Tschernobyl – Tschornobyl: Ein ukrainischer Erinnerungsort mit globaler Bedeutung
Heute vor 35 Jahren explodierte in Tschernobyl ein Kernreaktor nach einem „Funktionstest“. 600.000 Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion waren an der „Liquidierung“ des Unfalls beteiligt. Von Anna Veronika Wendland
Es gibt ein Tschernobyl und ein Tschornobyl. Tschernobyl ist ein Erinnerungsort im Weltgedächtnis der Moderne, eine Wegmarke im Anthropozän, der schwerste Reaktorunfall in der Geschichte der zivil genutzten Kernenergie. Tschornobyl ist ein ukrainisches Landstädtchen an der Mündung des Usch in den Prypjat, rund einhundert Kilometer nördlich von Kyjiw in der Wald- und Sumpflandschaft Polissia gelegen.
Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts lag Tschornobyl im Windschatten der Geschichte. Auch lange nach Anbruch des Eisenbahnzeitalters war der Ort lange Zeit nur per Schiff erreichbar. Das jüdisch-ukrainische Schtetl galt vor allem unter chassidischen Frommen etwas, denn es war der Sitz eines berühmten Tora-Gelehrten-Geschlechts. Dieses alte Tschornobyl, in dem Juden, Ukrainer, polnische und deutsche Minderheit wie an unzähligen anderen Orten in der Ukraine Haus an Haus gelebt hatten, wurde bereits in den 1930er Jahren von stalinistischen Säuberungen und den Folgen der Zwangskollektivierung schwer getroffen. Seinen endgültigen Untergang besiegelten zwischen November 1941 und Ende 1942 die deutschen Besatzer, welche die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt und ihres Umlandes in zwei Erschießungsaktionen ermordeten.
Begeisterung über die neue Technik
Ende der 1960er Jahre tauchte das neue Tschernobyl auf, nun als Fluchtpunkt einer fortschrittseuphorischen Berichterstattung in den großen sowjetischen Zeitungen. In der Nähe der Kreisstadt sollte das erste Atomkraftwerk der Ukraine entstehen, eine der damals leistungsstärksten Anlagen der Welt. Tschornobyl, die Stadt, lieh Tschernobyl, dem Kraftwerk, seinen Namen, der damit auch gleich russifiziert wurde, blieb aber weiter abseits. Die Zukunft wurde achtzehn Kilometer weiter nördlich aus dem Boden gestampft, in Form der riesigen Atomanlage und der modernen Kerntechnikerstadt Prypjat, die am Ufer des gleichnamigen Flusses entstand. 1977 ging der erste Block ans Netz.
Anders als in Deutschland war die Kernenergie in der Sowjetukraine vor 1986 unangefochten. Das Land war auf einem Modernisierungspfad. Bildungs- und aufstiegshungrige Ukrainer strömten seit Ende der 1950er Jahre aus den ausgehungerten und kriegsverwüsteten Dörfern in die Städte, wo das Chruschtschowsche Wirtschaftswunder Arbeitsplätze und Wohnungen verhieß.
Die ukrainischen Partei- und Wissenschaftseliten begrüßten die Atomkraft und suchten aktiv nach Möglichkeiten ukrainischer Teilhabe am gesamtsowjetischen Prozess der zivilen Nuklearisierung. Möglichst viele kerntechnische Kompetenzen sollten in der energiehungrigen Ukraine konzentriert werden.
