Czer­no­witz: ein ver­ges­se­nes Ver­bre­chen an den euro­päi­schen Juden

Die Mas­sen­er­schie­ßun­gen in Mit­tel­ost­eu­ropa bleiben ein unter­be­lich­te­tes Kapitel der Shoa. In Czer­no­witz, einer Stadt in der West­ukraine, ermor­de­ten deut­sche und rumä­ni­sche Truppen binnen zwei Tagen 20.000 Men­schen. Das Zentrum Libe­rale Moderne lud vom 4. bis 7. Sep­tem­ber zusam­men mit den deut­schen poli­ti­schen Stif­tun­gen Über­le­bende und His­to­ri­ker ein, um der Opfer zu geden­ken und das Ver­bre­chen zu erin­nern. Ukrai­ner, Russen, Rumänen, Deut­sche und die jüdi­schen Zeit­zeu­gen suchten eine gemein­same Erzäh­lung ihrer Ver­gan­gen­heit. Ein Essay von Marie­luise Beck.

Man nennt ihn den „ver­ges­se­nen Holo­caust“ oder die „Shoah durch Kugeln“. Zu Beginn des Ost­feld­zugs der Wehr­macht waren die Mas­sen­morde an den Juden Ost­eu­ro­pas Morde aus Gewehr­läu­fen. Bis heute gehören diese Gewalt­or­gien zu den kaum bekann­ten Seiten des Geno­zids. Rund andert­halb Mil­lio­nen Juden sind auf diese Weise getötet worden. Die Orte des Gesche­hens sind bis heute kaum erschlos­sen. Es fehlen selbst ein­fa­che Hinweistafeln.

In der heu­ti­gen Ukraine, auf deren Gebiet viele dieser Morde began­gen wurden, sind es oft Felder und Wälder, ver­las­sene Ruinen, graue post­so­wje­ti­sche Wohn­blö­cke oder moderne Ein­kaufs­zen­tren, die die Stätten des Grauens ver­de­cken und damit die Erin­ne­rung ver­stel­len. Nur wenige Opfer wurden in Mas­sen­grä­bern auf Fried­hö­fen bei­gesetzt. In der Stadt Czer­no­witz ermor­de­ten deut­sche und rumä­ni­sche Truppen am 5. und 6. Juli 1941 etwa 20.000 jüdi­sche Bürger. Rumä­nien war unter Ion Anto­nescu ein Ver­bün­de­ter des Dritten Reichs. Das Grab von etwa 900 Opfern ist auf dem ver­las­se­nen jüdi­schen Fried­hof zu finden.

In der Uni­ver­si­tät Czer­no­witz trafen sich auf Ein­la­dung des Zen­trums Libe­rale Moderne und der  deut­schen poli­ti­schen Stif­tun­gen vom 4. bis 7. Sep­tem­ber 2019 ukrai­ni­sche, rus­si­sche, rumä­ni­sche und deut­sche His­to­ri­ker und jüdi­sche Über­le­bende, um über die Erin­ne­rung an diese Ver­bre­chen nach­zu­den­ken. Der Umgang mit der Shoa ist von Land zu Land ver­schie­den. Eine Zäsur in der Erin­ne­rung mar­kiert der Zerfall der Sowjet­union 1990.

In Deutsch­land ist Ausch­witz zum Synonym für die Shoa gewor­den. Zeugen über­leb­ten die Todes­fa­brik. Es gibt einen Ort mit Zeug­nis­sen der Ver­nich­tung. Die „Shoa durch Kugeln“ war weit zer­streut und hin­ter­ließ wenig Spuren. Es gab kaum Über­le­bende, die hätten berich­ten können. Auch deshalb ist Timothy Snyders Buch „Blood­lands“ für die Erin­ne­rung in Deutsch­land so wichtig. Wer heute auf Über­le­bende trifft, die ihre Erleb­nisse wei­ter­zu­ge­ben bereit sind, bekommt eine Ahnung von dem Grauen, das die jüdi­schen Sied­lungs­ge­biete in Mittel-Ost­eu­ropa überzog.

Die heutige Ukraine war ein blut­ge­tränk­ter Schau­platz. Hier wüteten die Ein­satz­grup­pen des NS-Regimes und ihre Ver­bün­de­ten gegen Juden, Slawen, Zivile und gefan­gene Sol­da­ten der Roten Armee. Hier wüteten auch die Scher­gen Stalins und depor­tier­ten Hun­dert­tau­sende in die Lager des Gulags. Mil­lio­nen starben an der plan­mä­ßig her­bei­ge­führ­ten Hun­gers­not Anfang der 1930er Jahre, Unzäh­lige wurden von sowje­ti­schen Spe­zi­al­kom­man­dos erschossen.

