Awakow: Machterhalt mit allen Mitteln
Die Rücktrittsforderungen an Innenminister Awakow werden wegen Skandale in der ukrainischen Polizei immer lauter. Trotzdem hält sich Arsen Awakow beharrlich auf seinem Posten. Was macht ihn so unersetzbar und welche Rolle hat er in Selenskyjs neuer Personalpolitik, die stärker auf erfahrene Minister setzt? Teil 2 eines Longread in drei Akten. Von Johann Zajaczkowski
AKT I – RÜCKBLICK: WAHLKAMPF UND MACHTDUALISMUS
AKT II – EINBLICK: MACHTERHALT MIT ALLEN MITTELN
Awakow als Profiteur des Kurswechsels?
Der kaderpolitische Kurswechsel Selenskyj– weg von den „neuen Gesichtern“ hin zu „erfahrenen Leuten“ –, bei dem kurz nacheinander der Leiter der Präsidialadministration, der Ministerpräsident, die Mehrheit des Kabinetts und schließlich der Generalstaatsanwalt ausgewechselt wurden, liegt auch im Interesse des Innenministers Awakow.
Erstens normalisiert der Kurswechsel die politische Teilhabe von Vertretern des alten Systems. Die Kritik an Awakows Wiederberufung wurde damit ein Stück weit von den Ereignissen überholt. Innersystemisch, so heißt es aus Regierungskreisen, wurde seine Erfahrung ohnehin bereits wertgeschätzt.
Zweitens macht der Erfolgsdruck Selenskyj zum Getriebenen populistischer Forderungen. Er reagiert auf sinkende Popularitätsratings, indem er die Verantwortung für schleppende Fortschritte bei Reformen auf andere Akteure abwälzt. Dies reduziert politisches Denken auf den Wunsch nach schnellen Ergebnissen anstelle von strategisch und langfristig angelegten Konzepten. Damit geht eine Vorstellung von effekthaschender Politik einher, die dem Politikstil Awakows sehr nahekommt.
Drittens profitiert Awakow von den Änderungen im Machtgefüge, die mit dem Kurswechsel einhergehen – auch wenn sie vordergründig den Einfluss seines wichtigsten Verbündeten, des Oligarchen Ihor Kolomojskyj, schmälern.
Das Bündnis zwischen Awakow und Kolomojskyj hat seinen Ursprung in der Post-Maidan-Phase. Kolomojskyj war damals Gouverneur der Oblast Dnipro und beteiligte sich finanziell (mit rund 10 Millionen US-Dollar) und organisatorisch am Aufbau zahlreicher Freiwilligenbataillone – darunter auch des Azow-Bataillons. Seitdem pflegen die beiden einen regen Austausch. Kolomojskyj wird nicht müde, Awakows Leistungen und Fähigkeiten zu loben, er schlug ihn für das Amt des Ministerpräsidenten vor, und am Tag der Inauguration Selenskyj trafen sich die beiden zum Gespräch.
Ihre Interessen überschneiden sich situativ vor allem im Widerstand gegen die Arbeit der Antikorruptionsorgane, gegen eine reformorientierte (wirtschaftsliberale) Regierung und gegen einen progressiven Generalstaatsanwalt.
Kolomojskyj will insbesondere die Ende 2016 unter Poroschenko erfolgte Verstaatlichung seiner Privatbank rückgängig machen und fordert eine Entschädigung für die damit verbundenen Verluste. Mittlerweile wurde das Bankengesetz, das genau das unmöglich machen soll (eine Forderung des IWF im Gegenzug für dringend notwendige Hilfskredite), in zweiter Lesung in der Rada verabschiedet. Selenskyj, der keine eigenen Machtressourcen besitzt, ging es bei diesem Kaderwechsel auch darum, Mutmaßungen über einen starken Einfluss Kolomojskyjs den Wind aus den Segeln zu nehmen und eine eigene Machtvertikale zu etablieren. Dies stärkt jedoch die Exekutivorgane insgesamt und auf eine Weise, von der Awakow profitiert.
Auch hat das Abstimmungsverhalten der vergangenen Monate deutlich gemacht, dass die absolute Mehrheit der Diener des Volkes aufgrund interner Heterogenität und fehlender Fraktionsdisziplin nicht mehr als eine nominelle Mehrheit darstellt. Das zentrifugale Gewicht der zahlreichen dort vertretenen Interessengruppen ist hoch – ebenso wie die Abhängigkeit von Stimmen jenseits der eigenen Partei. Dies stärkt den Einfluss von Abgeordnetengruppen, die Awakow nahestehen. Als Zünglein an der Waage steigt ihr politisches Gewicht – und damit auch ihr Spielraum für Stimmenhandel und politische Hinterzimmerdeals.
