Die Justiz der Ukraine ist ein Ver­bre­cher­syn­di­kat und sollte als solches behan­delt werden

© Alek­sandr Gusev /​ Imago Images

Die aktu­elle Ver­fas­sungs­krise in der Ukraine schafft eine Gele­gen­heit, um einen grund­le­gen­den Wandel des kor­rup­ten und schwa­chen Jus­tiz­sys­tems zu voll­zie­hen. Eine zweite Chance bietet sich viel­leicht nicht mehr an. Ein Beitrag von Mikhailo Zhernakov

Nehmen wir Tony Soprano, den fik­ti­ven Kopf einer Ver­brecher­fa­mi­lie aus New Jersey. Seine Mafia­or­ga­ni­sa­tion hat eine Struk­tur, eine Hier­ar­chie und einen unge­schrie­be­nen Ver­hal­tens­ko­dex. Ihre Mit­glie­der werden für ihren Dienst groß­zü­gig belohnt und bei Unge­hor­sam hart bestraft. Sie dringt in staat­li­che Insti­tu­tio­nen ein und benutzt Bestechung, Dro­hun­gen und andere Mittel, um der gerech­ten Strafe zu ent­ge­hen. Letzt­end­lich befasst sie sich mit rechts­wid­ri­gen Akti­vi­tä­ten, die der Gesell­schaft schaden, aber Geld und Pri­vi­le­gien für ihre Mit­glie­der erwirtschaften.

Iro­ni­scher­weise weist das Jus­tiz­sys­tem der Ukraine viele Ähn­lich­kei­ten mit der erfolg­rei­chen Fern­seh­se­rie Die Sopra­nos auf. Die Justiz der Ukraine ist zwar offi­zi­ell unab­hän­gig, aber in Wirk­lich­keit gibt es eine Reihe inof­fi­zi­el­ler Haupt­per­so­nen und Bosse, die sie hinter den Kulis­sen kon­trol­lie­ren. Sie wird von unge­schrie­be­nen Regeln bestimmt. Bestechung ist alltäglich.

Die Fäulnis beginnt ganz oben. Der Hohe Jus­tiz­rat der Ukraine, der die Aufgabe hat, die Unab­hän­gig­keit der Richter schüt­zen und sie bei Fehl­ver­hal­ten zu dis­zi­pli­nie­ren, wird statt­des­sen beschul­digt, Whist­le­b­lower straf­recht­lich zu ver­fol­gen und gleich­zei­tig kor­rupte Per­so­nen und Struk­tu­ren unan­ge­tas­tet zu lassen.

Im Sommer 2020 ver­öf­fent­lichte das Natio­nale Anti­kor­rup­ti­ons­büro der Ukraine (NABU) Auf­nah­men, die angeb­lich im Büro von Pavlo Vovk, dem Prä­si­den­ten des Ver­wal­tungs­ge­richts der Stadt Kyjiw auf­ge­nom­men worden waren. Auf den Auf­nah­men schei­nen Vovk und andere Richter die Ein­fluss­nahme auf andere Gerichte und Jus­tiz­be­hör­den zu planen, und sie prahlen damit, dass sie „zwei Gerichte in der Hand haben – das Amts­ge­richt und das Ver­fas­sungs­ge­richt“. Trotz öffent­li­cher Empö­rung und einer anschlie­ßen­den straf­recht­li­chen Unter­su­chung lehnte der Hohe Jus­tiz­rat es ein­stim­mig ab, diese Richter zu suspendieren.

Letzten Herbst hat sich die Lage deut­lich ver­schlech­tert. Im Oktober demon­tierte das Ver­fas­sungs­ge­richt der Ukraine ein Schlüs­sel­ele­ment der ukrai­ni­schen Infra­struk­tur zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung. Es ent­schied, dass die­je­ni­gen, die bei Ver­mö­gens­er­klä­run­gen falsche Angaben machen, nicht länger straf­recht­lich zur Ver­ant­wor­tung gezogen werden. Das Gericht beraubte die Natio­nale Agentur für Kor­rup­ti­ons­prä­ven­tion nahezu all ihrer Befug­nisse und entzog das System der Ver­mö­gens­er­klä­run­gen der öffent­li­chen Kontrolle.

