Warum die ukrai­ni­sche Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form für den gesam­ten post­so­wje­ti­schen Raum wichtig ist

Fünf Jahre nach dem Maidan stellt sich die Kom­mu­nal­re­form als ein Erfolgs­bei­spiel dar, das auf­grund seiner nicht nur innen- sondern auch außen­po­li­ti­schen Dimen­sion beson­dere Auf­merk­sam­keit ver­dient. Ein Beitrag von Andreas Umland.

Während über die Kampf­hand­lun­gen in der Ost­ukraine, Schaf­fung neuer Anti­kor­rup­ti­ons­in­sti­tu­tio­nen, bevor­ste­hende Auto­ke­pha­lie der Ukrai­nisch-Ortho­do­xen Kirche oder Aus­wir­kun­gen des EU-Visa­frei­heit viel berich­tet und heiß dis­ku­tiert wird, erscheint die seit 2014 lau­fende tiefe Wand­lung der ukrai­ni­schen ört­li­chen Selbst­ver­wal­tung als relativ lang­wei­li­ges Thema. Fünf Jahre nach dem Maidan stellt sich jedoch die Kom­mu­nal­re­form als ein Erfolgs­bei­spiel dar, das auf­grund seiner nicht nur innen- sondern auch außen­po­li­ti­schen Dimen­sion beson­dere Auf­merk­sam­keit verdient.

Weit­ge­hend unbe­merkt hat sich die lan­des­weit ange­lau­fene Trans­for­ma­tion des ukrai­ni­schen Kom­mu­nal­we­sens zu einer der kon­se­quen­tes­ten und erfolg­reichs­ten post-Maidan Refor­men gemau­sert. Die Neu­ord­nung ört­li­cher poli­ti­scher Macht und lokaler öffent­li­cher Finan­zen in der Ukraine wird meist schlicht als „Dezen­tra­li­sie­rung“ bezeich­net. Unbe­darfte aus­län­di­sche Kom­men­ta­to­ren sehen die ukrai­ni­sche Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form manch­mal als etwas von außen auf­er­leg­tes an – initi­iert etwa durch das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der EU oder gar durch den Kon­flikt mit Russ­land und den damit ver­bun­de­nen Minsker Abkom­men, in denen der Begriff „Dezen­tra­li­sie­rung“ erscheint.

Tat­säch­lich hat die derzeit statt­fin­dende umfas­sende admi­nis­tra­tive Restruk­tu­rie­rung der Ukraine eher natio­nale als aus­län­di­sche Wurzeln. Sie war bereits lange vor Beginn der „Ukrai­ne­krise“ 2013 kon­zi­piert worden und stand bereits nach der Orange Revo­lu­tion von 2004 auf der Tages­ord­nung. Erst der Sieg der sog. Revo­lu­tion der Würde 2014 hat jedoch einen umfas­sen­den Devo­lu­ti­ons­pro­zess ab April 2014 eingeleitet.

Die ukrai­ni­sche Dezen­tra­li­sie­rungs­re­form bündelt eine Reihe par­al­le­ler Tran­si­ti­ons­pro­zesse, die etliche Aspekte kom­mu­na­ler und städ­ti­scher Ver­wal­tun­gen, deren Ver­hält­nis zum Zen­tral­staat sowie deren Bezie­hun­gen unter­ein­an­der betref­fen. Kleine Gemein­den werden zu grö­ße­ren und nach­hal­ti­ge­ren Ter­ri­to­ri­al­ein­hei­ten zusam­men­ge­legt. Zen­trale Ver­wal­tungs­be­hör­den werden zuguns­ten gewähl­ter Gebiets­kör­per­schaf­ten und Stadt­räte sowie deren Exe­ku­tiv­or­gane von ihren bis­he­ri­gen Befug­nis­sen ent­bun­den. Haus­halts- und Rechts­set­zungs­kom­pe­ten­zen werden von natio­na­len und regio­na­len Insti­tu­tio­nen auf die lokale Ebene über­tra­gen. So genann­ten Amal­ga­mierte Ter­ri­to­ri­al­ge­mein­den (ATGs) treten in Koope­ra­ti­ons­be­zie­hun­gen zuein­an­der. Mehr oder minder große Ver­ant­wort­lich­kei­ten im Bil­dungs- und Gesund­heits­we­sens werden an die neuen Groß­kom­mu­nen übertragen.

