Warum der Krieg gegen die Ukraine auch uns angeht – 10 Thesen
Was steht bei Russlands Krieg gegen die Ukraine auf dem Spiel? Was ist zu tun? Zehn Thesen von Ralf Fücks und Marieluise Beck im Beitrag für das Cafe Kyiv Magazin.
- Reden wir nicht lang herum: Die deutsche Politik ist mitverantwortlich für diese europäische Katastrophe. Von der Kumpanei zwischen Schröder und Putin über die Merkel-Jahre bis in den Februar 2022 hat sie die Gefahrenzeichen aus Moskau heruntergespielt und die falschen Signale Richtung Kreml gesendet. Die Liste ist lang: Die Leisetreterei nach der russischen Invasion in Georgien, das verlegene Schweigen nach dem groß angelegten Hackerangriff auf den deutschen Bundestag, die hartnäckigen Illusionen über eine »diplomatische Lösung« nach der Annexion der Krim und der Besetzung von 20 Prozent des ukrainischen Territoriums 2014, die Ignoranz gegenüber den geschichtsrevisionistischen Pamphleten Putins, das sture Festhalten an der »Energiepartnerschaft mit Russland«, die achselzuckende Hinnahme der russischen Kriegsverbrechen in Syrien – all das bestärkte Putin & Co. im Glauben, dass von Deutschland kein ernsthafter Widerstand zu erwarten sei. Mit den Öl- und Gasimporten aus Russland finanzierten wir die Aufrüstung des Regimes, während Waffen für die Ukraine zum Tabu erklärt wurden, um »Russland nicht zu provozieren«. Faktisch haben wir damit die Schwelle für den russischen Angriff gesenkt.
- Das ist die Vorgeschichte. Aber auch der Ausgang des Krieges berührt uns unmittelbar. Putin attackiert nicht nur die Ukraine, sondern das transatlantische Bündnis und die europäische Sicherheitsordnung. Man muss nur endlich ernst nehmen, was die russische Führung am Vorabend des Angriffs forderte: eine Revision der Nato-Osterweiterung und eine Rückkehr zum Prinzip von Jalta, der Konferenz am Ende des Zweiten Weltkriegs, bei der das östliche Europa der sowjetischen Einflusssphäre zugeschlagen wurde. Wenn der Westen sich jetzt als schwach zeigt, was sollte Putin daran hindern, die Nato im Baltikum zu testen, sobald sich Russland militärisch wieder stark fühlt? Entweder wird der russische Neoimperialismus in der Ukraine gestoppt – oder der nächste Krieg findet auf Nato-Territorium statt. Polen und die baltischen Länder wissen das.
- Bei der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine geht es nicht allein um Solidarität. Dieser Krieg berührt unsere ureigenen Interessen: Das Völkerrecht darf nicht dem Faustrecht weichen; Angriffskriege müssen geächtet und die gleiche Souveränität aller Staaten respektiert werden; kollektive Sicherheit kann es nur mit Gewaltverzicht geben. Wenn wir uns als unfähig erweisen, diese Prinzipien zu verteidigen, wird das autoritäre Regimes weltweit ermutigen, Gewalt als Mittel der Politik einzusetzen. Jeder noch so kleine Erfolg Putins in der Ukraine wird zugleich die Risse in der transatlantischen Allianz und innerhalb der EU vertiefen. Kriegsbereite Regimes verachten Konfliktscheue als Schwäche. Gegen sie müssen Frieden und Sicherheit mit einer Politik der Stärke verteidigt werden.
- Aus alledem folgt: Das ist auch unser Krieg. Daraus folgt nicht, dass wir die Bundeswehr in die Ukraine schicken und den großen Showdown zwischen Russland und der Nato riskieren sollten. Die Ukrainer sind bereit, auch für uns zu kämpfen. Es liegt in unserem ureigenen Interesse, dass sie gewinnen. Den Krieg gewinnen heißt: die volle territoriale Integrität und politische Souveränität der Ukraine verteidigen. Die große Mehrheit der Ukrainer ist dazu fest entschlossen, trotz aller Opfer, die der Krieg fordert. Sie wissen, was es bedeutet, unter russischer Besatzung zu leben: Gewaltherrschaft, Massengräber, Folter, willkürliche Verhaftungen, Deportationen, Auslöschung der ukrainischen Sprache und Kultur. Niemand darf die Ukraine nötigen, Millionen Menschen preiszugeben. Und niemand darf die Ukraine zu »territorialen Konzessionen« drängen, die ihre Sicherheit und ökonomische Lebensfähigkeit auf Dauer untergraben.
- Ob die Ukraine den Krieg gewinnen kann, hängt entscheidend von uns ab. Der Westen verfügt über das weitaus größere ökonomische, technische und militärische Potenzial gegenüber Russland. Woran es fehlt, ist der politische Wille, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen. Bei aller Anerkennung für die bislang geleistete Unterstützung: Sie zielte darauf ab, dass sich die Ukraine unter großen Verlusten behaupten, nicht aber, dass sie die Oberhand gewinnen konnte.