Diese Schritte standen im Wider­spruch zum Gesetz. Die Ent­schei­dung war nicht gut begrün­det. Das Gericht ging über den Rahmen der Ver­fas­sungs­vor­lage hinaus und hob sogar einige Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fungs­vor­schrif­ten auf, die das Gericht gar nicht zu berück­sich­ti­gen hatte.

Es wird weithin ange­nom­men, dass die Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fungs­struk­tu­ren der Ukraine nicht die eigent­li­che Ziel­scheibe der 47 pro­rus­si­schen und von Olig­ar­chen kon­trol­lier­ten Mit­glie­der des ukrai­ni­schen Par­la­ments waren, die die Vorlage an das Ver­fas­sungs­ge­richt zuerst unter­zeich­net hatten. Statt­des­sen hatten die Abge­ord­ne­ten, die auf ein Urteil des Ver­fas­sungs­ge­richts gedrängt hatten, darauf abge­zielt, die Bezie­hun­gen zwi­schen der Ukraine und ihren west­li­chen Part­nern zu schä­di­gen. Diese sehen den Kampf gegen die Kor­rup­tion als eine Schlüs­sel­be­din­gung für die weitere Zusam­men­ar­beit und für die Unter­stüt­zung der euro-atlan­ti­schen Inte­gra­tion der Ukraine.

Die jüngste Ent­schei­dung des Ver­fas­sungs­ge­richts hat in der Ukraine eine poli­ti­sche Krise aus­ge­löst und das Ausmaß der Her­aus­for­de­rung unter­stri­chen, die die unre­for­mierte Justiz des Landes dar­stellt. Hier geht es um mehr als nur darum, dass sich die alten Eliten der Ukraine gegen eine Reform­agenda wehren, die ihre Domi­nanz zu unter­gra­ben droht. Die Olig­ar­chen­grup­pen, die hinter dieser Kon­ter­re­vo­lu­tion im Gerichts­saal stehen, arbei­ten aktiv für die Inter­es­sen des Kremls, um die Eigen­staat­lich­keit der Ukraine zu untergraben.

Dies erfor­dert sofor­ti­ges Handeln, nicht nur seitens der ukrai­ni­schen Regie­rung, sondern auch seitens der west­li­chen Partner des Landes. 

Zuerst muss die Ukraine das Ver­fas­sungs­ge­richt in Ordnung bringen. Die Anzahl der Stimmen, die von den ein­zel­nen Rich­tern benö­tigt werden, um eine Ent­schei­dung des Ver­fas­sungs­ge­richts zu ver­ab­schie­den, sollte erhöht werden, um kor­rup­ten Beamten weniger Gele­gen­heit zu bieten, die Arbeit des Gerichts zu beein­flus­sen. Die Zusam­men­set­zung des Gerichts muss sich eben­falls ändern. Ent­schei­dend ist, dass dies über eine wett­be­werbs­ori­en­tierte und trans­pa­rente Auswahl geschieht, die einer Kon­trolle von außen unter­zo­gen wird.

Eine kom­plette Über­prü­fung des Ver­fas­sungs­ge­richts wäre der erste von vielen not­wen­di­gen Schrit­ten. Das Ver­fas­sungs­ge­richt ist nur die Spitze eines rie­si­gen Eis­bergs, der droht, die Anstren­gun­gen der Ukraine bei der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung zu ver­sen­ken und es der Olig­ar­chen­elite erlaubt, unge­straft zu handeln. Die Wurzeln des Pro­blems reichen tief in das System hinein und können nur durch eine umfas­sende Jus­tiz­re­form behoben werden. Die Ukraine hat eine solche bereits mehr­mals ver­sucht, aber sie ist ihr nie auch nur ansatz­weise gelun­gen. In der Tat würden einige behaup­ten, dass alle bis­he­ri­gen Bemü­hun­gen kaum mehr als kos­me­ti­schen Cha­rak­ter hatten.

Diesmal sollten wir jedoch nicht die Fehler der Ver­gan­gen­heit wiederholen. 