Wie überall auf der Welt hat auch die Dezen­tra­li­sie­rung in der Ukraine eine Viel­zahl posi­ti­ver Aus­wir­kun­gen auf den Alltag der Bürger. Die öffent­li­che Ver­wal­tung wird effi­zi­en­ter, fle­xi­bler und trans­pa­ren­ter. Die Ver­bin­dung von Staat und Gesell­schaft wird gestärkt und damit die demo­kra­ti­sche Legi­ti­mi­tät poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen erhöht. Schlupf­lö­cher für Kor­rup­tion und Amts­miss­brauch werden schritt­weise redu­ziert. Wirt­schaft­li­che Akti­vi­tät und der Wett­be­werb zwi­schen Gemein­den wird geför­dert. Kom­mu­nen kon­kur­rie­ren um Inves­ti­tio­nen, Tou­ris­ten, Pro­jekte und Per­so­nal. Bür­ger­li­ches Enga­ge­ment wird geför­dert und für das Gemein­wohl nutzbar gemacht. Lokale Initia­ti­ven können wirk­sa­mer Gestal­tungs­pro­zesse auf Lan­des­ebene beeinflussen.

In der Ukraine gewin­nen diese und ähn­li­che posi­tive Effekte all­ge­mei­ner Dezen­tra­li­sie­rung zusätz­li­ches Gewicht ange­sichts der Bedeu­tung des Landes als zweit­größ­ter Flä­chen­staat und geo­po­li­ti­sches Schlüs­sel­land Europas. Welchen innen­po­li­ti­schen Kurs die Ukraine ein­schlägt und welche Erfolge bzw. Miss­erfolge sie dabei erzielt, hat Aus­wir­kun­gen auf die gesamteuropäische

Ukraine als Bei­spiel für andere post-sowje­ti­sche Länder?

Sicher­heit und Sta­bi­li­tät, die Bezie­hun­gen zwi­schen den post­kom­mu­nis­ti­schen Staaten sowie die gesamte Demo­kra­ti­sie­rung Ost­eu­ro­pas. Das heutige und künf­tige Schick­sal der Ukraine wird – auf­grund der Größe des Landes – ent­we­der ein Modell oder eine Warnung für etliche andere Nach­fol­ge­staa­ten der UdSSR sein.

Vor allem macht die Dezen­tra­li­sie­rung die Ukraine als Staat wider­stands­fä­hi­ger, indem sie einige spe­zi­fi­sche Patho­lo­gien nach­so­wje­ti­scher öffent­li­cher Ver­wal­tung redu­ziert, aus­merzt oder zumin­dest ein­dämmt. Die post­so­zia­lis­ti­sche Ukraine war – im Gegen­satz zur Rus­si­schen (soge­nann­ten) Föde­ra­tion oder anderen auto­ri­tä­ren Nach­fol­ge­staa­ten der UdSSR – nie ein beson­ders zen­tra­lis­ti­scher Staat. Statt­des­sen litt die Ukraine seit der Unab­hän­gig­keit unter einer Art infor­mel­ler Regio­na­li­sie­rung in semi­au­to­nome Herr­schafts­ge­biete, die von Wirt­schafts­ma­gna­ten und ihren mafiö­sen Struk­tu­ren kon­trol­liert wurden. Hinter den Kulis­sen standen und stehen teils bis heute Wirt­schafts­bosse, Büro­kra­ten oder Poli­ti­ker, die als Patrone kli­en­ti­lis­ti­scher Netz­werke vie­ler­lei Insti­tu­tio­nen infil­trie­ren oder kon­trol­lie­ren. Die Macht­sphäre ein­zel­ner der­ar­ti­ger Clans kann eine bestimmte Makro­re­gion, wie das Donez­be­cken (Donbas), ein bestimm­tes Gebiet (Oblast) oder eine bestimmte größere Stadt und deren Umge­bung umfassen.

Die aus­drück­lich lokale – d.h. kom­mu­nale bzw. muni­zi­pale – Aus­rich­tung der ukrai­ni­schen Ver­wal­tungs­re­form hebt diese Clan­struk­tu­ren zwar nicht auf, hilft aber dabei sie zu schwä­chen, zu ver­drän­gen oder zu brechen. Das geschieht u.a. dadurch, dass Macht­be­fug­nisse auf Ter­ri­to­ri­al­ge­mein­den über­tra­gen, die auf einer Wir­kungs­ebene unter der­je­ni­gen der meisten infor­mel­len Seil­schaf­ten ope­rie­ren. Dies macht die Ver­ein­nah­mung von Staats­or­ga­nen – das sog. state capture – durch Inter­es­sen­grup­pen nicht unmög­lich, aber kom­pli­zier­ter, klein­tei­li­ger, auf­wän­di­ger und damit unat­trak­ti­ver. Manch­mal über­trägt die Dezen­tra­li­sie­rung zwar schlicht Kor­rup­tion von der natio­na­len oder regio­na­len auf die Orts­ebene. In Ein­zel­fäl­len können davon sogar bestimmte lokale Clans pro­fi­tie­ren, wenn sie bisher im kom­mu­na­len oder städ­ti­schen Kontext tätig waren.

