Andrius Kubilius: Warum ich einen Marshall-Plan für die Ukraine fordere
Der ehemalige Premierminister von Litauen meint, dass früher die Frontlinie durch Litauen verlief, heute aber mitten durch die Ukraine. Von der EU fordert er deshalb einen Marshall-Plan: „Wenn wir die Ukraine aufgeben und sich selbst überlassen, hätte sie eine hohe Chance zu scheitern.“
Vor 30 Jahren gründete Litauen eine landesweite Reformbewegung und begab sich auf die Suche nach Freiheit. Nicht nur für sich. Wir haben auch die Zukunft der europäischen Freiheit verteidigt. Ohne den Sieg, der 1990 mit der Erklärung zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit seinen Höhepunkt erreichte, wären Litauen und Europa heute sehr unterschiedlich gewesen.
Derselbe Kampf wird meiner Meinung nach jetzt in der Ukraine gekämpft. Die Zukunft der Ukraine steht auf dem Spiel. Ein Sieg in der Ukraine würde sich heute aber nicht nur in der Ukraine oder in Litauen, sondern auch in ganz Europa, das bis nach Russland reicht, niederschlagen. Eine Niederlage in der Ukraine würde dagegen einen Rückschritt für uns alle bedeuten. Das ist der Grund, warum ich diesem Konflikt so große Bedeutung beimesse und im Westen immer noch lautstark bleibe.
Vor 30 Jahren war die Widerstandsfähigkeit Litauens die wichtigste Priorität. Es ist nun an der Zeit, die Widerstandsfähigkeit der Ukraine und seine Motivation für die Reformen zu erhöhen. Die Ukraine braucht nicht nur Hilfe bei der Verteidigung vor militärischer Aggression. Es müssen auch ukrainische, litauische und westliche Anstrengungen gebündelt werden, um den Weg für erfolgreiche Wirtschaftsreformen nach westlichem Vorbild zu ebnen.
In unserem Fall wurde unser Erfolg bei der Umsetzung von Reformen in den 1990er Jahren eindeutig durch eine Strategie des Westens unterstützt – uns wurde eine Perspektive für die Mitgliedschaft in der EU angeboten, die eine Grundlage für unseren internen Konsens über die Reformagenda wurde. Für die Ukraine ist das heute nicht der Fall.
In Ermangelung der Möglichkeit, der Ukraine die EU-Perspektive in unmittelbarer Zukunft anzubieten, ist es wichtig, nach einer neuen und ehrgeizigen Leitinitiative der EU Ausschau zu halten, die das langfristige Ziel der EU-Mitgliedschaft nicht ersetzt und es der Ukraine ermöglicht, mittelfristig die Motivation für die Fortsetzung des westlichen Kurses sowie die Umsetzung von Strukturreformen zu bewahren und zu stärken.
Im März 2017 hat das litauische Parlament die Initiative zu einem neuen europäischen Plan für die Ukraine (analog zum Marshall-Plan für Europa) ergriffen und an die westlichen Länder appelliert, ein spezifisches und umfangreiches Instrument für westliche Investitionen in die Realwirtschaft der Ukraine zu entwickeln. Es spiegelte auch den Aufruf der internationalen Gemeinschaft von Intellektuellen nach einer langfristigen Marshall-Plan-ähnlichen Unterstützung für die Ukraine wider.
Erstens basiert der Plan auf der Idee, dass ein jährliches Investitionspaket in Höhe von 5 Mrd. Euro für Investitionen in die Realwirtschaft der Ukraine, einschließlich Infrastruktur, kleine und mittlere Unternehmen sowie kommunale Projekte, gebündelt werden muss. Bislang war der größte Teil der finanziellen Unterstützung des Internationalen Währungsfonds auf die Gewährleistung der makrofinanziellen Stabilität ausgerichtet.
Ein neues Investitionsprogramm im Rahmen des Plans könnte auf die Realwirtschaft ausgerichtet sein und bis zu zehn Jahre dauern. Seine Umsetzung würde das Wirtschaftswachstum des Landes von 6–8% sichern, während die ukrainische Wirtschaft heute nur um 2–3% wächst. Und wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass für die erste Einführungsphase des Plans kein neues Geld benötigt wird, da für die Ukraine bereits mehr als 5 Mrd. Euro von verschiedenen internationalen Finanzinstitutionen (IFI) zugeordnet wurde, eine Summe, die das Land noch nicht aufgebraucht hat.
Zweitens werden die Mittel im Rahmen des Plans nur dann in die Ukraine gelangen, wenn die Ukraine die vereinbarten Reformen im Bereich der Investitionen erfolgreich umsetzt. Ein klares Prinzip sollte unser Handeln regeln: erst Reformen, dann das Geld.
Drittens muss die Ukraine für den Erfolg des Plans eine engagierte Agentur für dessen Umsetzung einrichten. Sie sollte von der Regierung unabhängig sein und von den wichtigsten Geldgebern in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Regierung eingerichtet werden. Die Hauptaufgaben der Agentur sollten Folgendes umfassen: 1) ordnungsgemäße Vorbereitung von Projekten zur Finanzierung und Überwachung ihrer Durchführung; 2) Gewährleistung der Transparenz des gesamten Prozesses; 3) Monitoring der Umsetzungseffizienz von den vereinbarten Reformen; und 4) die Erhöhung der Sichtbarkeit des Europäischen Plans für die Ukraine in der Ukraine selbst.
Das Hauptziel des Plans, genau wie das des Marshall-Plans von 1947, besteht darin, den Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen. Wenn wir der Ukraine nicht helfen, wird Wladimir Putin der Gewinner sein.
