Das Asowsche Meer: Das maritime Ilowajsk?
Am 25. November griffen russische Schiffe vor der Meerenge von Kertsch drei aus Odessa kommende ukrainische Schiffe an. Die Schiffe wurden zunächst gerammt, beschossen und danach inklusive der 23 Matrosen an Bord festgesetzt. Eine Analyse der Geschehnisse von Elena Ostanina.
Am 25. November griffen russischen Militärschiffe drei ukrainische Schiffe an und beschlagnahmten sie während diese aus Odessa kommend versuchten durch die Straße von Kertsch zum ukrainischen Seehafen in Mariupol zu gelangen. Als Folge des russischen Angriffes und der Festsetzung der drei Schiffe und 23 Matrosen billigten der ukrainische Nationale Verteidigungs- und Sicherheitsrat und Präsident Poroschenko die Verhängung des Kriegsrechts. Es folgte eine sechsstündige Sondersitzung mit einer umfassenden Diskussion im Parlament, das schließlich eine abgemilderte Form des präsidialen Vorschlages annahm. Ab dem 28.11. gilt ein 30-tägiges Kriegsrecht in den 10 Küstengebiete und Grenzgebiete zu Russland und Moldawien.
Die Krim-Brücke als Tor
Im Jahr 2003 unterzeichneten die ukrainischen und russischen Behörden ein Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Nutzung des Asowschen Meers und die Straße vom Kertsch, welches die Navigation der Länder im Wassergebiet vereinfachte und ungehinderte Durchfahrten durch die Straße ermöglichte. Die Annexion der Krim veränderte die Situation dann grundlegend. Nachdem die russische Regierung die Krim-Brücke über die Meerenge von Kertsch zur annektierten Halbinsel in Auftrag gegeben hatte, verwandelten die Meerenge in eine Art Tor, das sie je nach Belieben schließen können. Schiffe mit ukrainischen Ziel- bzw. Abfahrthäfen wurden langatmigen „routinemäßigen“ Inspektionen unterzogen. Über 1.500 Schiffe wurden von den russischen Grenzschutzbeamten innerhalb von sechs Monaten für 12–80 Stunden gestoppt, was dazu führte, dass der Warenfluss in den Seehäfen Berdjansk und Mariupol um 20 bzw. 10 Prozent zurückging und die Häfen in große Teile der Belegschaft in Kurzarbeit schicken musste.
Die Situation verschärfte sich dann dramatisch am 25. November, als der russische Grenzdienst drei ukrainische Militärschiffe blockierte, die versuchten, die Straße von Kertsch zu passieren. Ein ukrainischer Schlepper wurde gerammt anschließend wurde auf die ukrainischen Schiffe. Dabei wurden sechs ukrainische Soldaten verletzte. Die friedliche Durchfahrt von drei ukrainischen Schiffen mit Gewalt zu blockieren, die Schiffe zu rammen und als diese nach Odessa zurückkehren wollen zu beschießen sowie anschließend festzusetzen, erinnert an den Militärangriff auf ukrainische Soldaten bei Ilowajsk. Damals wurden ukrainische Soldaten beschossen, als sie 2014 das Schlachtfeld von Ilovaisk über den vereinbarten humanitären Korridor verließen. Verschiedenen Medienberichten zu Folge soll der ukrainische Präsident Poroschenko in den letzten Wochen zahlreiche Treffen mit dem ukrainischen Oligarchen Viktor Medwedtschuk, der dem russischen Präsidenten nahesteht, abgehalten haben. Bei den Gesprächen sollen die wirtschaftliche und militärische Entwicklung im Asowschen Meer und zusätzliche Garantien für die Durchfahrt ukrainischer Schiffe diskutiert worden seien. Einige Tage später blockierte Russland die ukrainischen Militärboote und setzte diese überraschend fest.
Russlands ultimative Macht in der Region
Mit der gewaltsamen Festsetzung der ukrainischen Schiffe inklusive der 23 ukrainischen Matrosen an Bord und der Schließung der Kertscher Straße innerhalb von 30 Minuten für alle internationalen Schiffe haben die russischen Behörden ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, die Region und die ukrainischen Seehäfen von der Außenwelt abzuschneiden. Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 haben die russischen Behörden ihre militärischen Fähigkeiten auf der Halbinsel stark ausgebaut. Mit dem Schwerpunkt auf Luft- und Bodentruppen haben die russischen Behörden insbesondere S‑300 Langstrecken-Boden-Luft-Raketensysteme und S‑400-Flugabwehrsysteme eingesetzt und die Zahl der Flugzeuge auf 122 und der Kampfhubschrauber auf 62 erhöht. Laut ukrainischen Angaben verfügt die ukrainische Armee insgesamt über 62 Kampfflugzeuge und 16 Hubschrauber.