Machtcluster in der Rada und ihren Ausschüssen
Awakow hat eine Reihe von Verbündeten innerhalb der Mehrheitsfraktion der Diener des Volkes (darunter einige Abgeordnete aus der Region Charkiw, in der Awakow lange Zeit tätig gewesen ist) als auch bei parteilosen Abgeordneten, die ihr Mandate in Mehrheitswahlkreisen gewonnen haben. Zwei Abgeordnetengruppen stechen besonders hervor: die 17 Mitglieder zählende Gruppe Dovira (Vertrauen), die von Andrij Ivantschuk geleitet wird, einem alten Bekannten Awakows aus Volksfront-Zeiten; und die 23 Abgeordnete starke Gruppe Za Maybutne (Für die Zukunft), die auch als Gruppe Awakow-Kolomojskyj bezeichnet wird. Viele dieser Abgeordneten haben Korruptionsverfahren am Hals und verfolgen somit ähnliche Interessen wie Awakow.
Innerhalb der Fraktion zählt eine Gruppe rund um die Abgeordneten Oleksandr Dubinskyj und Maksym Buschanskij zu den Verbündeten Kolomojskyjs. Viele – nicht alle – ihrer Politprojekte spielten Awakow in die Hände. Bei der Abwahl des Generalstaatsanwalts etwa spielten die beiden eine Schlüsselrolle.
Dementsprechend sitzen seine Loyalisten auch in einer Reihe von parlamentarischen Ausschüssen. Einer der wichtigsten davon ist der Strafverfolgungsausschuss. Der Vorsitzende des Ausschusses, Denys Monastyrskij, war in der vergangenen Regierungsperiode Mitarbeiter des engen Awakow-Beraters (und derzeit stellvertretenden Innenminister) Anton Heraschtschenko. Auf etliche Ausschussmitglieder hat Awakow maßgeblichen Einfluss – darunter Oleksandr Bakumow, den ehemaligen Leiter der Polizeibehörde in Charkiw, den stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Hryhorij Mamka, der bis 2016 im Innenministerium tätig war, oder Awakows ehemaligen Berater Illa Kiwa, mit dem ihm seit seiner Zeit als Mitglied eines Freiwilligenbataillons ein tiefes Loyalitätsverhältnis verbindet.
Bezeichnenderweise sind Mamka und Kiwa mithilfe der prorussischen Partei Oppositionsplattform – für das Leben in die Rada eingezogen. Der Leiter des Zentrums für Politische Studien „Doctrine“ Jaroslaw Boschko ist überzeugt, dass viel Geld den Besitzer gewechselt hat, um ihnen die Plätze zu verschaffen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Abgeordnetenmandate verkauft werden. Damit ist nicht gesagt, dass die beiden willfährige Marionetten Awakows sind, doch die Schnittmenge ihrer Interessen dürfte hoch sein.
Exkurs: Eine illustre Gesellschaft
Mamkas Werdegang ist eine nahezu idealtypische Illustration dessen, was unter Awakow schiefläuft. Mamka durchlief eine langjährige Sozialisation bei der im Zuge der Polizeireform aufgelösten Miliz und war dort in verschiedenen Ermittlungsfunktionen tätig. Als Leiter einer Ermittlungsgruppe sabotierte er eine Untersuchung zu Betrugsfällen eines Oligarchen. 2015 wurde er vom damaligen Gouverneur der Oblast Odesa – Michail Saakaschwili – vom Dienst suspendiert. Dieser bezeichnete ihn als „Säule eines Systems der Korruption und Erpressung innerhalb der alten Miliz“. Wenige Monate später wurde er vom korrupten Bezirksverwaltungsgericht in Kyjiw wieder auf seinen Posten gebracht. Der Versuch, ihn zum Dienst in der ATO-Zone abzuschieben, wurde vom selben Gericht abgewehrt.
Die Personalie Illa Kiwa hingegen gibt Aufschluss über die Monetarisierung von Awakows Machtmitteln in der Grauzone zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und staatlich bemäntelten Eigeninteressen. 2017 gründete Kiwa innerhalb der Nationalen Polizei unter deren Leiter Serhij Knyazjew (der jetzt als Berater von Awakow tätig ist) die Abteilung Bezpeka Schyttja (Schutz des Lebens). Die offizielle Idee war, über die Abteilung die Resozialisierung von Veteranen zu ermöglichen und mit ihrer Hilfe die öffentliche Ordnung sicherzustellen.
