Die Verhandlungsfalle
Vor kurzem erschien ein Offener Brief deutscher Intellektueller (ZEIT Nr. 27/22), der nicht zwischen Opfer und Aggressor unterscheidet. Ein Kommentar von Susann Worschech, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Franziska Davies, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Ja, es ist unerträglich. Seit über vier Monaten beginnt jeder Tag mit Nachrichten über neue nächtliche Bombenangriffe auf ukrainische Städte, und endet mit solchen über russische Kriegsverbrechen. Gerade in Deutschland, wo wir nach zwei Weltkriegen und einem Völkermord bitter lernen mussten, Konflikte in Diskursen statt in Schützengräben auszutragen, ist der Wunsch nach dem sofortigen Ende des Krieges so groß wie das Mitleiden mit der Ukraine. Trotzdem und gerade deshalb ist der zweite Offene Brief einiger Intellektueller ebenso falsch und gefährlich wie schon der erste. Zunächst, weil er von falschen Annahmen ausgeht, falsche Konsequenzen zieht und Argumente nicht besser werden, wenn man sie einfach wiederholt – aber auch, weil er eine gefährliche Tendenz befeuert, unter der unsere Debattenkultur zunehmend leidet: Die Protagonisten des Offenen Briefes ignorieren vorhandene Expertise, um sich selbst als ‘marginalisiert’ zu inszenieren, und sie betreiben ein Vertauschen von Expertise und Meinung.
Die erste falsche Annahme des offenen Briefes zeigt sich in der Aufforderung an ‘den Westen’, „auf die Regierungen Russlands und der Ukraine einzuwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen“. Damit werden die Ukraine und Russland als ‘Kriegsparteien’ gleichgesetzt, als würden sie sich um ein Inselchen streiten, dessen Zugehörigkeit rechtlich ungeklärt ist. Tatsächlich aber handelt es sich um einen Aggressor einerseits und ein überfallenes, sich verteidigendes Land andererseits. In der Perspektive der Autoren ist es eine scheinbar inakzeptable „Maximalforderung einer Kriegspartei“, dass die angegriffene Ukraine auf ihrer völkerrechtlich verankerten Souveränität besteht (zu der übrigens selbstverständlich auch die besetzte Krim gehört). Fällt den hochgebildeten Unterzeichnern des Appells nicht auf, welche unerträgliche Arroganz in dieser Position steckt?
Die Gleichsetzung Russlands und der Ukraine als Kriegsparteien auf Augenhöhe, zu deren beidseitiger Verhandlungsbereitschaft man zurückfinden müsse, verkennt die Realität und Logik des Phänomens ‘Überfall’.
Zweitens haben die Autoren die zentrale Bedeutung der Asymmetrie in diesem Krieg nicht verstanden. Putin hat diesen Krieg begonnen, weil er sich und Russland als massiv überlegen und die europäische Reaktion als vernachlässigbar einschätzt. Solange Russland eine Asymmetrie in militärischer Fähigkeit, in der Eskalationsdominanz und der Ausübung internationalen Drucks durch gezielt erzeugte Krisen zu seinen eigenen Gunsten annehmen kann, gibt es aus Putins Sicht überhaupt keinen Anreiz für Verhandlungen. Warum verhandeln, wenn man ja doch gewinnen kann?
Wenn es also keinen Diktatfrieden, sondern echte Verhandlungen geben soll, braucht es zunächst ein Gleichgewicht der Kräfte, wofür Russlands Macht minimiert und die Position der Ukraine gestärkt werden müssen.
Insofern kann auch nicht – dritte Fehlannahme – nur eine Verhandlungslösung „allein“ einen jahrelangen Abnutzungskrieg, dessen Folgen und militärische Eskalation verhindern. Der seit 2014 stattfindende Krieg Russlands in der besetzten Ostukraine zeigt, dass Verhandlungen eben auch als Gelegenheit zu weiterer Eskalation genutzt werden können. Alle Verhandlungen im Minsk-Format brachten die Ukraine weder ihrer territorialen Souveränität näher, noch auch nur einen Tag lang Frieden an der damaligen Frontlinie. Vielmehr konnten die besetzten Gebiete einschließlich der Krim zum Aufmarsch- und Nachschubsicherungsgebiet für Russlands großen Krieg gegen die Ukraine aufgebaut werden. Damit Russland eine potenzielle Verhandlungsrunde nicht wieder zur heimlichen Aufrüstung nutzen kann, muss zuvor eine Schwächung der russischen Kriegsführung und ‑planung erreicht werden.
Viertens unterstellen die Autor:innen, dass ‘der Westen’ zunehmend keine klaren Ziele verfolgt. Auch wir bezweifeln manchmal, dass die Bedeutung der Zeitenwende, die Russlands Angriff auf die Ukraine und damit auf Frieden und Demokratie in Europa darstellt, in ihrer Tragweite verstanden wurde, was eine intensivere und schnellere Unterstützung der Ukraine erforderte. Dass aber das Ziel, Russlands neoimperialistischen Kurs aufzuhalten und die Selbstbestimmung der Ukraine und Europas ernsthaft zu verteidigen, zentral ist, zeigt sich in den sechs beachtlichen Sanktionspaketen – zu deren Umsetzung auch die litauische Transitbeschränkung russischer Waren nach Kaliningrad zählt, welche die Autoren als „Eskalation“ betrachten.