Darüber hinaus hat die russische Marine zusätzliche militärische Ausrüstung erhalten, wodurch sich die Zahl der Seeschiffe und U‑Boote in der Region auf mindestens 78 erhöht hat. Die russische Flotte auf der Krim allein, ganz zu schweigen von den russischen Festlandstreitkräften, übertrifft die bestehende ukrainische Flotte, die sich bereits vor der Annexion der Krim in einem schlechten Zustand befand, um ein Vielfaches. Nach 2014 standen der Ukraine nur noch neun der 18 wichtigsten Kriegsschiffe und neun der 43 Hilfsschiffe zu Verfügung. Durch die Genehmigung der Entwicklungsstrategie der Marineflotte und die Planung zum Bau und Kauf von 30 kleinen Schiffen und Artilleriekanonenbooten und vier Korvetten der Wolodymyr-Velykyi-Klasse bis 2020–21 wurde ein Versuch unternommen, die Marine zu stärken. Die Umsetzung der Strategie scheiterte jedoch größtenteils, da den Behörden schlicht die erforderlichen finanzielle Mittel fehlen, die geplanten Schiffe anzuschaffen.
In einem noch unwahrscheinlichen Fall des zwischenstaatlichen Krieges zwischen der Ukraine und Russland wäre die wahrscheinliche Reaktion der ukrainischen Streitkräfte eine Gegenoperation aus der Luft von den Stützpunkten des Landes in den Regionen Donezk und Saporischia. Da weder eine direkte EU noch die NATO Unterstützung im im Kriegsfall realistisch erscheint, wird die Ukraine alleine reagieren müssen. Aufgrund ihrer numerischen und technischen Unterlegenheit dürfte sie im unwahrscheinlichen Falle eines Krieges große Verluste erleiden.
Keine Verzögerungen der Präsidentschaftswahlen 2019
Die ukrainische Gesetzgebung verbietet im Falle der Verhängung des Kriegsrechts alle Wahlen, einschließlich der Einleitung von Wahlkämpfen. Damit könnte das Kriegsrecht sich prinzipiell auf die für den 31. Mai 2019 geplanten Präsidentschaftswahlen des Landes und den Beginn der Kampagne am 31. Dezember 2018 auswirken. Der ursprüngliche Vorschlag von Präsident Poroschenko, der die Einführung des Kriegsrechts für 60 Tage vorschlug, wurde deswegen im zähen Ringen mit dem ukrainischen Parlament auf 30-Tage-Regime beschränkt.
Die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen 2019 hätten dem Präsidenten ohne eine massive Ausweitung der direkten Kampfhandlungen mit Russland wohl weitere Wählerstimmen gekostet. Westliche Partner, wie die USA und die EU-Länder fordern hinter verschlossenen Türen die Einhaltung der geplanten Wahlen. Gleichzeitig war der Präsident nach Vorschlag des 60-tägigen Kriegsrecht heftiger Kritik ausgesetzt. Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen vor der Eskalation bei der Straße von Kertsch zeigen, dass Präsident Poroschenko aktuell nur 10% der Stimmen erhalten würde. Dabei zeigen die Umfragen auch, dass Poroschenko Julia Timoschenko und selbst den Komiker Zelenskiy, der bis heute keine Anzeichen gemacht hat zu kandidieren, verlieren würde.
Im Vorfeld der Eskalation mit Russland hatte der Präsident seine politische Kampagne auf drei „Säulen“ basiert: Armee, Glauben und Sprache. Im Bereich des Glaubens konnte der Präsident bereits erste Erfolge erzielen. Die Gewährung eines unabhängigen Status für die Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats steht kurz bevor. Was die Sprache betrifft, so haben einige Regionen die Verwendung der russischsprachigen Kulturprodukte bereits eingeschränkt. Die Armee ist trotz der gestiegenen Militärausgaben immer noch der Schwachpunkt im Präsidentschaftswahlkampf. Alle größeren militärischen Verluste haben unmittelbaren Einfluss auf seine Sympathiewerte. Deswegen dürften die Behörden von wesentlichen militärischen Auseinandersetzungen vor den Wahlen zurückschrecken.
Fazit
Obwohl die Wahrscheinlichkeit eines zwischenstaatlichen Krieges zwischen Russland und der Ukraine nicht hoch erscheint, dürften die russischen Behörden ihren wirtschaftlichen Druck auf das Asowsche Meer und die unter ukrainischer und europäischer Flagge fahrenden Schiffe erhöhen. Gleichzeitig wird Russland alles in seiner Macht stehende unternehmen, die Pläne der Ukraine zur Erhöhung ihrer militärischen Marinekapazitäten in der Region zu behindern. Das Engagement der NATO beschränkt sich auf Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten bzw. Präsenz im Schwarzmeerraum zu erhöhen. Letzteres erscheint mit Hinblick auf die türkisch-russische Annäherung für unwahrscheinlich. Jegliche westliche Präsenz im Schwarzen Meer würde die Spannungen mit Russland verstärken, das seit Jahren Rhetorik einer westlichen Einkreisung durch die NATO-Streitkräfte für seine Propaganda nutzt.
Zentral wird jedoch die Frage sein, wie der Westen auf die russische Aggression reagiert. Neue Sanktionspakete gegen Russland die Wirtschaftslage des Landes weiter schwächen könnten, erscheinen mit Hinblick auf die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU derzeit unwahrscheinlich. Sollte der militärische Zwischenfall aber unbeantwortet bleiben, hätten der Kreml erneut seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, zu jeder Zeit eine neue Phase des Krieges gegen die Ukraine zu eröffnen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Westliches Schweigen wie mahnende Worte ohne Folgen könnten den Kreml weiter ermutigen, seine militärische Dominanz gegen die Ukraine einzusetzen.
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