Ukraine verstehen heißt, den Krieg zu verstehen
Die Leipziger Buchmesse pries die Schönheit von Serhij Zhadans Schattierungen der Düsternis. Der Übersetzung seines Kriegsromans „Internat“ hat sie den Buchpreis verliehen. Eine Lektüreempfehlung von Armin Huttenlocher.
Viel wird über die Ukraine berichtet. Zu oft wird noch immer als „Konflikt“ bezeichnet, was in Wahrheit ein Überfall war und zu einem Krieg wurde, der mittlerweile vier Jahre dauert, Tausende Menschen das Leben gekostet, Millionen aus ihrer Heimat vertrieben und das Donezk-Becken zu einer verwildernden Ödnis zwischen zerstörten Dörfern und niedergehenden Städten gemacht hat.
Seit vier Jahren hören wir die Nachrichten, sehen wir Bilder, fühlen wir die Ohnmacht – und wenden wir uns wieder unserem Alltag zu. Serhij Zhadan will das verhindern. Er stammt aus der Donezk-Region, die so weit entfernt zu sein scheint und doch ganz Europa erschüttert.
Wo Krieg ist, reduziert sich das Leben auf elementare Dinge. Tage, an denen nichts passiert, sind glückliche Tage, weil sie Tage des Überlebens sind. So gesehen hat Serhij Zhadan einen Roman über den Kriegsalltag geschrieben, der oft banal scheint, aber jeden Tag zum Kampf ums nackte Überleben wird. Eine Episode unter vielen: Ein Mann möchte den Sohn seiner Schwester von der Schule abholen, weil er gehört hat, dass diese unter Beschuss geraten sei. Um zur Schule zu kommen muss er quer durch die Stadt, was schon schwierig genug ist. Auf dem Rückweg gerät er mit dem Jungen vollends zwischen die Fronten.
Was der Autor schildert, ist manchmal schwer zu ertragen und sollte man dennoch gelesen haben. Nicht nur, weil es die Schrecken, die Grausamkeit des Krieges in der Ukraine so lakonisch, brutal und doch mitfühlend vor Augen führt. Sondern auch weil er zeigt, wozu Menschen in der Lage sind, wenn sie in ihrem tiefsten Stolz herausgefordert werden und aufgeben sollen, was sie niemals freiwillig aufgeben würden.
Serhij Zhadans Figuren werden zum Beleg, dass der Krieg aus Menschen das Schlimmste und das Beste hervorbringen kann. Er zeigt, dass es selbst unter den härtesten Umständen Zusammenhalt, Verbundenheit und Menschlichkeit gibt – Eigenschaften, die freilich in den meisten Fällen keine Chance zum Überleben haben.
Dieser Roman ist ein Zeugnis dafür, dass Gegenwartsliteratur durchaus poetisch und politisch sein kann. Hochpolitisch. Zurecht steht Serhij Zhadans Roman „Internat“ im April 2018 auf der SWR-Bestenliste.
Serhij Zhadan, Internat. Berlin: Suhrkamp 2018, 300 Seiten
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