5 Jahre Maidan (2/4): „Die Menschen haben zwar die Fähigkeiten bewiesen Herrscher aus dem Amt zu jagen, aber sie haben es nicht geschafft, selbst politische Macht im Land zu übernehmen“
Der Journalist und Buchautor Arkady Ostrowsyk ist einer der führenden Osteuropa Experten Großbritanniens. Mit ihm sprachen wir über seine Einschätzung der letzten fünf Jahre der Ukraine und des anstehenden Superwahljahrs 2019.
Am 21. November 2013 gab die ukrainische Regierung überraschend nach starkem Druck der russischen Regierung bekannt, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Der Investigativjournalist Mustaja Najem und andere riefen daraufhin zu friedlichen Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw auf. Der pro-europäische Protest wurde kurze Zeit später zu einer breiten Protestbewegung gegen den Präsidenten und seine Regierung. Kurz nach dem fünften Jahrestag des Protestbeginns sprachen wir im Rahmen einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung mit Mustafa Najem, Arkady Ostrowsky, Andrij Waskowycz und Andrij Portnow darüber, wie sie die vergangenen fünf Jahre bewerten und wie sie auf das so wichtige Superwahljahr 2019 schauen. Das zweite Interview in der Reihe ist mit Arkady Ostrowsky, dem Russland und Osteuropa Redakteur des Economists.
Was hat sich 5 Jahre nach dem Maidan verändert und wie kann man dieser Veränderung an praktischen Beispielen festmachen?
Ich denke, eine der größten Veränderungen ist der Einfluss der Zivilgesellschaft auf das politische Geschehen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Ukraine eine sehr starke aktivistische Gesellschaft hat und, dass man die Macht in der Ukraine nicht zentralisieren und an sich reißen kann. Es hat sich gezeigt, dass einige der Institutionen als Folge der starken Zivilgesellschaft tatsächlich funktionieren.
Ich stimme Mustafas [Najem] Analyse zu. Die Abstimmung in der Rada über das Kriegsrecht zeigt tatsächlich, dass das Parlament das Gefühl hat, jemanden zu vertreten, dass es eine repräsentative Institution ist. Es ist nicht nur eine Fälschung oder ein Sprachrohr des Präsidenten. So funktionieren Checks and Balances auch in Kriegssituationen.
Die letzten Jahre zeigten auch, dass es Menschen gibt, die bereit sind, ein Risiko einzugehen, insbesondere in der neuen Generation, um die etablierten Interessen und Korruption zu bekämpfen. Das Nationale Antikorruptions Büro der Ukraine (NABU) ist mehr ein Erfolg als ein Misserfolg. Meiner Meinung nach hat die Ukraine eine gewisse Widerstandsfähigkeit bewiesen, dass es als Land insgesamt kein postsowjetisches Land sein will.
Die Menschen haben zwar die Fähigkeiten bewiesen Herrscher aus dem Amt zu jagen, aber sie haben es nicht geschafft, selbst politische Macht im Land zu übernehmen. Ohne echte politische Kontrolle der entscheidenden Institutionen ist es eben sehr schwierig wirklich tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen.
Die letzten Jahre zeigten aber auch, dass die Ukraine kein politisches System hat das Meinungsverschiedenheiten, Frustration oder zivile Energie in politische Institutionen lenken kann. Dadurch wird Macht nicht richtig delegiert und Frustration entschärft. Die Menschen haben zwar die Fähigkeiten bewiesen Herrscher aus dem Amt zu jagen, aber sie haben eben nicht geschafft, selbst die politische Macht im Land zu übernehmen. Ohne echte politische Kontrolle der entscheidenden Institutionen ist es eben sehr schwierig wirklich tiefgreifende Veränderungen herbeizuführen.
Was sind Hoffnungen und Ängste für das Jahr 2019?
Meine Angst ist die Verankerung oder Verhärtung des Systems. Die Eliten handeln rational. Die letzten Jahre haben zwar bewiesen, dass ein gewisser Druck gegen das System vorhanden ist. Wenn die Elite versucht, das Land auf die gleiche Weise zu regieren und zu plündern, wie es unter Janukowytsch der Fall war, wird es wieder Massenproteste geben. Aber das System ist eben auch lernfähig.
Ich befürchte also, dass sich das System verschanzen wird. Vielmehr fürchte ich, dass Russland weiterhin versuchen wird, soziale Konflikte zu schüren- gerade das Kirchenthema ist hochexplosiv. Ich mache mir Sorgen, dass der ukrainische Staat die Unterstützung seiner Bevölkerung verliert. Ich mache mir Sorgen um grundlegende zivile Konflikte, dass die Oligarchen und Machtakteure – nicht nur die Oligarchen – und ich denke beispielsweise an Herrn Awakov – ihre Stärke jetzt nicht an der Größe ihres Bankkontos oder der Größe des Fernsehpublikums messen. Sie messen sich gegenseitig an der Größe ihrer Armee, ihrer bewaffneten Bevölkerung. Und das ist meiner Meinung nach ein wirklich großes Risiko.
Meine Hoffnung ist, dass die Ukraine – wie sie uns immer wieder überrascht hat – zusammenhält und allmählich anfängt, die alten Oligarchen zu vertreiben und weiter macht, starke und unabhängige Institutionen zu schaffen. Vielmehr hoffe ich, dass die Zivilgesellschaft beginnt, immer mehr politischen Raum einzunehmen.
Meine Hoffnung ist, dass die Ukraine – wie sie uns immer wieder überrascht hat – zusammenhält und allmählich anfängt, die alten Oligarchen zu vertreiben und weiter macht, starke und unabhängige Institutionen zu schaffen. Vielmehr hoffe ich, dass die Zivilgesellschaft beginnt, immer mehr politischen Raum einzunehmen. Sie muss das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen.
Arkady Ostrowsky ist Russland und Osteuropa Redakteur des Economist. Seit März 2007 schreibt er für das britische Magazin. Zuvor war er 10 Jahre für die Financial Times tätig. Er ist Autor des Buchs „The Invention of Russia: The Journey from Gorbachev’s Freedom to Putin’s War“.
Das Interview führte Mattia Nelles.
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