Fünftens meinen die Autor:innen, dass man ohne Verhandlungsversuch gar nicht davon ausgehen könne, „dass eine Verständigung unmöglich ist und insbesondere Putin nicht verhandeln will“. Offenbar haben die Autoren die intensiven diplomatischen Reisen vor Kriegsbeginn, die alle auf Verhandlungen abzielten, nicht wahrgenommen (vielleicht weil sie sich vor dem 24.2. gar nicht für die Ukraine interessierten?). Ebenso wenig nehmen sie heute wahr, was und wie in Russland diskutiert wird. Putin spricht der Ukraine spätestens seit Sommer 2021 in aller Offenheit ihr Existenzrecht ab. Die Wiedervereinigung aller russischen Völker (inklusive Belarussen und ‘Kleinrussen’, was abfällig Ukrainer meint) in einem Großrussischen Reich wird revisionistisch in Aussicht gestellt. Früheren Ex-Sowjetrepubliken, der EU und auch Deutschland wird offen gedroht. Glasklare Indizien weisen darauf hin, dass aggressive militärische, ökonomische, finanzielle und geheimdienstliche Ressourcen über Jahre aufgebaut worden sind. Wie kann es sein, dass all dies gar keine Rolle spielt? Würden die Unterzeichner des Offenen Briefes mehr als nur Appeasement betreiben, müssten sie ernsthaft erörtert, wie unter solchen Bedingungen Verhandlungen überhaupt beginnen könnten.
Mit all seinen Fehlannahmen ist der Offene Brief schließlich ein Symptom eines grundsätzlichen Problems: der Ignoranz vorhandener Expertise, die zu substanzlosen Debatten führt, und dem Vertauschen von Erkenntnis und Meinung.
Wenn Themen komplizierter und potenziell bedrohlich werden, ist spezifische Expertise gefragt. Diese eigentlich banale Aussage wurde in den letzten Jahren zunehmend verwässert. Bereits in der Einschätzung des Euromaidan und seiner Folgen, aber auch der Pandemie zeigte sich, dass echte, über Jahre erworbene Expertise z. B. von hoch spezialisierten Virolog:innen plötzlich als „Meinungsmainstream“ diffamiert wurde, neben dem abweichende Meinungen kein Gehör fänden. Eine solche Situation beklagte kürzlich auch einer der Unterzeichner des Offenen Briefes, der Politikwissenschaftler Johannes Varwick, in der FAZ. Tatsächlich ist die Sichtbarkeit der angeblich Marginalisierten in der Öffentlichkeit durchaus hoch. Mitunter scheinen sie es aber schwer zu verkraften, wenn ihnen begründet widersprochen wird und ihre Einschätzungen als Meinung, nicht Expertise entlarvt werden.
Niemand der Unterzeichnenden hat sich je intensiv mit Russland oder Ukraine beschäftigt, und umgekehrt findet sich nicht eine Osteuropa-Expertin unter ihnen.
Auf Tagungen zu Osteuropa sind die Unterzeichnenden nicht anzutreffen; weder suchen sie das Gespräch mit der Fachcommunity, noch rezipieren sie deren Forschung und verknüpfen sie mit eigenen Erkenntnissen. In der viele Disziplinen umfassenden Osteuropaforschung hingegen herrscht in der Wahrnehmung des Krieges nicht zufällig ein breiter Konsens, der Resultat zahlreicher Forschungsprojekte, Veranstaltungen und Publikationen ist. Jahrelang haben Osteuropaforscher:innen die Entwicklung Russlands zu einem vollständig autoritären Regime mit aggressiv-imperialistischer Außenpolitik analysiert, ebenso wie die komplexe, ambivalente Transformation in der Ukraine hin zu einer fragilen, aber selbstbestimmten Demokratie.
Insofern stellen beide Offene Briefe vor allem ein Zeugnis einer Diskursverweigerung der Unterzeichnenden dar. Wer Putins Reden im Original hört, seine revisionistischen Abhandlungen liest und russische Talkshows verfolgt, kann das russische Regime, seine Handlungsmaximen und Ressourcen besser einschätzen als Wissenschaftler:innen ohne diese Zusatzkenntnisse. Das anzuerkennen, nötigenfalls nachzufragen und den eigenen Beitrag einschätzen zu können, gehört eigentlich zum wissenschaftlichen Minimal-Knigge.
Der Offene Brief zeigt mit all seinen als Annahmen verpackten inhaltlichen Fehlwahrnehmungen die problematischen Folgen dieser Schieflage der Debatte. Keine der vorgebrachten Forderungen adressiert direkt Russland als Aggressor und befasst sich mit dem eigentlichen Problem.
Der Brief verschleiert, dass “Waffenruhe” und “Verhandlungslösung” in einer asymmetrischen Situation konkret bedeuten, die Ukraine einem Terrorregime auszuliefern, das entführt, foltert und mordet, das ukrainische Bücher verbrennt, Kunstschätze raubt, Widerspruch brutal unterdrückt.
Der Brief schweigt darüber, dass der angestrebte ‘Frieden’ ein Todes- oder Lagerurteil für Intellektuelle, Aktivisten, Kommunalpolitikerinnen ist, sowie eine Einladung an Russland, nach Severodonezk und Lyssitschansk auch Slowjansk, Zaporischja und Dnipro, Odesa und Charkiw und schließlich Kyjiw einzunehmen. Man kann das alles wider besseren Wissens ignorieren. Wer das – zumal als Wissenschaftler – macht, sollte sich aber nicht über Kritik und angebliche ‘Marginalisierung’ beschweren.
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