Und tatsächlich war die Ukraine, wie auf vielen anderen Gebieten auch, so etwas wie eine secunda inter pares im sowjetischen Atomstaat. Nicht nur gab es hier renommierte Forschungsinstitute und Universitäten, welche die aufstrebende Atomwirtschaft mit Spezialisten versorgten, auch die kerntechnischen Eliten der Sowjetunion stammten zu einem großen Teil aus der Ukraine. Ihnen stand ein Ukrainer vor, Juchym (Jefim) Slavskyj, der allmächtige Beherrscher des nuklearen militärisch-industriellen Komplexes, der Minister für „mittleren Maschinenbau“, eine Codebezeichnung für Reaktorbau und Kernbrennstoffzyklus. Der Ingenieur und Abkömmling einer ostukrainischen Kosakenfamilie ließ eine der sowjetischen Atomstädte in Kasachstan aus patriotischer Nostalgie nach dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko benennen, weil dieser in der Nähe in zaristischer Verbannung gelebt hatte. Ansonsten vertrat er, wie die meisten Ukrainer in imperialen Karrierepositionen, stramm die Moskauer Linie. Zu dieser Linie gehörte auch ein Regime strengen Gehorsams, das Selbstkritik und Fehlerdiskussionen in der sowjetischen Kernenergiewirtschaft verunmöglichte.
Tschornobyl vor Tschernobyl: In den 1970er Jahren wurde die Kernenergie Teil des Alltags vieler Ukrainer und Ukrainerinnen, die in Atomstädten wie Prypjat lebten und arbeiteten. Die evakuierten Prypjater haben nach dem Unfall ihre Stadt in digitalen Archiven wiederaufleben lassen. Der Elektriker Ivan Zholud stellte seine privaten Fotoalben zur Verfügung, hier ein Foto seiner Kinder auf einem Ausflug zum Block 3 und 4 des später verunglückten Kernkraftwerks, Dezember 1983.
Auch vor Ort begrüßte man die Kernkraft. Die Entscheider in Kyjiw wussten, dass die Kohle-Ära mit den sich erschöpfenden Vorkommen im Donbas ihre besten Zeiten hinter sich hatte; die Wasserkraftnutzung war mit der fast durchgehenden Regulierung des Dnipro ausgereizt. Doch neu angesiedelte Industrie, wachsende Städte und mechanisierte Landwirtschaft brauchten Strom. Kernenergie erschien als sichere und im Gegensatz zu den ungeheuren Verschmutzungen und Verwüstungen in den Schwerindustriegebieten auch saubere Sache. Die sowjetische Propaganda präsentierte das KKW Tschernobyl als Techno-Idylle in einer unberührten Naturlandschaft, in der akademisch gebildete, weiß gekleidete Spezialisten ihren Dienst taten. Das friedliche Atom kannte nur Erfolgsgeschichten. Die Prypjater schätzten sich glücklich, in einer privilegierten Stadt zu leben, wo man nicht so lange auf Wohnraum warten musste wie die Durchschnitts-Sowjetbürger.
Auch an anderen Orten in der Ukraine entstanden zur gleichen Zeit Atomstädte wie Prypjat. Ihre Bürger waren stolz, in High-Tech-Anlagen zu arbeiten und ihr Land mit Strom zu versorgen, ohne es in schwarzen Qualm zu hüllen. Von diesem Stolz – und vom Alltag des Lebens mit dem Atom – künden viele private Fotoarchive der Atomarbeiter und Atomarbeiterinnen von Tschernobyl, die nach dem Unfall auf Erinnerungs-Webseiten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
Die Katastrophe und ihre (politischen) Folgen
Der Traum vom sauberen, naturkompatiblen Atom ging in der Nacht des 26. April 1986 in die Brüche. Ein Funktionstest an den elektrischen Anlagen des vierten, neuesten Blocks im Kraftwerk brachte durch eine unglückliche Verkettung von Umständen die Anlage außer Kontrolle. Eine nukleare Leistungsexkursion zerstörte den Reaktor samt dem umgebenden Gebäude. Das hochradioaktive Reaktorinventar verteilte sich mit den Luftströmungen einer frühsommerlichen Großwetterlage über ganz Europa, später die gesamte nördliche Hemisphäre. Damit wurde der Unfall zur Globalkatastrophe. Weit weg von der Ukraine löste er politische Verwerfungen aus, weil Regierungen und Wissenschaftler angesichts einer grenzüberschreitenden, ungewissen Bedrohung keine eindeutigen Antworten auf die Fragen und Sorgen der Bevölkerung hatten. Als „GAU der Expertenkultur“ (Joachim Radkau) beleuchtete Tschernobyl schlaglichtartig die Entfremdung zwischen wissenschaftlich-technischen Eliten und einer zunehmend misstrauischen Bevölkerung in westlichen Industriegesellschaften. Der Atomunfall beförderte den Aufstieg der Grünen zu einer maßgeblichen politischen Kraft in Deutschland und legte die Axt an die deutsche Kernenergiewirtschaft. Vom Epizentrum des Unfalls in der Ukraine war bald gar nicht mehr die Rede.