Die ukrai­ni­schen Behör­den sollten nicht so tun, als ob das Jus­tiz­sys­tem des Landes in irgend­ei­ner Weise in der Lage wäre, sich selbst zu rei­ni­gen. Statt­des­sen sollten wir es wie ein Ver­bre­cher­syn­di­kat behan­deln, das vom Feind kon­trol­liert wird.

Die Richter am Ver­fas­sungs­ge­richt, die die jüngs­ten Ent­schei­dun­gen zur Unter­gra­bung der Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung getrof­fen haben, sollten einer gründ­li­chen Unter­su­chung unter­zo­gen werden. Sie sollten bestraft und ihre inter­na­tio­na­len Ver­mö­gens­werte ein­ge­fro­ren werden. Der Rest der ukrai­ni­schen Justiz muss sich einer ähn­li­chen Prüfung unter­zie­hen, mit der Mög­lich­keit recht­li­cher Kon­se­quen­zen bis hin zu Haftstrafen.

Die Jus­tiz­be­hör­den der Ukraine, wie der Hohe Jus­tiz­rat und die Kom­mis­sion für hohe rich­ter­li­che Qua­li­fi­ka­tion, müssen mit Hilfe unab­hän­gi­ger inter­na­tio­na­ler Exper­ten neu auf­ge­stellt werden. Tat­säch­lich ist dies etwas, wozu die Ukraine bereits auf­grund ihrer Ver­pflich­tun­gen gegen­über dem IWF und der EU ver­pflich­tet ist. Die Durch­set­zung dieser Ver­pflich­tung könnte den Unter­schied zwi­schen Erfolg und Schei­tern der Jus­tiz­re­form ausmachen.

Sobald sie neu besetzt sind, müssen diese Insti­tu­tio­nen die Her­ku­les­auf­gabe angehen, kor­rupte Richter zu ent­las­sen und Ersatz­per­so­nen mit den nötigen Qua­li­fi­ka­tio­nen ein­zu­stel­len. Auch der Zivil­ge­sell­schaft der Ukraine sollte ein echtes Mit­spra­che­recht bei diesem Prozess ein­ge­räumt werden, und sie sollte Befug­nisse erhal­ten, um zu ver­hin­dern, dass kor­rupte Richter im Amt bleiben.

Die schiere Größe des Unter­fan­gens, vor dem die Ukraine steht, sollte nicht unter­schätzt werden. Es ist jedoch unwahr­schein­lich, dass sich eine bessere Gele­gen­heit bieten wird. Die aktu­elle Krise, die durch das Ver­fas­sungs­ge­richt aus­ge­löst wurde, hat dazu bei­getra­gen, eine Gele­gen­heit zu schaf­fen, die Not­wen­dig­keit eines grund­le­gen­den Wandels in der dys­funk­tio­na­len und kor­rup­ten Justiz der Ukraine anzu­spre­chen. Auch gibt es derzeit noch genü­gend Stimmen im Par­la­ment, um eine reform­ori­en­tierte Mehr­heit zu bilden, zumin­dest theoretisch.

Wenn die Ukraine jetzt nicht handelt, bieten sich viel­leicht keine ver­gleich­ba­ren Gele­gen­hei­ten mehr. Das wäre für die Zukunft des Landes kata­stro­phal. Wenn das Gerichts­sys­tem nicht von der chro­ni­schen Kor­rup­tion gesäu­bert wird, werden alle zukünf­ti­gen Ver­su­che, Refor­men und die euro-atlan­ti­sche Inte­gra­tion zu ver­fol­gen, zur Geisel juris­ti­scher Sabo­tage. Die Ukrainer:innen werden in einer Gesell­schaft gefan­gen bleiben, die hinter den Kulis­sen von einem schad­haf­ten Jus­tiz­sys­tem kon­trol­liert wird, das im Inter­esse olig­ar­chi­scher Clans und des Kremls arbeitet.

Textende

Portrait von Mikhailo Zhernakov

Mikhailo Zher­na­kov ist Direk­tor der DeJuRe-Stif­tung, einer Orga­ni­sa­tion zur För­de­rung der Rechts­staat­lich­keit in der Ukraine.

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.