Her­aus­for­de­run­gen und Aus­sich­ten der Wahlrechtsreform

©Igor Golov­niov

2019 werden in der Ukraine Prä­si­dent und Par­la­ment neu gewählt. Eine zen­trale For­de­rung des Maidans war die Erneue­rung des Wahl­sys­tems, doch der Reform­pro­zess stockt. Wo liegen die Her­aus­for­de­run­gen und Aus­sich­ten der Reform? Von Steffen Halling

Wahl­rechts­fra­gen sind stets eng geknüpft an Macht­fra­gen. Es über­rascht daher nicht, dass ein­her­ge­hend mit wech­seln­den Macht­ver­hält­nis­sen in der Ukraine seit den ersten Par­la­ments­wah­len nach der Unab­hän­gig­keit des Landes bereits drei unter­schied­li­che Wahl­sys­teme zur Anwen­dung kamen: Zuletzt wurde das Wahl­sys­tem 2011 geän­dert. Seitdem wird, wie bereits 1998 und 2002, die Hälfte der Abge­ord­ne­ten per Mehr­heits­wahl direkt ins Par­la­ment gewählt, die andere Hälfte per Ver­hält­nis­wahl über Parteilisten.

Die Pro­ble­ma­tik der Direktmandate

Das gemischte Wahl­sys­tem aus Ver­hält­nis- und Mehr­heits­wahl erwies sich in der Ver­gan­gen­heit als unzu­läng­lich. Zum einen führt die Direkt­wahl von Abge­ord­ne­ten durch ein­fa­che Mehr­heit dazu, dass viele Wäh­ler­stim­men keine Umset­zung in Mandate finden. Durch diese unwirk­sa­men Stimmen ent­steht ein Miss­ver­hält­nis zwi­schen dem Wäh­ler­wil­len auf der einen und der Zusam­men­set­zung des Par­la­ments auf der anderen Seite. Der Grund hierfür ist das sog. „Gra­ben­sys­tem“ in der Ukraine, bei dem Direkt­man­date nicht auf Lis­ten­man­date ange­rech­net werden. Das trägt ent­schei­dend zur Sitz­ver­tei­lung und Mehr­heits­bil­dung im Par­la­ment bei. Durch den Gewinn von Direkt­man­da­ten gelang es der jewei­li­gen Prä­si­den­ten­par­tei bei den letzten beiden Par­la­ments­wah­len, die Anzahl ihrer Sitze im Par­la­ment um etwa 50% zu erhöhen und somit ein im Ver­gleich Wahl­aus­gang stark über­re­prä­sen­tier­tes Gesamt­ergeb­nis zu erzie­len. Ver­stärkt wird dieser Effekt durch Direkt­man­date von „unab­hän­gi­gen“ Kan­di­da­ten, die sich nach der Wahl jedoch häufig der „Frak­tion der Macht“ anschließen.

Mit der Direkt­wahl von Abge­ord­ne­ten aus Einer­wahl­krei­sen geht schließ­lich auch das Problem einher, dass sich der Kampf um ein Direkt­man­dat im Kontext von ende­mi­scher Kor­rup­tion in der Ver­gan­gen­heit oft anfäl­lig für den Einsatz von admi­nis­tra­ti­ven Res­sour­cen sowie den Kauf von Wäh­ler­stim­men erwies. Dadurch wird der poli­ti­sche Wett­be­werb ver­zerrt. Ins­be­son­dere Olig­ar­chen können auf diese Weise eigene Ver­tre­ter ins Par­la­ment „wählen lassen“. Kor­rup­tion und Kli­en­te­lis­mus werden dadurch ebenso begüns­tigt, wie die enge Sym­biose zwi­schen Politik und Wirtschaft.

