­lung im post-sowje­ti­schen Kontext behaup­tet. Sie ist sogar mitt­ler­weile eine Avant­garde unter den post-kom­mu­nis­ti­schen Staaten; schließ­lich ist ihr poli­ti­sches System weit weniger auto­ri­tär als im EU-Land Ungarn. Wer hätte das noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten?

Ins­ge­samt fällt auch die Bilanz der Ära Poro­schenko nicht so negativ aus, wie es der ukrai­ni­sche Wahl­kampf sug­ge­rierte. Sicher­lich gingen zahl­rei­che Refor­men nicht weit genug und in seinen Prak­ti­ken blieb der abge­wählte Prä­si­dent allzu häufig ein Reprä­sen­tant des Ancien régime. Doch ins­be­son­dere in den Jahren 2014/​ 15 sind seine Leis­tun­gen nicht hoch genug zu bewer­ten: die Abwehr des hybri­den Angriffs aus Russ­land, der Wie­der­auf­bau einer schlag­fer­ti­gen Armee und die Kon­so­li­die­rung des Staates nach Jahren der Klep­to­kra­tie und der Clan­herr­schaft waren Her­ku­les­auf­ga­ben. Poro­schenko hat sie gestemmt. Hinzu kamen später der visa­freie Rei­se­ver­kehr mit der Euro­päi­schen Union und die Auto­ke­pha­lie für die ukrai­ni­sche Kirche. Doch die größte Errun­gen­schaft Poro­schen­kos war es am Ende viel­leicht, dass er nicht der Ver­su­chung nachgab, sich mit „admi­nis­tra­ti­ven Res­sour­cen“ die Wie­der­wahl zu sichern. Er hat den fried­li­chen Macht­wech­sel akzep­tiert – das unter­schei­det ihn von sämt­li­chen rus­si­schen Herr­schern der sowje­ti­schen wie der post-sowje­ti­schen Zeit. Damit hat er den Bruch mit der auto­kra­tisch-gepräg­ten Nach­bar­schaft der Ukraine voll­zo­gen. Welchen Kurs der neue Prä­si­dent Selen­skyj ein­schla­gen wird, lässt sich noch nicht beur­tei­len. Sicher ist aber, dass auch er von den Ukrai­nern an den Ergeb­nis­sen der ver­gan­ge­nen Jahre gemes­sen werden wird.  Ins­ge­samt lässt sich fest­hal­ten, dass sich die ukrai­ni­sche Gesell­schaft nach dem Euro­mai­dan dyna­misch wei­ter­ent­wi­ckelt hat. Dass die Her­aus­for­de­run­gen wei­ter­hin immens sind, hängt schließ­lich auch mit dem sowje­ti­schen Erbe zusam­men. Die Prä­ge­kraft von siebzig Jahren Dik­ta­tur wurde lang unterschätzt.

Der Krieg gegen die Ukraine ist eine euro­päi­sche Ange­le­gen­heit. Es ist schließ­lich der Anspruch der EU, für Aus­gleich und Frieden in Europa zu sorgen. Doch der Rück­blick ver­deut­licht, dass sich Deutsch­land und Europa in den ver­gan­ge­nen fünf Jahren weit­ge­hend darauf beschränkt haben, auf rus­si­sche Offen­si­ven zu reagie­ren. Das galt bereits bei der Anne­xion der Krim, danach beim Abschuss des Pas­sa­gier­flugs MH-17 über der Ukraine und auch in den fol­gen­den Ver­hand­lun­gen in Minsk. Bis heute hat man Moskau in diesem Krieg (wie auch in Syrien) die Eska­la­ti­ons­do­mi­nanz über­las­sen. Mit den Sank­tio­nen von 2014 hat sich der Westen zu halb­her­zi­gem con­tain­ment ver­pflich­tet – ohne sich jedoch mit­tel­fris­tig auf eine gemein­same Russ­land­stra­te­gie zu einigen. Tat­säch­lich haben die Euro­pa­wah­len gezeigt, dass der Ukrai­ne­krieg in der deut­schen Politik wie in der euro­päi­schen keine Rolle spielt. Sämt­li­che Par­teien beschwo­ren zwar rituell Europa als „Frie­dens­macht“ – sie stell­ten jedoch keine Kon­zepte zur Dis­kus­sion, wie der Frieden auf dem Kon­ti­nent tat­säch­lich wie­der­her­ge­stellt werden könnte. Häufig fehlt sogar der Mut, den Aggres­sor beim Namen zu nennen. Eine Rhe­to­rik der Äqui­di­stanz zu Moskau und Kyjiw ver­hin­dert häufig die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Gesche­hen im Osten Europas.

