Wiedererkennungseffekt – Die Wahrnehmung Israels in der Ukraine
Seit dem 7. Oktober richtet sich die Aufmerksamkeit der Welt auf den Nahen Osten. Während in den meisten europäischen Ländern auch Stimmen um Verständnis für „beide Seiten“ werben, dominiert in der Ukraine eine eindeutig „pro-israelische“ Position.
Der unmenschliche Terroranschlag der Hamas gegen die israelische Bevölkerung am 7. Oktober und die daraufhin eingeleitete Militäroperation im Gazastreifen drängen die sich schleppend entwickelnde Front des russisch-ukrainischen Krieges in den Hintergrund. Die Fernsehnachrichten und Bilder aus den sozialen Netzwerken vermitteln jedem Europäer alptraumhafte Szenen. Und doch finden sich in allen europäischen Ländern auch Stimmen des Verständnisses für „beide Seiten“. In der Ukraine hingegen ist die Position, die im Westen als „pro-Israel“ definiert würde, dominant.
„Ukraine stands with Israel“
Die emotionale Erklärung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die noch am 7. Oktober veröffentlicht wurde, steht exemplarisch für diese Haltung: „Das Recht Israels auf Verteidigung steht außer Frage.“ Er äußerte auch die Hoffnung, dass „Terroristen eliminiert werden.“ Das ukrainische Außenministerium drückte in etwas zurückhaltenderen Tönen ebenfalls seine bedingungslose Unterstützung für Israel aus und betonte das Recht des jüdischen Staates, sich zu verteidigen. Wenige Tage später veröffentlichte der Chef des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, in der israelischen Zeitung Haaretz eine Kolumne mit dem Titel „This Is Why Ukraine Stands With Israel“.
Doch dies ist nicht nur die offizielle Position der Führung des Landes. Auch durch die ukrainische Gesellschaft ging eine Welle aufrichtiger Solidarität. Hunderte von Werbebildschirmen in Kyjiw zeigten israelische Flaggen, viele Ukrainer fügten ihren Profilbildern in den sozialen Netzwerken den Davidstern zu. Auch die auf den Terroranschlag folgende anhaltende Bombardierung des Gazastreifens führte zu keinen nennenswerten Solidaritätsbekundungen mit Palästina.
Keine nennenswerten Solidaritätsbekundungen mit Palästina
Die im europäischen Vergleich auffallende Seltenheit derartiger Äußerungen ist durchaus bemerkenswert. Anti-israelische Äußerungen waren in der Ukraine nur von kleineren politischen Gruppen der radikalen Linken zu vernehmen, oder sie kamen aus radikalen Kreisen der muslimischen Gemeinschaft.
Dabei ist zu bedenken, dass die linke Bewegung im politischen Leben der Ukraine keine bedeutende Rolle spielt. Die Ukrainer verbinden linke Ideen nicht mit fortschrittlichen Intellektuellen und dem Kampf um die Verbesserung der sozialen Bedingungen, sondern mit der sowjetischen Vergangenheit. Und: Die politische Linke wurde in den Augen der Ukrainer angesichts ihrer Unterstützung der russischen Aggression im Jahr 2014 durch die Kommunisten und einige ihrer Mitstreiter diskreditiert. Die „antizionistische“ Rhetorik, die in der Praxis oft nur ein heuchlerischer Deckmantel für Antisemitismus ist, wird mit der offiziellen Propaganda aus den Zeiten der Sowjetunion in Verbindung gebracht und von der Gesellschaft abgelehnt.
Auch ist die muslimische Gemeinschaft in der Ukraine relativ klein, und die meisten Krimtataren, die sich zum Islam bekennen, leben auf dem Gebiet der von Russland besetzten Halbinsel. Darüber hinaus sind die traditionell radikalen islamistischen Ansichten unter den ukrainischen Muslimen aus verschiedenen Gründen nicht sehr verbreitet.
Es scheint aber dabei nicht so sehr um das Fehlen ernsthafter pro-palästinensischer Gefühle in der Ukraine zu gehen, als vielmehr um eine bewusste Sympathie für Israel.
In der Ukraine hat die pro-israelische Haltung aufgrund zahlreicher Parallelen zwischen der Situation in den beiden Ländern an Popularität gewonnen – in erster Linie das Bild eines demokratischen Staates mit einer schlagkräftigen Armee, die in der Lage ist, das Land zu verteidigen. Die Ukrainer wollen in Israel ein Beispiel für eine erfolgreiche wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung sehen – trotz eines existenziellen Kampfes mit einem Feind, der in Bezug auf Territorium, Bevölkerung und Ressourcen um ein Vielfaches überlegen ist. Die Ukraine strebt nach einem ähnlichen Wunder. Die Sympathie für Israel erreichte in einigen Äußerungen den Punkt einer völlig unkritischen, überschwänglichen Freude.