Da trifft es sich gut, dass Kiwa Vorsitzender der Allukrainischen Veteranen-Vereinigung ist. Eine Reihe von Veteranen arbeitet für die Abteilung – allerdings als Zivilisten, die Experten zufolge keiner geltenden Gesetzgebung unterworfen sind. Faktisch dient die Einrichtung kommerziellen Zwecken, da sie durch Bereitstellung von Sicherheitsaktivitäten Geld verdient. Hinzu kommt der Umstand, dass sich Mitglieder der Abteilung gerne auf Kundgebungen tummeln. Im Sommer vergangenen Jahres störten sie etwa einen Protest gegen den Leiter der Speziellen Antikorruptions-Staatsanwaltschaft Nazar Cholodnitskij. Ihm wird vorgeworfen, die Arbeit der Antikorruptionsorgane zu sabotieren. Die Gegendemonstranten – darunter Kiwa höchstselbst – übergossen den Leiter des Zentrums für Korruptionsbekämpfung Witalij Schabunin mit grüner Farbe. Die Vermutung liegt nahe, dass die Abteilung zu politischen Zwecken genutzt wird.
Abwehr und Angriff – die Funktionen des Strafverfolgungsausschusses
Der Strafverfolgungsausschuss ist ein Nadelöhr für Gesetzesvorhaben mit Bezug zu den Exekutivorganen. Er wird – erstens – zur Abwehr eines Machtverlustes des Innenministeriums genutzt. Dies beginnt schon auf diskursiver Ebene: Eine offene und kritische Diskussion über die Defizite des Ministeriums findet nicht statt. Auch die personalpolitische Bedingung, dass Awakow von der neuen Partei der Macht neue Stellvertreter als Gegengewicht zur Seite gestellt werden, wurde hintertrieben. Von seinen sechs Stellvertretern hatten drei ihre Posten bereits in der vergangenen Legislaturperiode inne, nur eine einzige vom Präsidialbüro vorgeschlagene Person wurde eingesetzt.
Im Fokus stehen jedoch hard politics. So sabotierte der Ausschuss den Versuch Selenskyjs, das Innenministerium zu demilitarisieren. Ein Gesetzesentwurf, der die Nationalgarde dem Oberbefehlshaber (also dem Präsidenten) unterstellt und damit der Kontrolle durch Awakow entzogen hätte, verharrt seit über einem halben Jahr im prozeduralen Niemandsland des Ausschusses.
Ähnliches lässt sich im Bereich der Wirtschaftskriminalität beobachten. Bei der Nationalen Polizei ist die Abteilung für Wirtschaftsschutz angesiedelt. Ihre Aktivitäten stehen in krassem Gegensatz zu ihrer nominellen Funktion: Die Korruption dort gilt als endemisch, die Abteilung wird zur Erpressung und Bestechung eingesetzt und funktioniert als klassische Pyramide – ein bestimmter Teil der auf den unteren Dienststufen „eingeworbenen“ Gelder wird nach oben weitergereicht. Um dem entgegenzuwirken, reichte die Mehrheitsfraktion der Diener des Volkes einen Gesetzesentwurf ein, der vorsah, die Tätigkeiten in eine eigens dafür zu gründende Behörde auszulagern. Auch diesen Entwurf brachte besagter Strafverfolgungsausschuss zu Fall. Kolomojskyj, der sonst eine Reihe von Untersuchungen einer solchen Behörde im Umfeld seiner Privat-Gruppe zu befürchten gehabt hätte, dürfte diese Entwicklung gefreut haben.
Zweitens gehen vom Ausschuss Initiativen zur Ausweitung der Kompetenzbereiche und Befugnisse des Innenministeriums aus. Ein Gesetzesvorhaben zielt etwa darauf ab, der Nationalgarde – analog zur Polizei – das Recht zu Verhaftungen bei Ordnungswidrigkeiten einzuräumen. Olena Schtscherban vom Antikorruptions-Aktionszentrum sieht angesichts dieser Machtfülle eine Annäherung an das russische Modell. Ein anderes Gesetzesvorhaben, das dem Ausschuss seit Januar vorliegt, sieht die Schaffung von geheimdienstlichen (Parallel-)Strukturen innerhalb der Nationalgarde vor, ohne deren Ziele, Umfang und Schranken näher zu präzisieren.
Der Analyst Yaroslaw Boschko sieht im Aktivismus, den Awakow seit einiger Zeit in der Drogenbekämpfung an den Tag legt, ein Indiz dafür, dass er diesen Bereich aus der Ägide des Gesundheitsministeriums herausbrechen möchte. Eine entsprechende Initiative sei bereits vom „Charkiwer Clan“ in der Rada vorangebracht worden.
Gründe für die Abwahl des Generalstaatsanwalts
Die Abwahl des Generalstaatsanwalts (GSA) Ruslan Rjaboschapka ist vor diesem Hintergrund eine aufschlussreiche Fallstudie. Wie unter einem Brennglas bündeln sich in dieser Episode der Einfluss der Machtcluster, die Folgen des Kurswechsels sowie der daraus resultierende Nutzen für Awakow.
