Die Katastrophe von Ilowajsk
Im August 2014 marschierten reguläre russische Militärverbände in den Donbas ein. Sie brachten die Wende im Krieg um die Ostukraine. Bei der Schlacht um Ilowajsk starben Hunderte ukrainische Soldaten – viele von ihnen wurden beim Abzug aus der Stadt getötet. Von Sebastian Christ
Der leblose Körper eines ukrainischen Soldaten hing über einem Stromkabel im Dorf Nowokateriniwka. Die Explosion seines gepanzerten Fahrzeugs hatte ihn dort hinauf katapultiert. In den Trümmern am Boden befand sich die verkohlte Leiche eines Kameraden. Gerade dort, wo er zuletzt saß.
Es waren schockierende Bilder, die der britische Journalist Tim Judah im Spätsommer 2014 in der Ostukraine zu Gesicht bekam. „Am 3. September zählte ich auf einer sechzehn Meilen langen Strecke vom Dorf Nowokateriniwka zur Stadt Ilowajsk die Überreste von achtundsechzig Militärfahrzeugen, Panzern, gepanzerten Truppentransportern, Pick-ups, Bussen und Lastwagen, in denen zwischen dem 28. August und dem 1. September eine große, aber noch unbekannte Anzahl von ukrainischen Soldaten auf der Flucht aus dem Gebiet starben“, notierte Judah in einem Blogbeitrag für den „New York Review of Books“.
Was Judah beschrieb, waren die Überbleibsel einer militärischen Katastrophe. Der zerstörte Konvoi gehörte zu jenen ukrainischen Militärverbänden, die an der Schlacht von Ilowajsk teilgenommen hatten. Im August 2014 kämpften sie dort um die Kontrolle über die 14.000-Einwohner-Stadt unweit der Grenze zu Russland.
Vor Ilowajsk waren die ukrainischen Streitkräfte in der Offensive
Die Kämpfe um Ilowajsk waren ein Wendepunkt im Krieg in der Ostukraine.
Bis dahin machte die „Anti-Terror-Operation“ gegen die Separatisten bedeutende Fortschritte. Im Juli hatten ukrainische Militärverbände die Großstadt Slawjansk zurückerobert, bis zum 10. August wurde mit Donzek die einzige Millionenstadt im Herrschaftsbereich der Aufständischen eingeschlossen. Die Kämpfe um Ilowajsk, wo sich ein strategisch wichtiger Güterbahnhof befand, brachen am 10. August aus.
Zwei Wochen später, am 24. August, meldete das ukrainische Militär in der bis dato von der Regierung in Kiew gehaltenen Stadt Nowoasowsk heftigen Artilleriebeschuss. Die Separatisten waren hier bis dahin gar nicht präsent gewesen. Auch an anderen Teilen der Grenze zu Russland wurden militärische Aktivitäten gemeldet. Viele Indizien sprechen dafür, dass an diesem Datum – dem ukrainischen Nationalfeiertag – reguläre russische Truppen die Grenze überquerten und ukrainisches Staatsgebiet besetzten. Das Eingreifen Russlands bringt die Wende.
Karte des Donbas © Euromaidan Press
„Humanitärer Korridor“ wird zur Todesfalle
Ilowajsk wird eingekesselt, etwa 7.000 ukrainische Soldaten sitzen in der Falle. Der WDR-Reporter Udo Lielischkies war damals zufällig mit einem Kamerateam vor Ort. Er wollte Mitglieder eines ukrainischen Freiwilligenbataillons für einen Dokumentarfilm portraitieren, als er und seine Mitarbeiter im Güterbahnhof von Ilowajsk in die Schusslinie gerieten. Lielischkies beobachtete, wie der Beschuss von schwerer Artillerie immer weiter zunahm. Und er filmt zahlreiche Mitglieder der ukrainischen Freiwilligenverbände, die in ihren improvisierten Uniformen aus amerikanischer, deutscher und britischer Produktion am Abend des 28. August auf den Rückzug warten.
Viele von ihnen starben am nächsten Tag. Es gab Verhandlungen über einen „humanitären Korridor“ für den Abzug, offenbar stellten die Separatisten die Forderung, dass die ukrainischen Streitkräfte dafür ihr schweres militärisches Gerät zurücklassen müssen. Noch während die Verhandlungen laufen, beginnen die ukrainischen Verbände mit dem Abzug – und werden beiderseits der Straße mit schwerer Artillerie angegriffen. Lielischkies nennt das in seinem Film eine „anscheinend vorbereitete Falle“. Die verwendete Artilleriemunition ist so stark, dass sie mühelos Panzerungen durchbrechen kann. Viele Männer sterben an Splitterverletzungen, einige Leichen sind derart entstellt, dass sie nachher lange Zeit nicht identifiziert werden können. Laut einem im August 2018 veröffentlichten Bericht des Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) wurde sogar ein Verwundetentransporter beschossen, der weithin sichtbar als Krankenfahrzeug gekennzeichnet war. Fast alle der kampfunfähigen Soldaten in diesem Lastwagen wurden dabei getötet.