Czer­no­witz gehörte zur Nord­bu­ko­vina, einst eine Stadt der Habs­bur­ger­mon­ar­chie. In dieser Stadt der vielen Natio­na­li­tä­ten und Reli­gio­nen haben die tota­li­tä­ren Herr­schafts­ap­pa­rate beson­ders tiefe Wunden geschla­gen. Die jüdi­sche Bevöl­ke­rung der Region wurde durch Erschie­ßun­gen, Krank­hei­ten, Hunger und Depor­ta­tio­nen fast ausgelöscht.

Raum für mul­ti­na­tio­na­len Austausch

Bis heute ist es schwer, ein his­to­ri­sches Nar­ra­tiv für diese Zeit zu finden. Das Treffen in Cer­no­vitz diente der Spu­ren­su­che. Es ging um einen Aus­tausch zwi­schen jenen, die vor allem die rumä­ni­schen Besat­zer und jenen, die die deut­schen Besat­zer erfah­ren hatten; zwi­schen jenen, die vor allem die sowje­ti­schen Depor­ta­tio­nen her­vor­ho­ben und jenen, die die Mit­tä­ter­schaft der ukrai­ni­schen Natio­na­lis­ten betonen.

Für den Direk­tor des Ukrai­ni­schen Zen­trums für Holo­­caust-Studien in Kiew, Ana­to­lij Podol­skyj, ist die Juden­ver­fol­gung auf dem Gebiet der heu­ti­gen Ukraine nicht nur ein Werk der deut­schen Besat­zer. Dass auch die Sowjet­macht  gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung vorging, ist im Westen bis heute wenig bekannt. Zwi­schen 1948 und 1953 befahl Stalin Depor­ta­tio­nen nach Sibi­rien, das Jüdi­sche Anti­fa­schis­ti­sche Komitee wurde auf­ge­löst und seine Mit­glie­der ver­haf­tet, viele kamen unter mys­te­riö­sen Umstän­den ums Leben. Auch anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­theo­rien wurden vom Regime befeu­ert. Bei­spiel­haft dafür steht der Prozess gegen die Mit­glie­der der soge­nann­ten „Ärz­te­ver­schwö­rung“ 1953, in dem Dut­zende jüdi­sche Ärzte eines Mord­kom­plotts für schul­dig befun­den wurden.

Ukrai­ni­sche Kollaboration

Ein beson­ders heikles Thema bleibt die Frage der ukrai­ni­schen Kol­la­bo­ra­tion mit den Natio­nal­so­zia­lis­ten und die Rolle der etwa 20 000 Frei­wil­li­gen der ukrai­ni­schen Hilfs­po­li­zei im Holo­caust. Auch die OUN, die Orga­ni­sa­tion Ukrai­ni­scher Natio­na­lis­ten, die für eine unab­hän­gige Ukraine kämpfte,  ver­an­lasste Ver­trei­bun­gen und beging Morde an der jüdi­schen Bevölkerung.

Für den His­to­ri­ker Oleh Surowt­zew von der Uni­ver­si­tät Czer­no­witz, der den Holo­caust in der Buko­wina erforscht, gilt: Man muss mehr über all diese schwie­ri­gen Fragen reden, selbst wenn sie nicht in das natio­nale Nar­ra­tiv, dem zufolge die Ukrai­ner stets Opfer waren, passen. Es gilt Schuld anzu­er­ken­nen und sich der Erin­ne­rung zu stellen, damit sich solche Gräuel nie wieder ereignen.

Rolle Rumä­ni­ens

Die Frage, wie mit der Schuld der ver­gan­ge­nen Genera­tio­nen umgehen, ist auch für Rumä­nien aktuell. Zwar bekennt sich der rumä­ni­sche Staat zu den im Zweiten Welt­krieg began­ge­nen Ver­bre­chen, die offene Aus­ein­an­der­set­zung mit der his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung findet jedoch nicht statt. Laut dem rumä­ni­schen His­to­ri­ker Ottmar Trasca war das Anto­­nescu-Regime für die Ermor­dung von bis zu 270 000 Juden ver­ant­wort­lich. Die Regie­rung sah 1941 eine „güns­tige Zeit für die eth­ni­sche  „Säu­be­rung“ des rumä­ni­schen Volkes. Der Dik­ta­tor Anto­nescu bemerkte, ihm sei es egal, ob die Rumänen als Bar­ba­ren in die Geschichte eingingen.

