Widerstand statt Verhandlung
Für Jürgen Habermas ist eine Niederlage der Ukraine nicht schlimmer als eine
Eskalation des Konflikts. Denn er begreift nicht, dass Putin den Westen im Visier hat, dessen Freiheit in der Ukraine verzweifelt verteidigt wird. Ein Kommentar von Anatoliy Yermolenko.
Die Philosophie von Jürgen Habermas steht mir außerordentlich nahe. Ich, ein Philosoph aus Kyjiw, war einer der Ersten in der Sowjetunion, der in den Siebzigerjahren die neue deutsche Philosophie für den sowjetischen intellektuellen Raum zu erschließen begann. Dieses Feld sollte noch lange von einer verkürzten und ideologischen Spielart des „Marxismus- Leninismus“ dominiert werden. Die Philosophie von Habermas hat dort eine jener „kleinen Revolutionen“ angestoßen, die faktisch alles verändert haben.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Kollaps ihres ideologischen Überbaus
brachte die kommunikative Philosophie aus Deutschland frischen Wind in unsere Köpfe. Die
Vorstellungen von einem entschränkten Horizont der Kommunikation, dem Sieg des besseren
Arguments anstelle von Gewalt und einer Auffassung von Kommunikation als Grundlage jeglicher
Ethik haben uns viele neue Antworten auf schwierige Fragen gegeben. Die Habermassche
Transformation der Sozialphilosophie auf Grundlage der Theorie des kommunikativen Handelns,
seine Diskursethik und seine politischen Untersuchungen hatten großen Einfluss auf die
Entwicklung der ukrainischen Philosophie in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Sie trug auch dazu bei, die theoretischen Grundlagen für die Herausbildung einer
Zivilgesellschaft und einer politischen Nation in der Ukraine zu schaffen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Ukraine konsequent den Weg der Demokratisierung der
Gesellschaft, der Schaffung moderner Institutionen und der moralischen und geistigen
Erneuerung der ukrainischen Gesellschaft beschritten. Währenddessen spielten sich östlich und
nördlich der Ukraine andere Prozesse ab. Die Rückkehr des Totalitarismus in Russland, die
Zerstörung der Demokratie sowie eine erneute imperiale Expansion haben den Geist der
Offenheit der Neunzigerjahre infrage gestellt. Wir Ukrainer bekamen dies sehr früh zu spüren:
Kann man einen Dialog mit denen führen, die die Werte der Freiheit und des Dialogs verleugnen?
Kann man mit denen kommunizieren, die dich vernichten wollen? Nach 2014, als Russland den
Krieg gegen die Ukraine begann, haben wir uns gefragt: Können wir mit jenen sprechen in dem
Augenblick, da sie dich töten und vernichten? Leider nein. Es ist schwierig, einen Dialog – mehr
noch: einen argumentativen Diskurs – zu führen, wenn auf dich geschossen wird und deine Städte
bombardiert werden.
Wir stoppen ihn und bezahlen dafür mit unseren Leben
Am 24. Februar 2022 begann Russland eine neue Phase seines Krieges – und eine neue Ära in der
europäischen Geschichte. Die Maxime „Nie wieder“, in deren Licht Europa und insbesondere
Deutschland seine Geschichte nach 1945 deutete, wich nun der neuen russischen Maxime „Wir
können es wieder tun“. Die Zerstörung ganzer Städte (Mariupol, Irpin, Hostomel, Borodjanka)
und Stadtteile (Charkiw, Tschernihiw), die Ermordung Zehntausender Menschen, Raketenangriffe
auf friedliche Städte, Folter, Vergewaltigung, die Hinrichtung von Zivilisten, die genozidalen
Handlungen und Kriegsverbrechen, die die Russen in Butscha und anderen Städtchen in der Nähe
von Kyjiw verübt haben und die sie jetzt im Süden und Osten des Landes fortsetzen, bedeuten die
Rückkehr des Bösen.
Dieses Übel ist zurückgekehrt, gerade weil es nie wirklich verurteilt worden ist. Weil es keine
wirkliche Niederlage erlitten hat. Im Gegensatz zum deutschen Nazismus und dem italienischen
Faschismus wurden russische imperiale Praktiken unmenschlicher und grausamer Politik – von
Iwan dem Schrecklichen bis zu Stalin – nie von der Welt bestraft. Deshalb sehen wir heute die
Reproduktion dieser Praktiken mit neuer Kraft. Heute schlägt das ukrainische Volk den Aggressor
entschlossen zurück und verteidigt seine Freiheit. Doch wir verteidigen nicht nur die Freiheit des
ukrainischen Volkes – unser nationaler Befreiungskampf gegen Russland ist auch ein Kampf für die
Freiheit Europas und der gesamten Menschheit. Aus diesem Grund neigt der „kollektive Westen“
immer stärker zu der Position, unseren Kampf durch die Bereitstellung wirtschaftlicher und
militärischer Hilfe zu unterstützen.
