5 Jahre Maidan (4/​4): „Das kul­tu­relle Leben ist trotz oder viel­leicht wegen aller Schwie­rig­kei­ten in voller Blüte“

Im vierten Inter­view der Reihe spra­chen wir mit dem ukrai­ni­schen Publi­zis­ten und His­to­ri­ker Andrij Portnow.

Am 21. Novem­ber 2013 gab die ukrai­ni­sche Regie­rung über­ra­schend nach starkem Druck der rus­si­schen Regie­rung bekannt, das Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men mit der Euro­päi­schen Union vorerst nicht unter­zeich­nen zu wollen. Der Inves­ti­ga­ti­v­jour­na­list Mustaja Najem und andere riefen dar­auf­hin zu fried­li­chen Pro­tes­ten auf dem Unab­hän­gig­keits­platz in Kyjiw auf. Der pro-euro­päi­sche Protest wurde kurze Zeit später zu einer breiten Pro­test­be­we­gung gegen den Prä­si­den­ten und seine Regie­rung. Kurz nach dem fünften Jah­res­tag des Pro­test­be­ginns spra­chen wir im Rahmen einer Kon­fe­renz der Hein­rich-Böll-Stif­tung mit Mustafa Najem, Arkady Ost­row­sky, Andrij Was­ko­wycz und Andrij Portnow darüber, wie sie die ver­gan­ge­nen fünf Jahre bewer­ten und wie sie auf das so wich­tige Super­wahl­jahr 2019 schauen. Das vierte Inter­view in der Reihe führten wir mit dem ukrai­ni­schen Publi­zis­ten und His­to­ri­ker Andrij Portnow.

Was hat sich 5 Jahre nach dem Maidan ver­än­dert und wie kann man dieser Ver­än­de­rung an prak­ti­schen Bei­spie­len festmachen?

Die Zivil­ge­sell­schaft hat eine viel wich­ti­gere Rolle ein­ge­nom­men als noch vor fünf Jahren. Wir wissen das alle, dass auch gewalt­be­reite oder rechts­ra­di­kale Akteure Teil der Zivil­ge­sell­schaft sein können. Aber ins­ge­samt haben zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteure einen viel grö­ße­ren und in den meisten Fällen posi­ti­ven Ein­fluss auf das Geschehen.

Zwei­tens, die Visums­frei­heit: Oft im Westen unter­schätzt, aber das war eine ganz wich­tige Ver­än­de­rung. Also jetzt, wenn wir ukrai­ni­sche Exper­ten nach Berlin oder Frank­furt Oder ein­la­den, so können diese ganz einfach zu uns kommen. Früher dauerte das Monate und hat es einigen eben nicht erlaubt, nach Europa zu kommen. Für die Ukraine ist das eben von zen­tra­ler Bedeu­tung. Die Euro­päi­sche Union hat die Bedeu­tung Rei­se­frei­heit fast ver­ges­sen, aber für uns ist diese Visums­freie Reisen von zen­tra­ler Bedeu­tung gewesen.

Drit­tens, heute gibt es in der Ukraine viel mehr Kul­tur­pro­dukte und kul­tu­relle Initia­ti­ven als vorher. Das hat auch zum Teil mit der erstark­ten Zivil­ge­sell­schaft zu tun. Aber wirk­lich es gab noch nie so viele Fes­ti­vals, Kon­zerte, Filme, diese Bien­na­len, Buch­mes­sen usw. Also das kul­tu­relle Leben ist trotz oder viel­leicht wegen aller Schwie­rig­kei­ten in voller Blüte. Das gibt mir eine große Hoffnung.

Es gibt Berei­che, die ich sehr gut kenne, in denen es wenig Ver­än­de­run­gen gibt. Zum Bei­spiel im Bil­dungs­we­sen. Es gibt einige Gesetze und viel Rhe­to­rik über Europa und euro­päi­sche Werte, aber die Rea­li­tät an den meisten Hoch­schu­len des Landes ist eher pro­ble­ma­tisch. Das ist extrem schade, weil ich in der Zeit des Maidans geglaubt habe, dass eben der so wich­tige Bereich der Bildung viel schnel­ler und umfas­sen­der ver­än­dert wird.

Was sind Hoff­nun­gen und Ängste für das Jahr 2019?

Meine Intui­tion sagt mir, dass die Wahlen, der andau­ernde Krieg und die schwie­rige wirt­schaft­li­che Lage weiter sehr gefähr­lich bleiben. Niemand weiß, wann oder wie der Krieg auf­hö­ren wird und das ist gefähr­lich für die Gesell­schaft. Es gibt immer mehr Gewalt in der Gesell­schaft. Und vor den Wahlen habe ich auch große Sorgen, ganz ehrlich. Einer­seits ist es offen, wie die Wahlen aus­ge­hen und das ist eben ein gutes Zeichen für unsere Demo­kra­tie. Es gibt viele Kan­di­da­ten, viele Par­teien und dadurch werden im nächs­ten Jahr die ver­schie­dens­ten Sze­na­rien möglich. Ander­seits ist die Gefahr des Popu­lis­mus sehr groß.

Ich höre jetzt regel­mä­ßig von Freun­den und Kol­le­gen und Bekann­ten, dass sie keine Ahnung haben, wen sie unter­stüt­zen sollen. Diese spür­bare Des­ori­en­tie­rung ist schon gefähr­lich. In diesem Klima ist die Gefahr von Popu­lis­mus und ein­fa­chen Ant­wor­ten auf ganz kom­pli­zierte Fragen groß.

Aber trotz alledem gibt es natür­lich auch Hoff­nung. Noch ist schließ­lich alles möglich und wir haben unser Schick­sal zum Groß­teil in der eigenen Hand.

Andrij Portnow ist ein ukrai­ni­scher His­to­ri­ker und Publi­zist. Er hat die Pro­fes­sur für „Ent­an­gled History of Ukraine“ an der Europa Uni­ver­si­tät Frank­furt Oder inne.

Das Inter­view führte Mattia Nelles.

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