Die Justiz der Ukraine ist ein Verbrechersyndikat und sollte als solches behandelt werden
Die aktuelle Verfassungskrise in der Ukraine schafft eine Gelegenheit, um einen grundlegenden Wandel des korrupten und schwachen Justizsystems zu vollziehen. Eine zweite Chance bietet sich vielleicht nicht mehr an. Ein Beitrag von Mikhailo Zhernakov
Nehmen wir Tony Soprano, den fiktiven Kopf einer Verbrecherfamilie aus New Jersey. Seine Mafiaorganisation hat eine Struktur, eine Hierarchie und einen ungeschriebenen Verhaltenskodex. Ihre Mitglieder werden für ihren Dienst großzügig belohnt und bei Ungehorsam hart bestraft. Sie dringt in staatliche Institutionen ein und benutzt Bestechung, Drohungen und andere Mittel, um der gerechten Strafe zu entgehen. Letztendlich befasst sie sich mit rechtswidrigen Aktivitäten, die der Gesellschaft schaden, aber Geld und Privilegien für ihre Mitglieder erwirtschaften.
Ironischerweise weist das Justizsystem der Ukraine viele Ähnlichkeiten mit der erfolgreichen Fernsehserie Die Sopranos auf. Die Justiz der Ukraine ist zwar offiziell unabhängig, aber in Wirklichkeit gibt es eine Reihe inoffizieller Hauptpersonen und Bosse, die sie hinter den Kulissen kontrollieren. Sie wird von ungeschriebenen Regeln bestimmt. Bestechung ist alltäglich.
Die Fäulnis beginnt ganz oben. Der Hohe Justizrat der Ukraine, der die Aufgabe hat, die Unabhängigkeit der Richter schützen und sie bei Fehlverhalten zu disziplinieren, wird stattdessen beschuldigt, Whistleblower strafrechtlich zu verfolgen und gleichzeitig korrupte Personen und Strukturen unangetastet zu lassen.
Im Sommer 2020 veröffentlichte das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) Aufnahmen, die angeblich im Büro von Pavlo Vovk, dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts der Stadt Kyjiw aufgenommen worden waren. Auf den Aufnahmen scheinen Vovk und andere Richter die Einflussnahme auf andere Gerichte und Justizbehörden zu planen, und sie prahlen damit, dass sie „zwei Gerichte in der Hand haben – das Amtsgericht und das Verfassungsgericht“. Trotz öffentlicher Empörung und einer anschließenden strafrechtlichen Untersuchung lehnte der Hohe Justizrat es einstimmig ab, diese Richter zu suspendieren.
Letzten Herbst hat sich die Lage deutlich verschlechtert. Im Oktober demontierte das Verfassungsgericht der Ukraine ein Schlüsselelement der ukrainischen Infrastruktur zur Korruptionsbekämpfung. Es entschied, dass diejenigen, die bei Vermögenserklärungen falsche Angaben machen, nicht länger strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das Gericht beraubte die Nationale Agentur für Korruptionsprävention nahezu all ihrer Befugnisse und entzog das System der Vermögenserklärungen der öffentlichen Kontrolle.
Diese Schritte standen im Widerspruch zum Gesetz. Die Entscheidung war nicht gut begründet. Das Gericht ging über den Rahmen der Verfassungsvorlage hinaus und hob sogar einige Korruptionsbekämpfungsvorschriften auf, die das Gericht gar nicht zu berücksichtigen hatte.
Es wird weithin angenommen, dass die Korruptionsbekämpfungsstrukturen der Ukraine nicht die eigentliche Zielscheibe der 47 prorussischen und von Oligarchen kontrollierten Mitglieder des ukrainischen Parlaments waren, die die Vorlage an das Verfassungsgericht zuerst unterzeichnet hatten. Stattdessen hatten die Abgeordneten, die auf ein Urteil des Verfassungsgerichts gedrängt hatten, darauf abgezielt, die Beziehungen zwischen der Ukraine und ihren westlichen Partnern zu schädigen. Diese sehen den Kampf gegen die Korruption als eine Schlüsselbedingung für die weitere Zusammenarbeit und für die Unterstützung der euro-atlantischen Integration der Ukraine.
Die jüngste Entscheidung des Verfassungsgerichts hat in der Ukraine eine politische Krise ausgelöst und das Ausmaß der Herausforderung unterstrichen, die die unreformierte Justiz des Landes darstellt. Hier geht es um mehr als nur darum, dass sich die alten Eliten der Ukraine gegen eine Reformagenda wehren, die ihre Dominanz zu untergraben droht. Die Oligarchengruppen, die hinter dieser Konterrevolution im Gerichtssaal stehen, arbeiten aktiv für die Interessen des Kremls, um die Eigenstaatlichkeit der Ukraine zu untergraben.