Die parlamentarische Initiative für das Misstrauensvotum gegen Rjaboschapka ging von den bereits erwähnten Abgeordneten Dubinskij und Buschanskij aus. Da Teile der eigenen Fraktion sich gegen die Absetzung Rjaboschapkas stellten – vor einem halben Jahr war er noch mit 312 Abgeordnetenstimmen gewählt worden –, waren die Diener des Volkes auf die Stimmen von Dovira und Za Maybutne angewiesen – und auf Stimmen der Oppositionsplattform. Auch 17 Vertreter des Strafverfolgungsausschusses stimmten für seine Demission. Wie kommt´s?
Erstens sein Reformwille. Der Posten des GSA ist stark politisiert und zumeist Teil der Machtvertikale des Präsidenten, da der GSA per Mehrheitsbeschluss vom Parlament gewählt – und diese von der Partei des Präsidenten gestellt wird. In der Vergangenheit war der GSA meist ein Instrument für politische Repression und Korruption. Da der GSA im Institutionengefüge der Strafverfolgungsbehörden nach wie vor eine herausragende Stellung einnimmt, kann er die Arbeit der anderen Institutionen leicht sabotieren.
Ruslan Rjaboschapka hob sich von dieser Tradition ab und wurde im In- und Ausland als progressiver Reformer angesehen – zu Recht, wie ein Blick auf seine langjährige Tätigkeit in staatlichen und nichtstaatlichen Antikorruptionszusammenhängen und sein Reformwille zeigen.
In dem halben Jahr seiner Amtszeit entließ er 729 (von insgesamt 11.000) Staatsanwälten, davon allein 632 von 1.339 im Hauptbüro, bei denen Zweifel an deren Kompetenz und Integrität bestanden, und eröffnete 1.200 Ermittlungsverfahren gegen korrupte Beamte. Für eine Reihe von Parlamentariern war das Grund genug, seine Abwahl zu unterstützen – schließlich sind korrupte Staatsanwälte ein wesentlicher Bestandteil ihrer Macht.
Zweitens seine Integrität. Rjaboschapka widersetzte sich den Bemühungen, ein politisch motiviertes Verfahren gegen Poroschenko wegen Machtmissbrauchs anzustrengen. Ein Schauprozess gegen Poroschenko ohne Einhaltung rechtsstaatlicher und verfahrensrechtlicher Standards wäre die logische Konsequenz aus der Strategie Selenskyjs, seine Beliebtheitswerte durch populistische Effekthascherei in die Höhe zu treiben. Dass sich Rjaboschapka dem widersetzte, zeigt neben seiner Integrität vor allem, dass er kein loyaler Befehlsempfänger Selenskyj war (und daher den Durchgriff der Exekutive effektiv verhinderte).
Drittens die Veränderungen im Machtgefüge. Erst der Wechsel des Leiters der Präsidialadministration Andrij Bohdan zu Andrij Yermak hat seine Abwahl auf die Agenda gebracht. Bohdan war für eine Reihe von Personalentscheidungen verantwortlich – und schlug neben Premierminister Hontscharuk, den er dem Präsidenten vorgestellt hatte, auch Rjaboschapka für sein Amt vor. Bis zu seiner Ernennung war dieser als Bohdans Stellvertreter und Berater in Antikorruptionsfragen in der Präsidialadministration tätig. Jermak revidierte die personalpolitischen Entscheidungen seines Vorgängers. Gemeinsam mit dem Hauptberater des Präsidenten, Serhij Schefir, trieb er die Regierungsumbildung zu Schmyhal ebenso voran wie die Ablösung von Rjaboschapka zur neuen GSA Iryna Wenediktowa. In diesem Sinne war die Weigerung Rjaboschapkas, gegen Poroschenko vorzugehen, nur ein willkommener äußerer Anlass, um den Durchgriff der Machtvertikale über einen loyalen GSA nun doch zu verwirklichen.
Folgen der Abwahl des Generalstaatsanwalts (I): Effektivität schlägt Integrität
Was hat das mit Awakow zu tun?
In der Abwahl Rjaboschapkas deutet sich ein Machtzuwachs der Silowiki insgesamt und ihrer politischen Kultur an. Innerhalb des Machtzirkels stellte Bohdan eine Art informelles Gegengewicht zu den Interessen der Exekutivbehörden dar. Er war verantwortlich für Reformen in diesem Bereich und hatte in dieser Funktion auch zu Reformen des Innenministeriums gedrängt. Auch brachte er eine politische Kultur der offenen Kritik, des Aktivismus und der direkten Kontrolle in den Apparat. Damit machte er sich unter den behäbigen Silowiki keine Freunde.
