Wiederaufbau der Ukraine: „Wir wollen kein tragischer Ort bleiben!“
Unbroken – der Name des Nationalen Rehabilitationszentrums in der westukrainischen Stadt Lwiw ist ein Signal. Ebenso wie die sieben hochmodernen Krankenhausetagen im Innern des grauen Plattenbaus: Von der Prothesenwerkstatt im Luftschutzbunker und den neu ausgestatteten Stationen für physische und psychologische Rehabilitation soll eine Botschaft ausgehen, die weit in das Land strahlt.
Von den Krankenhäusern nahe der Front werden schwer verletzte Kriegsopfer hierher evakuiert, vor allem Soldaten, aber auch zivile Opfer. Die meisten haben Beine oder Arme verloren, viele auch Augen oder das Gehör. Andere haben schwere Kopfwunden, viele sind traumatisiert. „Die Menschen haben alles verloren, aber sie sind ungebrochen“, sagt Bogdan, ein junger Helfer, vor einer Fotowand, die Patienten mit neuen metallenen Prothesen, an Krücken oder im Rollstuhl zeigt: „Wir wollen allen Ukrainern helfen, ungebrochen zu bleiben.“
Unbroken ist ein Signal der staatlichen Behörden. Koordiniert von der First Medical Union der Stadt Lwiw, der größten Gesundheitseinrichtung der Ukraine, und der Stadtverwaltung von Lwiw, wird das Projekt auch vom Gesundheitsministerium in Kyjiw unterstützt. Der Staat, so scheint die Botschaft, steht an der Spitze des Wiederaufbaus des Landes und hat alles bestens im Griff.
Mitten im Krieg ist der Wiederaufbau in vollem Gang
Tatsächlich ist die „Recovery“ in vollem Gang. Und das mitten im Krieg, obwohl keiner an Frieden denkt und Raketen- und Drohnenangriffe immer neue Zerstörungen anrichten. Die Aufgaben sind gigantisch. Alles muss von Grund auf neugestaltet werden. Neben den Behörden stehen längst viele andere Stakeholder auf dem Plan und fordern Gehör: Stadtentwickler, Architekten, Think-Tanks, Wissenschaftler, Medien, westliche Geberorganisationen, vor allem aber die unermüdliche ukrainische Zivilgesellschaft. „Zum ersten Mal in unserer Geschichte haben wir den Staat auf unserer Seite“, sagte die bekannte Journalistin Nataliya Humenyuk auf einem großen Treffen zivilgesellschaftlicher Initiativen (Unlock Ukraine) in Lwiw, „durch den Krieg haben wir gelernt, die Dinge gemeinsam zu machen“. Wie viele andere ruft sie dazu auf, diesen Zusammenhalt zu erhalten, um auch die Zukunft zu gestalten.
Die Menschen wollen einbezogen werden
Nicht nur aktive Gruppen, sondern auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer wollen heute mitbestimmen, wenn es um die Zukunft ihrer Städte, Plätze, Schulen, Häuser, Denkmäler, um die Struktur des ganzen Landes geht. „Die Menschen haben gelernt, dass sie etwas tun können, und sie wollen einbezogen werden“, betont Inna Pidluska, stellvertretende Geschäftsführerin der International Renaissance Foundation, die sich für eine stärkere Rolle der Zivilgesellschaft beim Wiederaufbau einsetzt.
Zivile Gruppen seien ein wichtiges Gegengewicht zum Staat, weil sie flexibler seien und innovativer. Sie sind eine „zweite Säule“, die helfen kann, Bedürfnisse vor Ort zu erfassen und die Planung und Vergabe von Mitteln transparenter zu machen – für ukrainische Bürger, aber auch für Förderer aus dem Ausland.
Bisher sind die Entscheidungsprozesse wenig transparent
Schon auf der 1. Internationalen Wiederaufbaukonferenz in Lugano 2022 hatte die ukrainische Zivilgesellschaft in einem Manifest „transparente und partizipatorische“ Entscheidungsprozesse gefordert. Bei dem zweiten Treffen in London im Juni 2023 war davon jedoch noch wenig zu sehen. Jetzt sind die Augen der Zivilgesellschaft auf die nächste Konferenz gerichtet, die 2024 in Berlin stattfinden soll.
Dabei sind Aktivisten, NGOs und Initiativen längst in allen Themenbereichen engagiert, die mit dem Aufbau zu tun haben. Die vielen Projekte, die bei dem Treffen „Unlock Ukraine“ vorgestellt wurden, reichten von Urbanismusprojekten, Projekten zu Straßensicherheit, Green Recovery, Erinnerungskultur, Inklusion, Frauenrechten, Rechtsberatung für Kriegsopfer bis zur Integration der fünf Millionen Binnenflüchtlinge, dem schwierigen Wiederaufbau völlig zerstörter befreiter Gebiete und der erhofften Rückkehr geflohener Ukrainer aus dem Ausland.
Der Mensch muss im Fokus stehen
Doch bisher laufen die meisten Projekte lokal, parallel zum Staat, nicht in Zusammenarbeit mit den Behörden. Es fehlt an Austausch, öffentlicher Diskussion und gemeinsamen Gremien. „Unser Staat ist immer noch vertikal organisiert“, erklärte Otar Dovzhenko vom Lwiw Media Forum, „für den Aufbau müssen wir endlich horizontale Strukturen entwickeln.“
Auch bei dem Treffen in Lwiw stehen sie immer wieder im Mittelpunkt: die Instrumente für Partizipation, Transparenz und Monitoring bei der Planung, Projektwahl und Verteilung von Aufbaugeldern. Beim Aufbau sollen der Staat, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Die Programme sollen von lokalen Bedürfnissen ausgehen, und der einzelne Mensch soll im Fokus stehen – vor den Gebäuden und der Infrastruktur.