Geschlos­sene Par­tei­lis­ten leisten poli­ti­scher Kor­rup­tion Vorschub

Auch die Ver­hält­nis­wahl, mit der die andere Hälfte der Abge­ord­ne­ten auf der Grund­lage von lan­des­wei­ten Par­tei­lis­ten gewählt wird, hat sich im ukrai­ni­schen Fall in der Ver­gan­gen­heit als unzu­rei­chend erwie­sen. Zu berück­sich­ti­gen sind hierbei die feh­lende Kon­so­li­die­rung des ukrai­ni­schen Par­tei­en­sys­tems sowie der Mangel an demo­kra­ti­schen Struk­tu­ren inner­halb der Par­teien. Die Zusam­men­stel­lung der Par­tei­lis­ten – und somit die Ent­schei­dung darüber, mit welcher Wahr­schein­lich­keit Kan­di­da­ten in die Wer­chowna Rada ein­zie­hen – erfolgt in der Regel „von oben“ und wird auf Par­tei­ta­gen ledig­lich abge­nickt. Vor allem aus­sichts­rei­che Lis­ten­plätze unter­halb des Radars der öffent­li­chen und media­len Auf­merk­sam­keit können ein Vehikel für die poli­ti­sche Ein­fluss­nahme von Olig­ar­chen dar­stel­len und die Sym­biose zwi­schen Politik und Wirt­schaft stärken. Es ist ein offenes Geheim­nis, dass in der Ver­gan­gen­heit Lis­ten­plätze an „Geschäfts­leute“ für mehrere Mil­lio­nen Dollar ver­kauft wurden. Serhij Lescht­schenko, frü­he­rer Jour­na­list und heu­ti­ger Par­la­ments­ab­ge­ord­ne­ter, bezeich­net die Wer­chowna Rada daher auch als „Europas größten Busi­ness-Klub“.

Hinzu kommt, dass eine Geset­zes­än­de­rung aus dem Jahr 2016 Par­teien die Mög­lich­keit ein­räumt, auch noch nach einer Wahl Ver­än­de­run­gen auf einer Par­tei­liste vor­zu­neh­men. Eine ex post-Ein­fluss­nahme auf das Wahl­er­geb­nis stellt nicht nur die Unmit­tel­bar­keit der Wahl in Frage, sondern leistet auch der poli­ti­schen Kor­rup­tion zusätz­lich Vorschub.

Der ver­san­dete Reformprozess

Vor diesem Hin­ter­grund fordern zivil­ge­sell­schaft­li­che Akteure und reform­ori­en­tierte Poli­ti­ker seit Jahren die Ein­füh­rung einer reinen Ver­hält­nis­wahl mit „offenen“ regio­na­len Par­tei­lis­ten. Unter­stüt­zung für diesen Vor­schlag gibt es von der Par­la­men­ta­ri­schen Ver­samm­lung des Euro­pa­rats, der Venedig-Kom­mis­sion und dem Büro für Demo­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen und Men­sch­rechte (ODIHR) der OSZE. Ein der­ar­ti­ges Wahl­sys­tem würde den Einsatz admi­nis­tra­ti­ver Res­sour­cen sowie der Kauf von Wäh­ler­stim­men erschwe­ren. Auch würden regio­nale Par­tei­lis­ten, auf denen Wähler die Mög­lich­keit hätten, bestimmte Kan­di­da­ten zu prä­fe­rie­ren, die Attrak­ti­vi­tät des Ver­kaufs von Lis­ten­plät­zen schmä­lern und gleich­zei­tig den inner­par­tei­li­chen Wett­be­werb und Trans­pa­renz stärken.

Die Not­wen­dig­keit einer ent­spre­chen­den Wahl­rechts­re­form wurde auch in einem Abkom­men der Regie­rungs­par­teien nach der „Revo­lu­tion der Würde“ 2014 fest­ge­hal­ten. So sehr jedoch eine tief­grei­fende Reform des Wahl­rechts nach dem „Euro­maj­dan“ als not­wen­di­ges Instru­ment zur „Deo­lig­ar­chi­sie­rung“ und nach­hal­ti­gen Stär­kung der Demo­kra­tie betrach­tet wurde, so wenig hat sich seitdem getan. Zwar wurden 2014 und 2015 ins­ge­samt fünf Geset­zes­ent­würfe im Par­la­ment regis­triert, dar­un­ter zwei, die die Ein­füh­rung einer reinen Pro­porz­wahl mit offenen Par­tei­lis­ten vor­se­hen. Auf die Tages­ord­nung des Par­la­ments schaffte es jedoch zunächst keiner der Reform­vor­schläge. Auch eine Arbeits­gruppe aus Ver­tre­tern aller Frak­tio­nen, ukrai­ni­schen Wahl­rechts­exper­ten und Ver­tre­tern inter­na­tio­na­ler Orga­ni­sa­tio­nen, die den Prozess der Wahl­rechts­re­form sys­te­ma­tisch, trans­pa­rent und inklu­siv beglei­ten sollte, ver­san­dete in der Zwischenzeit.