Diese Beobachtung trifft stärker noch auf Rjaboschapka zu. Ein Schlüsselmoment ist in diesem Zusammenhang die Rede Selenskyj am vierten März in der Rada, kurz vor dem Rücktritt Hontscharuks. Darin geißelte er die Machtfülle, Korruptheit und Ineffizienz der Strafverfolgungsbehörden – und zielte mit seiner Kritik nicht etwa auf die Leiter des Innenministeriums oder des SBU, sondern ausgerechnet auf Rjaboschapka ab. Es ist möglich, dass er wirklich glaubt, was er gesagt hat. Denn während die Silowiki beständige Lobbyarbeit beim Präsidenten betrieben, ihre Machtlosigkeit angesichts der herrschenden Zustände beteuerten und sich von ihrer Verantwortung freisprachen, ließ sich Rjaboschapka selten blicken, um Überzeugungsarbeit zu leisten.
Vor allem jedoch zeichnet sich damit ein Sieg des kurzfristigen Effizienzdenkens zulasten der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien ab. Ausgerechnet der Kolomojskyj nahestehende Buschanskij brachte für die Abwahl Rjaboschapkas das Argument hervor, dass dessen Reformen zu einem Bearbeitungsstau von rund 2.000 Fällen geführt hätten. Das Dilemma zwischen korrumpierter Effizienz und reformbedingtem Stillstand erwähnte er nicht.
Awakow und die Morde
In dieser Hinsicht ist ein Vergleich der Rolle Rjaboschapkas und Awakows im Scheremet-Mordfall von 2016 besonders aufschlussreich. Wir erinnern uns: die Aufklärung hochrangiger Mordfälle war eine der wesentlichen Bedingungen für den Verbleib Awakows auf seinem Posten.
Im Dezember vergangenen Jahres präsentierte Awakow auf einer Pressekonferenz fünf Verdächtige im Scheremet-Mordfall – allesamt waren sie in unterschiedlicher Funktion involviert in den seit 2014 andauernden Krieg gegen die russischen Invasoren in der Ostukraine und alle sind in der Gesellschaft wohlgelitten. Rjaboschapka stellte kurz darauf die Beweislage in Zweifel und weigerte sich, die Verfahren gegen Verdächtigen zur Anklage zu bringen. Weite Teile der Zivilgesellschaft und journalistische Kreise äußerten sich ebenfalls skeptisch zur Beweislage – bis hin zu dem Vorwurf, man habe es hier mit einem Schauprozess zu tun.
Während Awakow also für die Inszenierung von Erfolgen belohnt wird, wurde Rjaboschapka für seine Weigerung abgestraft, es ihm gleichzutun und die Verantwortung für einen politisch motivierten Prozess gegen Poroschenko zu übernehmen.
Nebenbei bemerkt machte Awakow auf besagter Pressekonferenz deutlich, was er von den Aktivisten hält: „Wir sperren euch ein, wenn wir wollen. Ihr alle seid eine organisierte kriminelle Vereinigung.“ Adressiert waren seine Worte an eine Gruppe von Demonstrierenden, die gegen die Haft der Verdächtigen protestierten.
Im besten Fall ist der kritische Teil der Zivilgesellschaft für Awakow ein Ärgernis, im schlimmsten Fall führen die Spuren bei einigen der rund 70 Morde an Aktivisten und Journalisten zu verschiedenen Exekutivbehörden – und damit auch zu Awakows Leuten. So erklärt sich in vielen der Fälle sein geringes Interesse an einer Aufklärung im Filz aus involvierten Lokalbehörden und Richtern, die keinen Skandal riskieren wollen. Gleiches gilt für Pogrome gegen Roma, die meist durch rechtsradikale, von verschiedenen Exekutivorganen patronierte Gruppierungen begangen und von der Polizei mit großer Nachsicht behandelt werden.
Folgen der Abwahl des Generalstaatsanwalts (II): Rückschlag für Reformkräfte
Awakow – und allen, die Interesse an einem korrumpierten Justizsystem haben – kommen die ersten Amtshandlungen der neuen GSA Iryna Wenediktowa gelegen. Im Zuge der Säuberung des Apparats von Rjaboschapkas Leuten ernannte sie vor kurzem Oleksij Simonenko und Andrij Lyubowitsch zu ihren Stellvertretern. Lyubowitsch wird vorgeworfen, in seiner Funktion als Leiter der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsabteilung des Oblast Dnipropetrowsk während der Revolution der Würde an der Verfolgung von Demonstrierenden beteiligt gewesen zu sein. Simonenko soll unter Janukowytsch einen politisch motivierten Prozess gegen Tymoschenko wegen Veruntreuung angeleitet haben.