Über die Her­aus­for­de­rung durch Russ­land wurde in den Debat­ten über Europa und seine Pro­bleme nicht dis­ku­tiert. Das ist umso erstaun­li­cher, als die Euro­päi­sche Union seit 2014 nicht nur mit den Folgen des Krieges im Donbas und der Ver­schlech­te­rung der Bezie­hun­gen zu Russ­land zu kämpfen hat, sondern seit dem Jahr 2016, einem annus hor­ri­bi­lis für den Westen, auch mit dem Brexit und den Folgen des Wahl­siegs von Donald Trump. In ihrer großen Mehr­heit hat sich die poli­ti­sche Klasse Deutsch­lands jedoch trotz dieser stän­di­gen Ver­schlech­te­rung unserer sicher­po­li­ti­schen Lage bemüht, die EU-Außen­po­li­tik aus dem Wahl­kampf her­aus­zu­hal­ten. Dies liegt auch daran, dass ansons­ten das Fest­hal­ten an solch frag­wür­di­gen Pro­jek­ten wie NordStream2, das von der Bun­des­re­gie­rung gegen Wider­stand in Brüssel und Ost­eu­ropa durch­ge­setzt wurde, noch unsin­ni­ger erschiene.

Wei­ter­hin mangelt es in Deutsch­land und Europa an Kennt­nis­sen über Russ­land und sein poli­ti­sches System, sowie an Empa­thie für die Ukraine. Es herrscht immer noch die Illu­sion, dass Putins Russ­land ein Staat ist, mit dem man sich arran­gie­ren kann. Tat­säch­lich handelt es sich um eine revi­sio­nis­ti­sche Macht, die den Krieg im Donbas und die Abschot­tung gegen­über dem Westen schon aus Gründen der regime pre­ser­va­tion wei­ter­füh­ren muss. Deutsch­land und Europa fehlt es nach wie vor an einer gemein­sa­men Stra­te­gie, mit der man Moskaus aggres­si­ver Politik begeg­nen könnte. Der Krieg gegen die Ukraine mag aus unseren Nach­rich­ten ver­schwin­den, aber die Krise der rus­si­schen Staat­lich­keit wird uns auf abseh­bare Zeit weiter beschäf­ti­gen. Er ist eine Bedro­hung für Demo­kra­tie und Frieden in Europa dar. Die bestehende euro­päi­sche Ordnung, das sollten wir uns vor Augen führen, wird Tag für Tag unterminiert.

Aus his­to­ri­scher Sicht wird deut­lich: das Jahr 2014 war für Europa eine Zäsur. Die Ukraine, aber auch der Rest des Kon­ti­nents stehen seit dem Beginn des Krieges vor neuen Her­aus­for­de­run­gen . Auf der Krim und im Donbas endete die Ordnung von 1989, die auch in Ost­eu­ropa – im Ein­ver­neh­men mit Russ­land – sou­ve­räne Natio­nal­staa­ten an der Stelle von Ein­fluss­sphä­ren eta­blie­rete. Der Kreml hat gezeigt, dass Russ­land zwar über kein attrak­ti­ves System verfügt, das andere Gesell­schaf­ten anzieht, dass er aber bereit ist, andere Staaten auch mit Dro­hun­gen und Waf­fen­ge­walt zurück in seinen Orbit zu zwingen. Das ist die Geschäfts­grund­lage der Eura­si­schen Union.

Während des andau­ern­den Ukrai­ne­kon­flik­tes hilft uns die kri­ti­sche His­to­ri­sie­rung dabei, unsere kon­ven­tio­nel­len Annah­men zu über­prü­fen und zu erken­nen, was sich ver­än­dert hat. Das Bild von der Ukraine als schwa­cher Staat bekommt in dieser Per­spek­tive Risse: tat­säch­lich hat Kyjiws es seit dem Euro­mai­dan trotz gerin­ger Res­sour­cen durch­aus geschafft, die eigene Lage zu kon­so­li­die­ren. Während des Krieges wurden Demo­kra­ti­sie­rung und Refor­men wei­ter­ge­führt. Sicher bedarf es noch wei­te­rer großer Anstren­gun­gen, doch im Unter­schied zu Deutsch­land und Europa geht die Ukraine bisher aus den Her­aus­for­de­run­gen von 2014 gestärkt hervor. Das ist mehr als man nach dem Maidan erwar­ten konnte. Für Europa muss es ein wich­ti­ges Anlie­gen bleiben, den Krieg in der Ukraine und die Bedro­hung durch das rus­si­sche Regime wieder auf die Tages­ord­nung zu setzen. Sonst ver­lie­ren wir das Terrain aus dem Blick, auf dem die Zukunft unserer Frei­heit ent­schie­den wird.

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