Mehr als 4000 vorzeitige Todesfälle
Vor Ort war die Bilanz des Tschernobyl-Unfalls anders als in Deutschland tatsächlich verheerend. Über 50 Menschen starben in den ersten Tagen und Wochen nach dem Unfall qualvoll an akuter Strahlenkrankheit. Die meisten waren Kraftwerks-Mitarbeiter, Ersthelfer und Feuerwehrleute, die durch selbstlosen Einsatz vermutlich weit Schlimmeres verhüten halfen. Die WHO rechnet als Spätfolge mit rund 4000 vorzeitigen Todesfällen durch Krebserkrankungen. Ein Gebiet von 2600 Quadratkilometern im Nordwesten des Verwaltungsbezirks Kyjiw, das zusammen mit ausgedehnten Gebieten im südlichen Belarus und westlichen Russland am stärksten vom radioaktiven Fallout betroffen war, wurde zwischen April 1986 und 1995 evakuiert, insgesamt 170.000 Menschen verloren für immer ihr Zuhause und fast alles, was sie besessen hatten. Der volkswirtschaftliche Gesamtschaden des Unfalls wird auf rund 170 Milliarden Euro geschätzt.
Die evakuierten Dorfbewohner wurden vorwiegend in Dörfern in der Waldsteppe des Großraums Kyjiw angesiedelt, wo aber die lebensweltlichen Bedingungen ganz andere waren als in der Wasserlandschaft Polissia. Die Bürger von Prypjat kamen größtenteils in Neubauvierteln Kyjiws unter. Die Evakuierten trafen auf Ablehnung und Vorurteile ihrer Landsleute, die etwa befürchteten, dass Radioaktivität ansteckend sei, oder neidisch waren auf vorrangig zugeteilten Wohnraum. Tausende Schwangere wurden – wie man heute weiß, in der Mehrzahl der Fälle kontraindiziert – zur Abtreibung gedrängt, weil man Missbildungen der Babys befürchtete. Viele Evakuierte kämpften mit posttraumatischem Belastungssyndromen, Verlusterfahrungen, stress- und strahlungsbedingten Krankheiten. Doch genauso gab es Solidarität und Selbstaufopferung. Die „Liquidierung“ des Unfalls, an der rund 600.000 Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion beteiligt waren, machte Tschernobyl auch zu einem postsowjetischen Erinnerungsort. Keine Großstadt in Russland, Belarus, der Ukraine, Mittelasien, dem Baltikum, in der nicht auch Tschernobyl-Liquidatoren wohnten; in vielen Städten gibt es Tschernobyl-Gedenkorte.
Aufarbeitung der Geschichte – Die Rolle der Bösewichte
Nach der Reaktorkatastrophe ist zunächst gar keine ukrainische, sondern eine sowjetische Geschichte von Tschernobyl geschrieben worden, die mit der symbolischen Sprache und Ikonographie der Weltkriegserfahrung vermittelt wurde: der verunfallte Reaktor als Kriegsfront, die „Liquidatoren“ als heldenhafte Partisanen und Soldaten, die einem unsichtbaren Feind zu Leibe rückten.