Auch revidierte Iryna Wenediktova die Entlassung korrupter Staatsanwälte durch Rjaboschapka und schloss Vertreter der Zivilgesellschaft, internationaler Organisationen sowie Botschaften vom neuen Auswahlprozess aus. Eine Reihe von Staatsanwälten ist auf diese Weise bereits wiedereingesetzt worden. Korrupte Staatsanwälte sind ein wichtiges Element von Awakows Machtpyramide. Über sie schützt er seine Polizeikader vor strafrechtlicher Verfolgung.
Bezeichnenderweise sprach sich auch Andrij Portnow für die Abwahl von Rjaboschapka aus. Der Jurist Portnow war in der Administration von Janukowitsch tätig und ist nicht nur ein enger Vertrauter von Dubinskij, sondern auch der juristische Berater der Kolomojskyj-Gruppe. Er kam im Mai vergangenen Jahres in die Ukraine zurück. In den Medien wird er häufig als „grauer Kardinal” der Justiz bezeichnet. Faktisch stellt er eine Art „Korruptions-Manager“ dar und kontrolliert loyale Gerichte. Die Stärkung des Janukowytsch-Clans stärkt auch Awakow.
Resiliente Seilschaften untergraben den Justizapparat
Hinzu kommt, dass Iryna Wenediktowa eine alte Bekannte von Awakow ist. Sie kennen sich aus ihrer Charkiwer Zeit, beide sind über ein institutionell gefestigtes Netz aus Seilschaften miteinander verbunden. Vor ihrem Amtsantritt war Iryna Wenediktowa als Leiterin der Staatlichen Untersuchungsbehörde (DBR) tätig. In dieser Funktion hatte sie noch Mitte März in einem Interview mit der ukrainischen Wochenzeitung „Fokus“ erklärt, dass Anschuldigungen gegen Awakow, wonach dieser die Maidan-Mordfälle sabotiere, unbegründet seien.
Das DBR nahm 2018 als Teil der neuen institutionellen Reformarchitektur im Justizwesen seine Arbeit auf. Aufgabe der Ermittlungsbehörde ist die juristische Verfolgung und Ahndung krimineller Aktivitäten und Korruptionsfälle hochrangiger Exekutivbeamter unterhalb der Minister- und Präsidialebene (diese ist dem Nationalen Antikorruptionsbüro, kurz NABU, vorbehalten).
Ihr Mann Denys Kolesnik arbeitet bei der Nationalen Polizei in der Abteilung Cyberpolizei und hat großen Einfluss im DBR. Es heißt, er nehme an wichtigen Treffen teil und beeinflusse sogar Personalentscheidungen. Zur selben Zeit, als Iryna Wenediktowa zur Abgeordneten gewählt wurde, erhielt Denys Kolesnik eine Beförderung. Nach Angaben der Ukrainska Prawda soll er durchgesetzt haben, dass Ruslan Birjukow zum Berater seiner Frau gemacht wird. Dieser hatte vorher bei der Nationalen Polizei gearbeitet und war 2018 in der Personalauswahlkommission des DBR tätig. Es heißt, Birjukow hätte bisweilen wie der faktische Leiter der DBR gewirkt. Wenediktova hält die Vorwürfe für frei erfunden und setzt sich mit juristischen Mitteln gegen sie zur Wehr.
Nach der Ablösung des skandalträchtigen Leiters des DBR Roman Truba durch Iryna Wenediktova behielten dessen Stellvertreter Olga Warchenko und Oleksandr Burjak – beide Volksfront-Quotenleute und Awakow-Loyalisten – ihre Posten. Infolge der starken Politisierung gilt der gesamte Auswahlprozess der Behördenkader als korrumpiert – und betrifft auch Burjak, der seit 2017 dabei ist. Dies führte zu der absurden Situation, dass jene, die das Innenministerium kontrollieren sollen, loyal zu dessen Führung stehen.
Die Seilschaften haben auch nach der Wahl neuer Stellvertreter ihre Resilienz bewiesen. Olga Warchenko erhielt einen Posten bei der Untersuchungsabteilung der Nationalen Polizei. Oleksandr Burjak wurde Anfang des Jahres von Wenediktowa zum Oberstaatsanwalt in der Abteilung des DBR ernannt, die seit Ende letzten Jahres anstelle des Büros des GSA für die Aufklärung der Maidan-Morde verantwortlich ist.
Bei den neuen Stellvertretern handelte es sich um fragwürdige Personalien, die zudem in einem manipulierten Auswahlprozess zu ihren Posten kamen – darunter der Ex-Anwalt von Janukowytsch, Oleksandr Babikow, und Oleksandr Sokolow, der als typischer Geheimdienst-Apparatschik gilt. Im Zuge ihres Wechsels zur GSA blieb Babikow stellvertretender Leiter des DBR, Sokolow hingegen wurde zum Leiter der Behörde befördert. Seine Frau Anna Sokolowa arbeitet für die Anwaltskanzlei einer gewissen Natalia Kolesnik – zufälligerweise die Mutter von Denys Kolesnik und damit Wenediktowas Schwiegermutter. Der Familienkreis schließt sich.