Natürlich kann man die Bedenken westlicher Regierungen und ihrer Öffentlichkeit(en) verstehen,
denn das „Überschwappen“ dieses Krieges außerhalb der Ukraine stellt eine Bedrohung für die
Welt dar, einschließlich der Gefahr der Vernichtung der Menschheit in einem dritten Weltkrieg.
Wir Ukrainer begreifen das sehr gut und tun alles, um Putin hier, in der Ukraine, aufzuhalten. Wir
stoppen ihn und bezahlen dafür mit unseren Leben.
Es ist ein Kettenmechanismus
Stehen wir aber wirklich vor einem Dilemma, wie es Jürgen Habermas in seinem Artikel „Krieg
und Empörung“ in der „Süddeutschen Zeitung“ skizziert hat? Ich erinnere an seine Worte: „Das
Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung von Alternativen im Raum zwischen zwei
Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation eines begrenzten Konflikts zum dritten
Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand.“ Ich glaube nicht, dass hier ein Dilemma vorliegt. Wird die
„Niederlage der Ukraine“ Putin von einer weiteren Eskalation abhalten? Die Erfahrungen mit
Georgien im Jahr 2008 oder der Ukraine in den Jahren 2014/2015 haben gezeigt, dass dies nicht
der Fall ist. Die beiden Übel, die Habermas beschreibt und die sein Dilemma bilden, sind in
Wirklichkeit ein und dasselbe Übel: das Übel des russischen Totalitarismus, der neuen russischen
Expansion, die eine weitere Eskalation und Verlagerung des Konflikts weit über die Ukraine hinaus
anstrebt. Schließlich verhehlt Russland nicht, dass es seit Langem Krieg gegen den ganzen
Westen führt.
Aus dem so skizzierten Dilemma schlägt Habermas einen Ausweg vor: „Aber zunächst müssen
wir einen konstruktiven Ausgang aus unserem Dilemma finden. Diese Hoffnung spiegelt sich in
der vorsichtigen Formulierung des Zieles, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf.“
Habermas ist also der Ansicht, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen, sondern „nicht
verlieren“ sollte? Was also bezeichnet dieser Ausgang genau? Bedeutet es etwa, dass Putin
ebenfalls „nicht verlieren“ soll? Dass die zivilisierte Welt also weiterhin nach Möglichkeiten
suchen wird, dass er sein „Gesicht wahren“ kann, anstatt dem neuen Übel entschlossenen
Widerstand zu leisten? Eine Rückkehr also ins Jahr 1938? Oder bedeutet „nicht verlieren“, dass
die Ukraine ihre Souveränität behalten, aber noch mehr Gebiete abgeben muss, insbesondere
jene, die gerade besetzt sind?
Falls ja, dann ist das ein gewaltiger Fehler. Eine Besatzung führt nämlich zur nächsten. Es ist ein
Kettenmechanismus, der nicht mehr aufgehalten werden kann, wenn er einmal losgetreten
wurde. Die Besatzung der Krim wäre nicht möglich gewesen, hätte Russland vor 2014 seine
Schwarzmeerflotte nicht dort stationiert. Die Zerstörung von Mariupol und der Genozid an der
dortigen Zivilbevölkerung wären unmöglich gewesen, wenn Russland nicht 2014 die Krim und den
Donbass besetzt hätte – da Mariupol von diesen besetzten Gebieten aus angegriffen wurde. Der
Angriff auf Kyjiw wäre unmöglich gewesen, wenn Russland Lukaschenkos Belarus nicht besetzt
hätte, denn die Stadt wurde von Belarus aus angegriffen, und der Genozid in Butscha ereignete
sich eben deshalb, weil Belarus russischen Truppen den Zugang auf ukrainisches Territorium
erlaubt hatte.
Dieser Traum ist ein Bestandteil russischer Propaganda
Mit anderen Worten: Jede Besetzung von Territorien führt zu einer weiteren Besatzung von
weiteren Territorien. Und wenn die Ukraine in diesem Krieg ihre Souveränität verliert, wird
Russland zweifellos weiterziehen und Europa besetzen. Erinnern wir uns an Putins Ultimatum vor
diesem ausgewachsenen Krieg. Europas Sicherheit, so sagten damals die Russen, müsse auf zwei
Säulen ruhen: der amerikanischen und der russischen. Putins Traum ist es also, in die Welt des
Jahres 1945 zurückzukehren. Doch in dieser Welt sollte auch die Hälfte Deutschlands unter
russischem Einfluss stehen. Ist Deutschland dafür bereit? Glaubt es immer noch daran, dass
dieses Szenario bloß „Science-Fiction“ ist? Dann würde ich empfehlen, sich einige russische
Propaganda-Talkshows anzuschauen, in denen die Russen seit vielen Jahren genau davon
sprechen.