Ins­ge­samt jedoch stärkt die Dezen­tra­li­sie­rung die Rechts­staat­lich­keit in der Ukraine und fördert die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung. Mit neuen Befug­nis­sen und grö­ße­ren Mitteln aus­ge­stat­tete lokale Selbst­ver­wal­tun­gen sind der öffent­li­chen Ein­sicht, Kon­trolle und Ver­ant­wor­tung stärker aus­ge­setzt, als die vom sowje­ti­schen System über­nom­me­nen neo­by­zan­ti­ni­schen Staats­or­gane. Im All­ge­mei­nen sind die ATGs weniger anfäl­lig für eine Unter­wan­de­rung durch infor­melle Netz­werke als die alten Oblast- und Rayonverwaltungen.

Darüber hinaus ent­zieht die Devo­lu­tion von Macht auf die kom­mu­nale Ebene Russ­lands hybri­der Kriegs­füh­rung ihren ent­schei­den­den Ansatz­punkt für Sub­ver­sion. Eine Dezen­tra­li­sie­rung, die keine Föde­ra­li­sie­rung ist, erschwert irre­den­tis­ti­sche Ope­ra­tio­nen ähnlich denen in Sim­fe­ro­pol, Donezk und Luhansk im Früh­jahr 2014. Da die Haupt­städte und Voll­mach­ten der Oblas­ten all­mäh­lich an Gewicht ver­lie­ren, wird es für den Kreml schwie­ri­ger, eine bestimm­tes Gebiet in seiner Gesamt­heit mit Sepa­ra­tis­mus zu infi­zie­ren. Vor diesem Hin­ter­grund ist die Auf­lö­sung des noch weit­ge­hend sowje­tisch funk­tio­nie­ren­den Ver­wal­tungs­sys­tems auch ein Mittel zur Kon­so­li­die­rung und Ver­tei­di­gung des ukrai­ni­schen Staates. Die Ent­mach­tung der Oblaste und Rayons zuguns­ten einer Stär­kung lokaler Gemein­den zer­stü­ckelt poli­ti­sche Kon­trolle. Das erschwert dem Kreml die Durch­füh­rung hybri­der Maß­nah­men zur Abspal­tung einer Region, wie auf der Krim erfolg­reich demonstriert.

Die Dezen­tra­li­sie­rung macht den ukrai­ni­schen Staat sta­bi­ler, funk­tio­na­ler und effek­ti­ver. Die gestie­gene Wider­stands­fä­hig­keit und höhere Dynamik sub­na­tio­na­ler Ein­hei­ten unter­stützt die Moder­ni­sie­rung der Ukraine. Was immer den relativ plu­ra­lis­ti­schen und libe­ra­len ukrai­ni­schen Staat wie­derum stärkt – Euro­päi­sie­rung, Dezen­tra­li­sie­rung, Pri­va­ti­sie­rung etc. – unter­gräbt mit­tel­bar die

Legi­ti­mi­tät der klepto- und auto­kra­ti­schen Ord­nun­gen auch anderer post­so­wje­ti­scher Staaten. Auf­grund der Größe, Rolle und Aus­strah­lung der Ukraine in Ost­eu­ropa, hilft die Stär­kung von ukrai­ni­scher Demo­kra­tie, Staat­lich­keit und Wirt­schaft durch Dezen­tra­li­sie­rung, den gesam­ten post­so­wje­ti­schen Raum zum Bes­se­ren zu ver­än­dern. In dieser und anderer Hin­sicht ver­än­dert der Maidan, der den Dezen­tra­li­sie­rungs­pro­zess in Gang brachte, nicht nur die Ukraine, sondern wird sich letzt­lich auf die gesamte Region auswirken.

(Eine Entwurf dieses Textes wurde erst­mals auf dem Forum „Dezen­tra­li­sie­rung: Die Trans­for­ma­tion der moder­nen Ukraine“ der Dni­pro­pe­trow­s­ker Oblast­ad­mi­nis­tra­tion am 26.–27. Oktober 2018 in Dnipro vor­ge­stellt. Der Autor bedankt sich bei den Kon­fe­renz­or­ga­ni­sa­to­ren für die dort erhal­te­nen Anre­gun­gen. Der Artikel erschien zuerst in den „Ukraine-Ana­ly­sen“ der For­schungs­stelle Ost­eu­ropa in Bremen.)

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