Von diesen Personalrochaden rund um den DBR dürfte Awakow direkt profitieren, denn sein Interesse an der Aufklärung der Maidan-Morde ist gering, da eine Reihe von Verdächtigen nach wie vor im Polizeiapparat tätig ist und von Awakow, der neopatrimonialen Logik folgend, gedeckt wird. Die alten Janukowytsch-Kader dürften das ähnlich sehen.
Überhaupt ist die Behörde wichtig für Awakow, da sie Ermittlungsfunktionen vom Büro des GSA übernommen hat und die GSA nur noch die eigentliche Prozessführung umsetzt. Der Umstand, dass ausgerechnet Denys Monastirskij als neuer Leiter des DBR gehandelt wurde, spricht Bände. Allerdings wurde seine derzeitige Position für zu wichtig befunden.
Sand im Getriebe
Die Bedeutung der Ermittlungsbefugnisse lässt sich besonders bei der Speziellen Antikorruptions-Staatsanwaltschaft (SAPO) veranschaulichen. Auch hier hat Awakow einige Freunde – allen voran dessen Leiter Nazar Cholodnitskyj, der mit Kolomojskyj verbandelt sein soll. Diese Institution sollte eigentlich eng mit dem NABU zusammenarbeiten, indem die SAPO-Staatsanwälte die NABU-Detektive bei ihren Ermittlungen anleiten und die Detektive Anklageschriften ausarbeiten, die durch die SAPO für den Gerichtsprozess vorbereitet werden.
Faktisch jedoch versanden immer wieder „heiße“ Fälle. Dies geschieht auf drei Wegen – eine schlampige Gesetzgebung mit ungeklärten Kompetenzbereichen macht es möglich.
Erstens: Die SAPO übergibt das Material nicht an die NABU, sondern an die Nationale Polizei – die die Fälle dann verschleppt, für nichtig erklärt oder auf andere Art und Weise blockiert. Die NABU unter der Leitung von Artyom Sytnyk gilt als letztes integres und vor allem unabhängiges Antikorruptionsorgan. Die Folge ist, dass korrupte und/oder überforderte gewöhnliche Polizeibeamte damit beauftragt sind, Fälle zu bearbeiten, die sich gegen ihre eigenen Patrone richten.
Zweitens: Das NABU leitet die Fälle zur SAPO weiter und sie werden dort verwässert. Genau dies ist im Falle des Rucksack-Skandals geschehen. 2016 eröffnete das NABU eine Untersuchung, in der sie dem Vorwurf nachging, dass Awakows Sohn Oleksandr und der stellvertretende Innenminister eine halbe Million Euro veruntreut haben, indem sie 2014 – auf dem Höhepunkt des Krieges gegen Russland – 5.000 überteuerte und minderwertige Militärrucksäcke des befreundeten Charkiwer Geschäftsmannes Wolodymyr Lytwyn an das Innenministerium verkauft hatten. 2018 wurden die Untersuchungsergebnisse an die SAPO weitergeleitet – und Cholodnitskyj ließ den Fall schließen, was als Ergebnis eines politischen Handels mit Awakow angesehen wurde.
Der Rucksack-Fall zeigt auch in aller Deutlichkeit, zu welchen Mitteln Awakow zu greifen bereit ist, wenn seine unmittelbaren Interessen gefährdet werden.
Nachdem der Fall geschlossen war, fand bei der Gerichtsexpertin Nadija Burgowa, die ein fachliches Gutachten zu Preis und Qualität der Rucksäcke erstellt hatte, eine nächtliche Hausdurchsuchung der Polizei statt. Dabei wurden ihr Drogen untergejubelt und das Material zur Expertise ohne Gerichtsbeschluss beschlagnahmt. Später wurde ihr Betrug vorgeworfen, doch das Verfahren kam nicht zustande – zu offensichtlich waren die Mängel der Beweisführung.
Drittens hat auch der Generalstaatsanwalt die Möglichkeit, Fälle ins Leere laufen zu lassen, indem er sie der Nationalen Polizei übergibt. Der Poroschenko-Vertraute und Vorgänger Rjaboschapkas Ihor Lutsenko etwa machte gemeinsam mit seinem Stellvertreter Wolodymyr Kriwenko von dieser Möglichkeit rege Gebrauch.