Trasca kon­sta­tiert, dass noch in den 1990er Jahren viele ein­hei­mi­sche His­to­ri­ker die Schuld Rumä­ni­ens an diesen Ver­bre­chen geleug­net haben. Inzwi­schen habe sich das geän­dert. Aber, so Trasca: „Es gibt immer noch Ver­su­che, das Ausmaß der Ver­bre­chen zu relativieren.“

Geschichts­auf­ar­bei­tung in Russland

Die Ver­stri­ckung des „Bru­der­lands“ Rumä­nien in die Ver­nich­tung der Juden war in der Sowjet­union wenig bekannt. Der Holo­caust als spe­zi­fi­sches Mas­sen­ver­bre­chen wurde von der offi­zi­el­len Geschichts­po­li­tik der Sowjet­union aus­ge­blen­det. „Es ist sehr schwer, in Russ­land die Trau­mata des Zweiten Welt­krie­ges zu the­ma­ti­sie­ren“, berich­tete Irina Scher­ba­kowa, die Koor­di­na­to­rin der zivil­ge­sell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­tion „Memo­rial“, die sich seit Jahren für eine offene Geschichts­auf­ar­bei­tung ein­setzt. Das offi­zi­elle Moskau, das sich zugleich als Sieger und Opfer des Zweiten Welt­krie­ges dar­stellt, klam­mert die kon­tro­ver­sen Seiten der Geschichte aus.

Dazu gehört vor allem der Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939, mit dem der Krieg begann. Nach dem Nazi-Über­­­fall auf Polen okku­pierte die Sowjet­union in Abspra­che mit Hit­ler­deutsch­land Ost­po­len, das Bal­ti­kum und Bes­sa­ra­bien. Der Kreml bemüht heute wieder alte Geschichts­bil­der von den mit den Nazis kol­la­bo­rie­ren­den Ukrai­nern, die es wieder einmal zu bekämp­fen gilt. Dabei wird unter­schla­gen, dass etwa sechs Mil­lio­nen Ukrai­ner während Zweiten Welt­krie­ges in der Roten Armee gegen Nazi-Deut­sch­­land gekämpft haben.

Ukraine als Terra incognita

Für die meisten Deut­schen bleibt die Ukraine bis heute eine Terra inco­gnita, was die Geschichte des Zweiten Welt­kriegs angeht. Die Opfer der Sowjet­union werden mit den Opfern Russ­lands gleich­ge­setzt. Diese Über­tra­gung prägt viele Dis­kurse. Im Krieg Russ­lands gegen die Ukraine erlebt die Ukraine deshalb wenig Empa­thie. Darauf verwies Volker Beck, ehe­ma­li­ger grüner Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter und Lehr­be­auf­trag­ter des Zen­trums für Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­che Studien (CERES) der Ruhr-Uni­­ver­­­si­­tät Bochum.

Alle diese Wahr­neh­mun­gen ergeben kein ein­heit­li­ches Bild, sondern ein Geflecht von unter­schied­li­chen Akzen­tu­ie­run­gen und Sicht­wei­sen. In den Ver­stri­ckun­gen von Schuld und Leid gibt es keine ein­deu­ti­gen Linien, Opfer können auch Täter sein. Dennoch gilt: Es gibt unver­rück­bare his­to­ri­sche Tat­sa­chen­wahr­hei­ten. Sie offen zu legen, darf nicht auf­ge­ge­ben werden. Nur in der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Ver­gan­gen­heit in all ihrer Kom­ple­xi­tät kann es gelin­gen, das Unbe­greif­li­che zu begrei­fen und sich dem zu nähern, was unvor­stell­bar bleibt: Wie konnte der Mord an sechs Mil­lio­nen Juden geschehen?

Borys Zabarko, Prä­si­dent der Allu­krai­ni­schen Asso­zia­tion der Jüdi­schen KZ- und Ghet­to­über­le­ben­den, ver­dankt seine Rettung einer ukrai­ni­schen Familie. Er gab der Runde auf: „Redet mit uns, solange es uns noch gibt!“

Wir wollen im kom­men­den Jahr – viel­leicht in Buchen­wald – wieder zusammentreffen.

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