Zahl der Gefallenen ist umstritten
Einigen der Eingeschlossenen gelingt die Flucht. So auch dem Team von Lielischkies, das mit anderen Reportern in einem ungepanzerten SUV an den Panzern vorbei über die Straße prescht. 300 ukrainische Soldaten gerieten in Gefangenschaft. Laut Angaben des OHCHR kam der letzte von ihnen erst am 27. Dezember 2017 frei.
Über die Zahl der Menschen, die in der Schlacht von Ilowajsk ums Leben gekommen sind, gibt es unterschiedliche Angaben. Die konkreten Zahlen sind Gegenstand der politischen Debatte.
Zuerst sprach die ukrainische Regierung von 214 Gefallenen. Im August 2015 veröffentlichte das ukrainische Militär eine Erhebung, der zur Folge 366 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte getötet und 429 verwundet wurden. Im OHCHR ‑Bericht über die Kampfhandlungen in Ilowajsk ist von „mindestens 366“ Gefallenen die Rede. Eine Untersuchungskommission des ukrainischen Parlaments ging im August 2015 von noch viel höheren Verlusten aus: Deren Vorsitzender, Andrij Sentschenko, schätzte die Zahl der Gefallenen im Großraum Ilowajsk auf etwa 1.000. Anton Heraschtschenko, Rada-Abgeordneter der Volksfront, sprach kurze Zeit später ebenfalls von 1.000 Gefallenen. Als erster hatte diese Zahl im September 2014 Konstantin Grischin genannt, der unter dem Namen Semen Sementschenko das Freiwilligenbataillon Donbas in die Schlacht von Ilowajsk führte.
Russland leugnet weiterhin eigene Truppenpräsenz
Es spricht einiges dafür, dass es wohl zumindest „viele Hundert“ ukrainische Soldaten waren, die ihr Leben verloren. In der WDR-Dokumentation von Udo Lielischkies etwa sagt ein ukrainischer Infanterist, der mit seinen Kameraden von außen auf den Belagerungsring vorrückte, dass allein aus seiner Einheit bereits 200 von 276 Soldaten ums Leben gekommen seien – das Interview fand noch vor dem Rückzug statt und reflektiert darüber hinaus nicht die Verluste, die es innerhalb des Kessels gab.
Wie viele Separatisten und russische Soldaten ums Leben kamen, ist umstritten. Da Wladimir Putin immer noch leugnet, dass russische Soldaten im Donbas aktiv sind, gibt es keine offiziellen Statistiken über gefallene und verletzte Soldaten. Der Kreml-Kritiker Boris Nemzow hatte bis zu seiner Ermordung im Februar 2015 an einem Bericht über die russische Verwicklung im Ukrainekrieg gearbeitet. Seinen Recherchen folgend, die auf Augenzeugenberichten und Lieferaufträgen für Särge basieren, starben allein in Ilowajsk 150 reguläre russische Soldaten. Eine im Frühjahr 2018 veröffentlichte Datenanalyse auf Basis von Versicherungsfällen im russischen Militär kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 2014 insgesamt 200 russische Soldaten in Kriegshandlungen starben, 500 bis 800 weitere wurden verwundet. Das ukrainische Verteidigungsministerium sprach von „300 toten russischen Soldaten“ bei der Schlacht von Ilowajsk.
Trauma in der ukrainischen Gesellschaft
Die von regulären russischen Truppen unterstützten Separatisten bleiben nach Ilowajsk in der Offensive. Anfang September nehmen sie die Vororte der 500.000-Einwohner-Stadt Mariupol unter Beschuss. Erst mit dem Minsker Abkommen vom 11. Februar 2015 kam der Bewegungskrieg zu einem Ende.
Die Schlacht von Ilowajsk ist bis heute für viele Menschen in der Ukraine mit traumatischen Erinnerungen verbunden. Sowohl für jene, die damals an den Kämpfen teilnahmen und mit dem Leben davon kamen, als auch für jene, die Angehörige und Freunde verloren. Zahlreiche Interviews und auch erste Bücher sind zu diesem Thema erschienen.
Bis heute steht Ilowajsk für die schlimmste Niederlage der ukrainischen Streitkräfte im Donbas. Separatisten und russischen Streitkräften wird wegen des Beschusses von abziehenden Truppen oft Heimtücke vorgeworfen. Gleichzeitig hat Ilowajsk aber auch eine Debatte um die Modernisierung der ukrainischen Armee vorangetrieben. Heute gibt die Ukraine sechs Prozent ihres Staatshaushalts für die Landesverteidigung aus.
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