- Das politische Ziel bestimmt die militärischen Mittel. Wenn am Ende dieses Krieges die Befreiung der besetzten Gebiete und die uneingeschränkte Souveränität der Ukraine stehen soll, muss der Westen so rasch wie irgend möglich alle Waffen zu Verfügung stellen, die sie für eine erfolgreiche Gegenoffensive benötigt. Solange Putin darauf hoffen kann, dass der Westen ermüdet und die Ukraine am Ende in einen »Kompromiss« mit Russland nötigen wird, gibt es keine Chance auf einen Frieden, der diesen Namen verdient. Die ständig wiederholte Formel, die Ukraine müsse selbst entscheiden, zu welchen Zugeständnissen sie bereit sei, bleibt eine hohle Phrase, wenn wir sie militärisch so kurzhalten, dass sie nur noch die Wahl zwischen einem verlustreichen Abnutzungskrieg und einem Waffenstillstand hat, der eine Teilung des Landes festschreibt. Das wäre eine Tragödie für die Ukraine und ein verheerendes Signal weit über Europa hinaus.
- Die deutsche Politik hat seit dem Beginn der russischen Großoffensive einen weiten Weg zurückgelegt. Wir sind inzwischen – wenn auch mit weitem Abstand zu den USA– der zweitwichtigste Waffenlieferant der Ukraine. Dennoch folgt unsere Unterstützung bis heute dem Muster »too little, too late«. Der Bundeskanzler nennt das Besonnenheit. Tatsächlich treibt unsere Zögerlichkeit die ukrainischen Verluste in die Höhe. Sie trug dazu bei, dass die Ukraine das Momentum der erfolgreichen Gegenoffensive im Herbst 2022 nicht nutzen konnte, um einen Großteil ihres Territoriums zu befreien. Sie gab Russland Zeit, seine Rüstungsproduktion anzukurbeln, seine Frontlinien zu befestigen und sich hinter Minenfeldern zu verschanzen. Das neuerliche Hin und Her um die Lieferung von Taurus-Lenkraketen schränkt die Fähigkeit der Ukraine ein, russische Stützpunkte, Depots und Nachschubwege in der Tiefe des Raums anzugreifen.
- Unsere Furcht vor einer weiteren Eskalation des Krieges hält die Ukraine in einer asymmetrischen Kriegführung fest. Sie wird von Russland aus angegriffen, soll sich aber nur auf ihrem Territorium verteidigen können. Das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung macht jedoch nicht an der eigenen Staatsgrenze halt. Russland setzt das gesamte konventionelle Waffenarsenal einer Großmacht ein, wir zögern bei jedem neuen Waffensystem, das die Ukraine in eine stärkere Position bringt . Statt uns den Kopf über Putins »rote Linien« zu zerbrechen, sollten wir ihmklare Grenzen setzen. Der Kreml muss wissen, dass jeder neue Raketenangriff, jeder Angriff auf den ukrainischen Getreideexport, jede Attacke auf die Energieversorgung mit verstärkter Unterstützung der Ukraine beantwortet wird. Dazu gehört auch die Botschaft: Lasst die Finger von Massenvernichtungswaffen. Ihr Einsatz hätte verheerende Konsequenzen für Russland. Man nennt das Abschreckung. Sie ist nach allen vergeblichen Verhandlungen die einzige Sprache, die Putin versteht.
- Verhandlungen kann es erst geben, wenn Moskau bereit ist, die volle politische Souveränität der Ukraine zu respektieren und seine Truppen aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen. Wohlgemerkt: Das sind keine Maximalforderungen, sondern das Minimum des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung. Zu jedem nachhaltigen Frieden gehört auch, dass die Verantwortlichen für die russischen Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Wer einen Angriffskrieg gegen einen friedlichen Nachbarn vom Zaun losbricht, darf nicht ungeschoren davonkommen. Ein drittes Element jeder Verhandlungslösung müssen Entschädigungen für die Zerstörungen sein, die Russland in der Ukraine angerichtet hat. Mit dem eingefrorenen Vermögen der russischen Zentralbank gibt es dafür ein Faustpfand. Klar muss auch sein, dass weder der Beitritt der Ukraine zur EU noch ihre Mitgliedschaft in der Nato verhandelbar sind. Russland hat kein Recht, über die Zukunft seiner Nachbarn zu bestimmen.
- Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Test der Stärke der westlichen Demokratien. Künftige Historiker werden in ihm einen Schlüsselmoment für die Zukunft Europas und der internationalen Ordnung sehen. Wenn wir diese Prüfung nicht bestehen, versagen wir nicht nur gegenüber der Ukraine. Die Kräfteverhältnisse verschieben sich dann weiter zugunsten der autoritären Mächte, die den »dekadenten Westen« im Niedergang sehen. Diesen Gefallen sollten wir ihnen nicht tun. Umgekehrt kann eine unabhängige, freie Ukraine zu einem Ankerpunkt für eine demokratische Transformation in der gesamten Region werden. Das gilt auch für Russland. Wer dieses Land nicht auf Dauer abschreiben will, sollte alles tun, damit der russische Neoimperialismus in der Ukraine scheitert. Das ist Voraussetzung für jeden Wandel zum Besseren.
Der Beitrag erschien in einer längeren Version zuerst bei SPIEGEL Online.
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