Die Rolle der Bösewichte fiel in dieser Erzählung dem Kraftwerkspersonal zu, dem Schlamperei und Verantwortungslosigkeit angekreidet wurde. Erst Jahre später benannte eine Untersuchungskommission die Hauptursache des Unfalls: der Unglücksreaktor war konstruktiv fehlerhaft ausgelegt, die Betriebsmannschaften am Ende der Befehlslinien jedoch waren systematisch vom Informationsfluss über diese Mängel ausgeschlossen worden. Diese Befunde, aber auch die anfängliche Verheimlichung der Unfallausmaße zerstörten das Vertrauen der Sowjetbürger in Staat und Atomexperten. Gleichwohl wurde Tschernobyl zur ersten öffentlichen Katastrophe der sowjetischen Geschichte, von der sogar Bilder gezeigt wurden, wenn auch zensierte.
Die nationale ukrainische Geschichte von Tschernobyl ist häufig mit einer ähnlichen Geradlinigkeit und Gut-Böse-Verteilung geschrieben worden. Ambivalenzen wie die recht erfolgreiche Einwurzelung der sowjetischen Atomanlagen in der ukrainischen Provinz und die breite Beteiligung von Ukrainern an der sowjetischen Nukleargeschichte wurden dabei nicht anerkannt. In diesem öko-nationalen Narrativ war die Ukraine passives Opfer der Moskauer Technokraten; die Kernkraftwerke wurden vor allem als Russifizierungsagentur und Fremdkörper im eigenen Land wahrgenommen. Der Tschernobyl-Unfall war in dieser Lesart der Sargnagel der Sowjetunion und der Ansatzpunkt für die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung.
Heute 50 Prozent Atomstrom
Doch kaum war die Ukraine unabhängig, entdeckten die ukrainischen Eliten die Kernenergie neu. Ein 1990 verhängtes AKW-Baumoratorium wurde 1993 vom Parlament kassiert. Heute hat die Ukraine einen Atomstromanteil von rund 50%, der größtenteils auf Kapazitäten beruht, die nach Tschernobyl errichtet wurden. Im Zuge der ukrainischen Diskussionen um klimafreundlichen Strom und Energieabhängigkeit vom russischen Gas ist die ukrainische Kernenergie in die systemrelevante nationale Infrastruktur aufgenommen worden.
Tschernobyl-Tschornobyl rückt derweil aus der Erinnerung der Mitlebenden allmählich in den Status eines fernen historischen Ereignisses und ritualisierten Gedenktages. Zahlreiche Denkmäler und ein zentrales Museum in Kyjiw erinnern heute in der Ukraine an die Katastrophe.
In den letzten Jahren gab es immer wieder Diskussionen, ob Teile der Sperrzone wegen sinkender radioaktiver Belastung aufgehoben werden könnten, während sich gleichzeitig ein florierender Katastrophentourismus rund um die Zone entwickelt hat. Obwohl der Schrecken des Ortes die Geschäftsgrundlage dieser „Chernobyl Tours“ ist, tragen sie zu seiner Normalisierung bei.
Quellen:
- Boltovska, Svetlana: „Local Identities in Ukrainian Polesia and their Transformation under the (Post-) Soviet Nuclear Economy“, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 68 (2019), Heft 3, S. 445–477.
- Brown, Kate: „A biography of no place. From ethnic borderland to Soviet heartland“, Cambridge 2004.
- Plokhy, Serhii: „Chernobyl: The history of a nuclear catastrophe“, New York 2018.
- Wendland, Anna Veronika: „Inventing the Atomograd. Nuclear Urbanism as a Way of Life in Eastern Europe, 1970–2011“ in: Thomas Bohn, Thomas Feldhoff, Lisette Gebhardt, Arndt Graf (Hrsg.): „The Impact of Desaster: Social and Cultural Approaches Fukushima and Chernobyl”, S. 261–287, Berlin 2015.
- Wendland, Anna Veronika: „Nuclearizing Ukraine – Ukrainizing the Atom. Soviet nuclear technopolitics, crisis, and resilience at the imperial periphery“, in: Cahiers du Monde Russe 60 (2019), Nr. 2–3, S. 335–367.
Dieser Text ist im Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ im November 2020 erschienen, welcher durch das Lysiak-Rudnytsky Ukrainian Studies Programme des Ukrainian Institute gefördert wurde.
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