Dies erfordert sofortiges Handeln, nicht nur seitens der ukrainischen Regierung, sondern auch seitens der westlichen Partner des Landes.
Zuerst muss die Ukraine das Verfassungsgericht in Ordnung bringen. Die Anzahl der Stimmen, die von den einzelnen Richtern benötigt werden, um eine Entscheidung des Verfassungsgerichts zu verabschieden, sollte erhöht werden, um korrupten Beamten weniger Gelegenheit zu bieten, die Arbeit des Gerichts zu beeinflussen. Die Zusammensetzung des Gerichts muss sich ebenfalls ändern. Entscheidend ist, dass dies über eine wettbewerbsorientierte und transparente Auswahl geschieht, die einer Kontrolle von außen unterzogen wird.
Eine komplette Überprüfung des Verfassungsgerichts wäre der erste von vielen notwendigen Schritten. Das Verfassungsgericht ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs, der droht, die Anstrengungen der Ukraine bei der Korruptionsbekämpfung zu versenken und es der Oligarchenelite erlaubt, ungestraft zu handeln. Die Wurzeln des Problems reichen tief in das System hinein und können nur durch eine umfassende Justizreform behoben werden. Die Ukraine hat eine solche bereits mehrmals versucht, aber sie ist ihr nie auch nur ansatzweise gelungen. In der Tat würden einige behaupten, dass alle bisherigen Bemühungen kaum mehr als kosmetischen Charakter hatten.
Diesmal sollten wir jedoch nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.
Die ukrainischen Behörden sollten nicht so tun, als ob das Justizsystem des Landes in irgendeiner Weise in der Lage wäre, sich selbst zu reinigen. Stattdessen sollten wir es wie ein Verbrechersyndikat behandeln, das vom Feind kontrolliert wird.
Die Richter am Verfassungsgericht, die die jüngsten Entscheidungen zur Untergrabung der Korruptionsbekämpfung getroffen haben, sollten einer gründlichen Untersuchung unterzogen werden. Sie sollten bestraft und ihre internationalen Vermögenswerte eingefroren werden. Der Rest der ukrainischen Justiz muss sich einer ähnlichen Prüfung unterziehen, mit der Möglichkeit rechtlicher Konsequenzen bis hin zu Haftstrafen.
Die Justizbehörden der Ukraine, wie der Hohe Justizrat und die Kommission für hohe richterliche Qualifikation, müssen mit Hilfe unabhängiger internationaler Experten neu aufgestellt werden. Tatsächlich ist dies etwas, wozu die Ukraine bereits aufgrund ihrer Verpflichtungen gegenüber dem IWF und der EU verpflichtet ist. Die Durchsetzung dieser Verpflichtung könnte den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern der Justizreform ausmachen.
Sobald sie neu besetzt sind, müssen diese Institutionen die Herkulesaufgabe angehen, korrupte Richter zu entlassen und Ersatzpersonen mit den nötigen Qualifikationen einzustellen. Auch der Zivilgesellschaft der Ukraine sollte ein echtes Mitspracherecht bei diesem Prozess eingeräumt werden, und sie sollte Befugnisse erhalten, um zu verhindern, dass korrupte Richter im Amt bleiben.
Die schiere Größe des Unterfangens, vor dem die Ukraine steht, sollte nicht unterschätzt werden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sich eine bessere Gelegenheit bieten wird. Die aktuelle Krise, die durch das Verfassungsgericht ausgelöst wurde, hat dazu beigetragen, eine Gelegenheit zu schaffen, die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels in der dysfunktionalen und korrupten Justiz der Ukraine anzusprechen. Auch gibt es derzeit noch genügend Stimmen im Parlament, um eine reformorientierte Mehrheit zu bilden, zumindest theoretisch.
Wenn die Ukraine jetzt nicht handelt, bieten sich vielleicht keine vergleichbaren Gelegenheiten mehr. Das wäre für die Zukunft des Landes katastrophal. Wenn das Gerichtssystem nicht von der chronischen Korruption gesäubert wird, werden alle zukünftigen Versuche, Reformen und die euro-atlantische Integration zu verfolgen, zur Geisel juristischer Sabotage. Die Ukrainer:innen werden in einer Gesellschaft gefangen bleiben, die hinter den Kulissen von einem schadhaften Justizsystem kontrolliert wird, das im Interesse oligarchischer Clans und des Kremls arbeitet.
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