Die Unterstützung des Marshall-Plans für die Ukraine, die im März 2017 auf dem Kongress der Europäischen Volkspartei in Malta unter Beteiligung von Angela Merkel und Petro Poroschenko zum Ausdruck gebracht wurde, machte uns bewusst, wie viel Arbeit vor uns liegt und wie wichtig es ist, die Unterstützung europäischer Entscheidungsträger in Anspruch zu nehmen.
Der Plan wurde in einer Reihe wichtiger Hauptstädte und Institutionen vorgestellt. Wir haben zusammen mit unseren Kollegen vom Parlament der Ukraine (mein persönlicher Dank an die Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Abgeordnete Hanna Hopko) zweimal Berlin bereist und dabei die deutlich wachsende Unterstützung der deutschen Entscheidungsträger beobachtet, dass Europa in der Ukraine eine Führungsrolle übernehmen muss.
Die Sichtbarkeit des Plans ist in Kiew und in der ganzen Ukraine gewachsen und gute Kontakte zu den relevanten Entscheidungsträgern in vielen Hauptstädten, der Europäischen Kommission und in dem Europäischen Parlament wurden geknüpft. Es wurde ein sehr enger Dialog mit den einschlägigen internationalen Finanzinstitutionen entwickelt: der Weltbank, der EIB und der EBWE. Wir alle haben ein gemeinsames Verständnis für die wichtigsten Herausforderungen in der Ukraine.
In diesem Zusammenhang begrüße ich die Initiative von Johannes Hahn vom 25. April 2018 zum Reform für Investitionen in der Ukraine. Dies ist ein wichtiger Schritt der Europäischen Kommission, einen Reformprozess in der Ukraine anzuregen, und sie folgt der Logik unseres Vorschlags zum europäischen Plan für die Ukraine. Es ist eine rechtzeitige Initiative, die vor Beginn des Wahlkampfes um die Präsidentschaft und das Parlament in der Ukraine ergriffen wurde.
Diese Initiative von Kommissionsmitglied Hahn könnte, wenn sie sinnvoll genutzt wird, bis 2018 in der Ukraine für private und öffentliche Investitionen bis zu 500 Mio. Euro einbringen und die Investitionskapazität der Ukraine steigern. Es erfordert auch die Erfüllung von drei Bedingungen in Bezug auf Energieregulierer, Ombudsstelle für Unternehmen und eine aktuelle Anforderung an Antikorruptionsaktivisten, elektronische Erklärungen abzugeben.
In diesem Zusammenhang möchte ich ermahnen, unsere Kräfte mit internationalen Gebern, Partnern und Finanzinstitutionen, einschließlich der deutschen nationalen Förderinstitution KFW, zusammenzubringen, um die investitionsbezogene Unterstützung für die Ukraine greifbar und sichtbar zu machen, die vor allem mit den Fortschritten in der Schaffung von Investitionskapazitäten und der Umsetzung von Reformen verbunden wäre.
Dieses Instrument hat das Potenzial, sich zu einem vollwertigen Investitionspaket zu entwickeln, das durch intelligente Investitionen, Konditionalität und Mobilisierung internationaler Geber zum Anker für ein Wirtschaftswachstum in der Ukraine wird. Ich hoffe, dass dies investitionsbezogene Reformen einschließt und die Umsetzung des kürzlich eingeleiteten EU-Außeninvestitionsplans sowie die Diskussionen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU in Bewegung hält.
Der Dialog auf der Ebene der Regierung und des Parlaments der Ukraine hat bewiesen, dass es funktionieren kann. Wir werden unsere Arbeit mit der Ukraine fortsetzen, um sie bei der Bewältigung der noch ausstehenden Herausforderungen für Reformen, die Schaffung von Investitionskapazitäten zu unterstützen und unseren Dialog zu einer regelmäßigen Praxis zu machen. Die Erfahrung Litauens zeigt, dass eine institutionelle Abhilfe notwendig ist, um Kapazitäten aufzubauen und Sorge für kurz- bis mittelfristige vorrangige Projekte in den Bereichen öffentliche Infrastruktur, Kommunen, Sozial- und Umweltinvestitionen, Mobilisierung privater Mittel und insbesondere den Wiederaufbau der Ostukraine zu tragen.
Wir glauben, dass eine Einigung über diese Fragen, einschließlich der Reformen und Investitionen, in einem konstruktiven Dialog zwischen der internationalen Gemeinschaft und den wichtigsten politischen Akteuren in der Ukraine gefunden werden wird. Wir schätzen sehr die Schlüsselrolle der EU-Unterstützungsgruppe für die Ukraine und der G7-Ukraine-Unterstützungsgruppe, mit denen wir eine sehr konstruktive und fruchtbare Zusammenarbeit haben.
Ich höre oft die Äußerungen der Kritiker, dass wir den Marshall-Plan für die Ukraine nicht vorlegen können, da der ukrainische Rechtsrahmen weit von westlichen Standards entfernt ist. Dies kann durchaus der Fall sein, aber man kommt nicht umhin zu sehen, wie viele komplexe Reformen die Ukraine bereits nach dem Maidan durchgeführt hat. Das ganze Gerede über die Schwäche der Ukraine ist für mich ein noch größerer Beweis, dass die Ukraine Hilfe braucht. Starke Länder brauchen keinen Marshall-Plan, aber wenn wir die schwachen Länder aufgeben und sich selbst überlassen, haben sie eine hohe Chance zu scheitern. Daher ist die heutige Schwäche der Ukraine das stärkste Argument für den Marshall-Plan für die Ukraine.
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