Wiederaufbau in Butscha geht an lokaler Bevölkerung vorbei
Der Wiederaufbau der geschundenen Stadt Butscha sei ein Beispiel dafür, wie es nicht laufen sollte, erklärt Mykhailyna Skoruk-Shkarivska. Sie war Vizebürgermeisterin, als russische Truppen den Ort überfielen. „Schon die Wiederherstellung der zentralen Woksalna-Straße war weder nachhaltig noch inklusiv. Keine Fahrradwege, kein Blick für Mütter mit Kinderwägen oder alte Menschen. Niemand hat daran gedacht, die Bürger einzubeziehen.“
Skoruk-Shkarivska verließ die Verwaltung und gründete ein eigenes Institut , das Zukunftsideen für die Stadt und andere „Communities“ entwickelt. Sie sieht Butscha als neue Universitätsstadt und „Smart City“, als einen Technologie-Hub vor den Toren der Hauptstadt. Außerdem wäre da Potential für einen attraktiven Reha- und Wellnessort, wenn es gelänge, alte Erholungsheime aus der Sowjetzeit umzufunktionieren. „Wir wollen kein tragischer Ort bleiben“, erklärt Skoruk-Shkarivska kämpferisch, „wir wollen eine Modellstadt werden, die anderen ukrainischen Städten Mut machen kann.“
Dreieck aus Behörden, Unternehmen und gesellschaftlichen Strukturen
Dass der Funke schon in anderen Städten zündet, beweist Davyd Pishchev, Stadtplaner und Leiter des Urban Buro Ukraine aus Odesa. Seine Entwürfe zielen darauf ab, Odesa als hochmoderne Hafenstadt an die „Europäische Waterfront“, an die europäischen Hafenviertel, anzuschließen. Der Wiederaufbau sei eine einmalige Chance, aber es fehle an Abstimmung und Kommunikation. Die meisten Einwohner hätten keine Ahnung, was Aufbau bedeute. Es brauche das Dreieck aus Behörden, Unternehmen und gesellschaftlichen Strukturen, um die immensen Herausforderungen zu bewältigen.
Genau bei diesem Zusammenschluss hakt es immer wieder. Seit 2015 kämpft Olga Ivanova mit ihrer NGO Stabilization Support Services für die Rechte von ukrainischen Binnenvertriebenen (IDP). Durch den Krieg ist ihre Zahl auf fünf bis sechs Millionen Menschen gestiegen. Jahrelang hatten sie kaum Rechte und wurden schlecht integriert. Vor kurzem hat die Regierung endlich beschlossen, sogenannte IDP-Räte zu schaffen. Rund 500 gemeinsame Gremien aus Beamten, Experten und Vertretern der Zivilgesellschaft sollen im Land entstehen, um sich der Belange der Flüchtlinge anzunehmen. Ein Schritt in die richtige Richtung, der Schule machen könnte, hofft Ivanova.
Stadtverwaltungen fehlt es an sachlicher und personeller Kompetenz
Sonst aber seien viele Stadtverwaltungen zu unflexibel, bürokratisch und konservativ, warnen NGO-Vertreter immer wieder. Überall fehle es an sachlicher und personeller Kompetenz. In manchen befreiten Gebieten seien nur noch einzelne Beamte vor Ort, die allein über alles entscheiden müssten.
„Es ist ein langer Kampf“, erklärt Oksana Maiboroda aus der Stadt Riwne. Gerade ist sie in den Stadtrat gewechselt, weil sie mit ihrer NGO, die sich für die Begrünung der Stadt einsetzt, nicht vorankam. „Man kann keine Bäume pflanzen oder irgendwelche Reformen durchbringen, bevor man nicht die Dinosaurier in den Stadtverwaltungen angeht“, sagt sie resolut.
„Gerechtigkeit muss im Mittelpunkt des Wiederaufbaus stehen“
Ein wichtiges Thema ist Transparenz bei der Vergabe der Wiederaufbaumittel, die aus dem staatlichen „Fonds für die Liquidation der Folgen der russischen Aggression“ an die Stadträte verteilt werden. Das private Institut für legislative Ideen arbeitet an neuen Konzepten, wie Bürger aktiv in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden können. Eine andere Idee ist, die beliebte App „Dija“, über die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Dokumente digital verwalten, für Abstimmungen über lokale Renovierungsprojekte auszurüsten.
Vor allem aber müssten Bürger das Angebot nutzen, in vorgeschriebenen Kommissionen der Verwaltungen mitzuwirken, die bis zu 30 Prozent aus zivilgesellschaftlichen Vertretern besetzt werden sollen. Das Institut hat Kurse und Schulungen entwickelt, um Einwohner landesweit über Instrumente und Kontrollmechanismen zu informieren. „Die Menschen müssen lernen, sich aktiv für den Wiederaufbau zu engagieren“, erklärt Hlib Kanjewskyj, Leiter der Antikorruptions-NGO StateWatch, „dazu müssen sie zuerst ihre Rechte kennen.“
Der Wunsch nach Gerechtigkeit sei eine treibende Kraft hinter der Ungebrochenheit der Ukrainer, unterstreicht die Starjournalistin Nataliya Humenyuk: „Gerechtigkeit muss im Mittelpunkt des Wiederaufbaus stehen“.
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