Demons­tra­tio­nen bringen Bewe­gung ins Spiel

Einen Impuls erhielt die Wahl­rechts­re­form erst wieder im Oktober 2017, als ein Bündnis aus Oppo­si­tion und Zivil­ge­sell­schaft vor dem Par­la­ment zu einer Groß­de­mons­tra­tion auf­ge­ru­fen hatte. Eine der zen­tra­len For­de­run­gen der Pro­tes­tan­ten war die Reform des Wahl­rechts. Das Par­la­ment reagierte unmit­tel­bar und lehnte zunächst drei Geset­zes­vor­schläge ab. Am 07. Novem­ber 2017 stimme es dann über­ra­schend dem Entwurf für einen neuen Wahl­ko­dex in erster Lesung zu, der für Par­la­ments­wah­len die Ein­füh­rung einer Ver­hält­nis­wahl auf der Grund­lage von offenen Par­tei­lis­ten vorsieht.

Die Abstim­mung im Par­la­ment wirkt auf den ersten Blick unge­wöhn­lich, unter anderem deshalb, weil auch Träger von Direkt­man­da­ten dem Entwurf ihre Zustim­mung gaben. Das Votum in erster Lesung bedeu­tet jedoch mit­nich­ten die Annahme eines neuen Wahl­sys­tems, zumal sich bisher nicht ange­deu­tet hatte, dass eine solche pro­gres­sive Reform im Par­la­ment tat­säch­lich eine Mehr­heit erhält. Zuletzt ist die Wer­chowna Rada im Gegen­teil dadurch auf­ge­fal­len, dass bereits erzielte Refor­men wieder zurück­ge­dreht werden sollten.

Die nächs­ten Wochen werden zeigen, ob es sich beim Votum des Par­la­ments um mehr als nur eine tak­ti­sche Maß­nahme han­delte, um die Demons­tran­ten zu beschwich­ti­gen. Sicher ist, dass der über 400 Seiten umfas­sende Wahl­ko­dex in einer zweiten Lesung erst nach der Abar­bei­tung etli­cher Ände­rungs­vor­schläge eine Chance haben wird. Es ist nicht aus­zu­schlie­ßen, dass dabei am Ende ein „Kom­pro­miss“ her­aus­kommt, der zen­trale Punkte der Reform weit­ge­hend ver­wäs­sert. Ähn­li­ches zeigte sich bereits im Zuge der Lokal­wah­len 2015. Damals wurde vier Monate vor dem Urnen­gang ein neues Lokal­wahl­ge­setz ver­ab­schie­det. Die Ein­füh­rung „offener Listen“ wurde zwar dekla­riert. Tat­säch­lich aber wurde den Wählern kei­ner­lei Mög­lich­keit ein­ge­räumt, zwi­schen ver­schie­de­nen Kan­di­da­ten auf einer Par­tei­liste zu entscheiden.

Da die nächs­ten Par­la­ments­wah­len bereits 2019 anste­hen, tickt wieder einmal die Uhr gegen Befür­wor­ter einer umfas­sen­den Wahl­rechts­re­form. Davon abge­se­hen ist die Reform zwar eine not­wen­dige, gewiss jedoch keine hin­rei­chende Bedin­gung für einen erfolg­rei­chen Kampf gegen Kor­rup­tion, Kli­en­te­lis­mus und zur Stär­kung der Demo­kra­tie. Hierzu bedarf es unter anderem, Schlupf­lö­cher für Wahl­rechts­ver­stöße zu schlie­ßen, den Raum für die Aus­nut­zung admi­nis­tra­ti­ver Res­sour­cen zu mini­mie­ren und eine effek­tive straf­recht­li­che Ver­fol­gung auf den Weg zu bringen.

Auch eine Neu­be­set­zung der Zen­tra­len Wahl­kom­mis­sion wäre not­wen­dig. Die Amts­zeit einiger Mit­glie­der der Kom­mis­sion, die für eine ord­nungs­ge­mäße Durch­füh­rung von Wahlen eine Schlüs­sel­rolle spielt, ist bereits seit meh­re­ren Jahren abge­lau­fen.

Textende

Portrait von Halling

Steffen Halling ist Dok­to­rand an der For­schungs­stelle Ost­eu­ropa der Uni­ver­si­tät Bremen und Gast­wis­sen­schaft­ler in der For­schungs­gruppe Ost­eu­ropa und Eura­sien der Stif­tung Wis­sen­schaft und Politik.

 

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