Starke Welle der Solidarität und des Mitgefühls mit Israel
In den letzten anderthalb Jahren machte sich jedoch als Reaktion auf die mehr als zurückhaltende Haltung der israelischen Regierung zum ukrainisch-russischen Krieg in der ukrainischen Gesellschaft allmählich eine gewisse Enttäuschung breit. Das Risiko schlechterer Beziehungen zu Russland hielt die Führung Israels davon ab, die Ukraine zu unterstützen, obwohl die israelische Gesellschaft mehrheitlich eine klare pro-ukrainische Position einnahm.
Als jedoch Israel am 7. Oktober Opfer des Terroranschlags der Hamas wurde, trat all dies in den Hintergrund und eine starke Welle der Solidarität und des Mitgefühls erfasste das Land. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten Informationen über Israel auch nicht aus den Medien, sondern von Bekannten, Freunden und Verwandten aus Israel. Dadurch speist sich die ideologische oder geopolitische Unterstützung auch aus einer persönlichen und emotionalen Erfahrung, und die eigene Haltung wird zu einem Teil der Identität.
Die Ukraine erkennt sich in den Geschehnissen in Israel wieder
Die Ukraine erkennt sich in den Geschehnissen in Israel wieder, der israelische 7. Oktober erinnerte an den ukrainischen 24. Februar. Die Ukrainer wissen nur zu gut, wie es ist, von Explosionen und dem Pfeifen fliegender Raketen aufzuwachen. Fotos von zerbombten Autos und die Erschießung von Zivilisten in israelischen Kibbuzim erinnerten die Ukrainer an die Bilder von der Schytomyr-Autobahn in der Nähe von Kyjiw und Butscha.
Die Gleichsetzung von Kreml und Hamas hat sich so schnell in das Bewusstsein eingeprägt, tatsächlich ist die Verwendung des Begriffes „terroristischer Staat“ in Bezug auf das heutige Russland längst zur Norm geworden. Denn wenn die Aktionen der russischen Armee das Ziel haben, absichtlich eine größtmögliche Anzahl von Ukrainerinnen und Ukrainern zu töten – egal ob Militär oder Zivilisten –, ist es schwierig, dies als etwas anderes als Terrorismus zu bezeichnen.
Islamistische Fundamentalisten und russische Imperialisten haben ähnliche Ziele
Außerdem haben islamistische Fundamentalisten und russische Imperialisten ähnliche Ziele. Sie stellen das bestehende System des Völkerrechts und die auf Regeln basierende Ordnung in Frage. Der „kollektive Westen“, zu dem Israel zweifellos gehört und zu dem auch die Ukraine gehören möchte, ist deren Rivale auf globaler Ebene. Nicht umsonst sind sowohl Russland als auch die Terroristen in Gaza Teil einer sehr realen Allianz aggressiver Schurkenregime vom Iran bis Nordkorea. Schließlich hegen sowohl der Kreml als auch die Hamas einen echten Hass auf die moderne liberale Demokratie. Szenen öffentlicher Hinrichtungen von Schwulen in Gaza sind in den Augen der Kreml-Elite offensichtlich erfreulicher als Szenen einer Gay-Pride-Parade in Tel Aviv. Der Kreml empfing eine Hamas-Delegation, obwohl damals selbst der islamistische Präsident der Türkei, Recep Erdogan, Hamas-Vertreter, die sich zuvor in der Türkei aufhielten, des Landes verwies.
Kurzum, die Ukrainer erkennen sich in dem Bild, das US-Präsident Joe Biden in seiner Rede am 20. Oktober gezeichnet hat: Die Hamas und der russische Präsident Wladimir Putin stellten „unterschiedliche Bedrohungen dar, aber sie haben eines gemeinsam: Sie wollen beide eine benachbarte Demokratie vollständig auslöschen.“
Globale Konfrontation zwischen Demokratie und Terrorismus
Natürlich hoffen die Ukrainer, dass die israelische Regierung nach dem Schock des Terroranschlags den Flirt mit Moskau aufgibt und sich in der zunehmend globalen Konfrontation zwischen Demokratie und Terrorismus endlich auf die richtige Seite schlägt. Klar ist aber auch, dass in absehbarer Zeit nicht nur Israel, sondern auch die meisten westlichen Partner der Ukraine gezwungen sein werden, dem Nahen Osten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn dies in naher Zukunft nicht zu einer Verringerung der Hilfe für die Ukraine führen wird, so wird die Destabilisierung der Lage in der Region mittelfristig höchstwahrscheinlich das Kräfteverhältnis in dieser globalen Konfrontation zum Negativen verschieben.
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