Last Man Standing
Aus Awakows Sicht ist ausgerechnet die Institution, die ihm am gefährlichsten werden könnte, zugleich auch die einzige, auf die er keinen direkten Einfluss ausüben kann. Denn unter dem Leiter der NABU Artyom Sytnyk werden alle Korruptionsfälle der politischen Top-Elite untersucht. Neben dem Rucksack-Skandal ist Awakow höchstselbst Gegenstand einer Untersuchung, bei der es um den Kauf von Mitsubishi-Automobilen zu völlig überhöhten Preisen (eine halbe Milliarde Hriwnija) geht. Auch dieser Fall wurde durch die SAPO verschleppt bzw. geschlossen.
Hier decken sich die Interessen mit Kolomojskyj, da der NABU Kriminalfälle im Zusammenhang etwa mit der PrivatBank und UkrNafta untersucht. Ein Fall, der Kolomojskyjs Fluggesellschaft MAU betrifft, wurde durch die SAPO von der NABU zur Nationalen Polizei transferiert.
Entsprechend geht Awakow mit harten Bandagen gegen Artyom Sytnyk vor. Davon ist die mediale Schlammschlacht, die Awakow vor allem mit persönlichen Beleidigungen auf Twitter führt, noch die harmloseste. Aufgrund hoher prozeduraler Hürden ist eine Abwahl Artyom Sytnyks allerdings schwer umzusetzen. Daher versucht es Awakow mithilfe von fabrizierten Korruptionsvorwürfen seitens der Nationalen Polizei und über seine Verbündeten in der Rada. Ein Gesetz, das seine Abwahl möglich machen könnte, wurde Ende April von Kolomojskyj Vertrauten in die Rada eingebracht. Ob dieses Gesetz auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt wird, ist aber unklar.
Schlussfolgerungen
Die Einsetzung Iryna Wenediktowas stärkt die Machtvertikale des Präsidenten. Dieser trat bisher – analog zur politischen Ebene – eher als Mediator existierender denn als Konstrukteur eigener Machtzentren auf. Eine loyale GSA und ein willfähriger SBU erleichtern es ihm, gegen unliebsame Konkurrenten vorzugehen – und notfalls auch die Mehrheitsfraktion durch Androhung von Strafverfahren auf Linie zu bringen. Im schlimmsten Fall könnte so auch Artyom Sytnyk um sein Amt gebracht werden, weil die Einflussgruppen rund um Awakow, Kolomoiskij und Co. dies immer stärker wollen.
Eine neue Entlassungswelle Ende April ließ nichts Gutes vermuten. Am selben Tag wurden der Chef der Staatlichen Steuerbehörde Serhij Werlanow und Maksym Nefjodow, der Leiter der Zollbehörde, entlassen und vom SAP ein Ermittlungsverfahren gegen Ruslan Rjaboschapka eingeleitet. Kurz darauf kam es zu einer großangelegten Durchsuchungsaktion von Zollbehördenleitern durch den SBU (die einzige Exekutivbehörde, die von Anfang an in die präsidiale Machtvertikale integriert war). Der kleinste gemeinsame Nenner der Genannten: Sie sind allesamt Reformer, die gegen Korruption vorgingen. Bleibt zu hoffen, dass die Personalwechsel doch nur übliche Nachbeben des Regierungswechsels sind.
Solange sich die personellen Veränderungen nicht gegen Awakow selbst oder seine Anhänger richten, liegen sie in seinem Interesse.
Andere Veränderungen sind ohnehin unwahrscheinlich – dafür tragen die Entlassungen zu deutlich die Handschrift der Einflussgruppen, die Awakow nahestehen. Der Abgeordnete Oleksandr Dubinskij etwa hatte schon Anfang März gemutmaßt, dass Serhij Werlanow demnächst seinen Posten verlieren werde.
Mittel- bis langfristig jedoch bringt die Konsolidierung der Machtblöcke gezwungenermaßen eine Verschärfung der Konkurrenz mit sich. Beide Seiten konkurrieren darum, möglichst alle Glieder der Kette Ermittlungsbefugnisse – Anschuldigung – Verurteilung unter Kontrolle zu bekommen.
In dem Maße, in dem Selenskyj die Begleichung der Rechnungen der alten Entourage überlässt und die Exekutivbehörden zunehmend repressiv agieren, dürfte auch das Protestpotential der Bevölkerung steigen und durch den patriotisch bewegten, gut organisierten Teil davon entsprechend angefeuert werden – was wiederum die Abhängigkeit Selenskyjs von seinem Schutzpatron Awakow erhöht. Es scheint, als gehe das altbekannte Spiel zum Leidwesen der Ukrainer in die nächste Runde.
Im dritten – und letzten Teil – folgt der Ausblick auf Awakows Tätigkeit in Zeiten der Corona-Pandemie.
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