Habermas räumt ein, dass die westliche Welt die Initiative über die Entscheidungen in diesem
Krieg verloren hat. Nicht der Westen also, sondern Putin entscheidet darüber, ob die westliche
Unterstützung der Ukraine ausreicht, damit Russland die NATO-Staaten zu Kriegsparteien erklärt.
Aber festzuhalten ist: Russland hat die NATO-Staaten schon lange zu Kriegsparteien in diesem
Krieg erklärt. Noch vor dem 24. Februar. Die Rhetorik der russischen Propaganda in den
vergangenen Jahrzehnten basierte darauf, dass Russland seit Langem einen Krieg gegen die NATO
führe. Ob es mehr Waffen für die Ukraine seitens der NATO geben wird oder nicht – auf Moskau
wird das keinen Einfluss haben. Vor allem, wenn die Ukraine diesen Krieg „nicht verliert“, sondern
Zehntausende Menschen getötet, Hundertausende nach Russland deportiert (was bereits
geschieht) und Millionen zu Geflüchteten werden.
Welche Garantie haben wir, dass Putin danach seinen Krieg gegen die NATO nicht fortsetzen
wird? Vielleicht wird er im Gegenteil den Sieg feiern und glauben, dass noch größere Ziele in
Reichweite sind? Dass nun endlich russische Panzer in Berlin auffahren und die russische Flagge
über der Stadt hissen? Ich sage es noch einmal: Dieser Traum ist ein fester Bestandteil russischer
Propaganda. Die westliche Welt muss daher aufhören, Putin die Initiative zu überlassen. Sie muss
aufhören, sich ständig zurückzuziehen, sich ständig von seinen irren Handlungen erpressen zu
lassen.
Die Heuristik der Furcht
Heute begeht Russland seine Aggressionen nicht, weil der Westen das Land irgendwie
„provoziert“ hätte. Russland verhält sich aggressiv, weil dies für das heutige Russland die einzige
Möglichkeit ist, zu existieren, und die imperiale Expansion die einzige Möglichkeit ist, sich zu
behaupten. Ich erinnere daran, dass der Westen und die NATO zu Zeiten des Kalten Krieges
entschlossen waren, sich der Sowjetunion entgegenzustellen. Die Entschlossenheit der
amerikanischen Führung während der Kubakrise sei hierfür beispielhaft angeführt. Allerdings
hatte sich die Sowjetunion in ihrer Militärdoktrin stets dazu verpflichtet, auf den Ersteinsatz von
Nuklearwaffen zu verzichten.
Das heutige Russland missachtet diese Verpflichtung. Das Land hat eine Kehrtwende vollzogen
und verkörpert die schlimmsten und schrecklichsten Elemente von Totalitarismus, Nationalismus
und Imperialismus. Es bedroht nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa und letztlich die
gesamte freie Welt. Schließlich zeugen die scheußlichen Verbrechen, die die russischen Besatzer
begangen haben und weiterhin begehen, davon, dass das derzeitige russische Regime
schrecklicher und unmenschlicher ist als die sowjetischen Regime der Nachkriegszeit.
Es scheint, als wäre hier die „Heuristik der Furcht“ am Werk, von der Hans Jonas sprach. Diese
Heuristik rät jedoch mehr dazu, was man nicht tun sollte, als was man tun sollte. Ich wiederhole,
ich unterstütze nachdrücklich die Ideen der kommunikativen praktischen Philosophie, die Idee
der Intersubjektivität sowie der Diskursethik, die Jürgen Habermas immer vertreten hat. Ich war,
ich bin und ich bleibe ein Vertreter und Bewunderer dieser Ideen. Doch es gibt Augenblicke, da
der entschränkte Horizont der Kommunikation an seine Grenzen stößt: Mit einem Mörder und
Vergewaltiger kann man nicht reden, man muss ihm Widerstand leisten. Man kann nicht darauf
warten, zu welchen Handlungen er sich hinreißen lässt – man muss diese Handlungen stoppen
und sie für die Zukunft verunmöglichen. „Auschwitz darf sich nicht wiederholen“ – so lautete der
kategorische Imperativ von Theodor W. Adorno. „Butscha darf sich nicht wiederholen“ – so
buchstabieren wir Ukrainer diesen Imperativ aus.
Mit anderen Worten, es gibt Augenblicke, da die unendliche Intersubjektivität an ihre Grenzen
kommt. Wenn es gilt, wieder Subjekt zu werden, in sich den Mut zur Vernunft zu finden und nicht
nur zur kommunikativen, sondern auch zur strategischen Vernunft, die sich verträgt mit der
„Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“, wie Hans Jonas schrieb. Daher brauchen wir
einen gemeinsamen Sieg über das Böse, zu diesem Zweck muss sich die Welt vereinen.
Anatoliy Yermolenko ist Direktor des Instituts für Philosophie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Er gilt in Osteuropa als einer der besten Kenner von Jürgen Habermas und hat viele von dessen Werken ins Ukrainische übersetzt.
Dieser Artikel erschien zunächst bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung.
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