Vier Tage leben in “Moskau”
Die ukrainische Journalistin Marichka Paplauskaite kam im Sommer nach Deutschland, um sich zu erholen und Inspiration zu sammeln. Doch sie stieß auch auf unsensible Symbolik und fragwürdige Aufforderungen zur Dialogbereitschaft. Ein Erfahrungsbericht.
Ende Dezember 2021 begingen wir – meine Kolleg:innen und ich, die wir als Journalist:innen für ein kleines unabhängiges Medium tätig sind – unsere traditionelle Winterbetriebsfeier außerhalb der Stadt. Tagsüber spazierten wir durch den verschneiten Wald, abends wärmten wir uns im Häuschen auf. Wir fassten die Ergebnisse unserer Arbeit aus dem vergangenen Jahr zusammen und schmiedeten Pläne für das kommende Jahr. Es war ein gemütliches Treffen unter Gleichgesinnten, die ähnliche Werte und Interessen teilen. Ich weiß noch, wie wir eines Abends hinter dem gewaltigen Holztisch im warmen Lampenschein saßen, Glühwein tranken und so sehr lachten, wie es nur junge und lebenshungrige Menschen tun können. Währenddessen betrachtete ich meine Kolleg:innen und konnte mein Unbehagen nicht verbergen. Der Gedanke, dass ein Überfall Russlands unsere Lebenswege mit aller Gewalt verändern könnte, erschütterte mich bis ins Mark.
Und genau so kam es dann auch. Alle unsere Pläne, unsere Träume, unser gewohntes Leben wurden mit den ersten Treffern russischer Raketen im Morgengrauen des 24. Februar zerstört. Plötzlich stand das Überleben an vorderster Stelle: Wo findet man einen sicheren Unterstand? Wie bringt man einem Sechsjährigen bei, nicht jedes Mal in Panik zu verfallen, wenn man unter Sirenengeheul in den Keller flüchten muss? Wie kann man seine Eltern zur Flucht bewegen und sie sicher aus einer Stadt bringen, die gestern noch die friedliche Stadt deiner Kindheit gewesen – und binnen eines Tages zur Kriegsfront geworden ist? Wie wappnet man seinen Mann für den Krieg – einen Menschen, der bisher nicht das Geringste mit der Armee zu tun hatte, der Anwalt, IT-Spezialist, Barkeeper ist?
Wie behält man die Nerven, wenn er wochenlang nicht an sein Handy geht? Woher nimmt man die Kraft zum Durchhalten, wenn einen die Nachricht ereilt, dass ein nahestehender Mensch gefallen ist und sie seinen Leichnam tagelang nicht vom Schlachtfeld abholen können, da der Beschuss nicht nachlässt? Wie soll man bei alledem weiterarbeiten und in Texten und Fotos Hunderte ähnlicher Tragödien seiner Mitbürger erzählen? Das sind keine beliebigen Bilder, sondern wahre Geschichten aus meinem neuen Leben und dem meiner Kolleg:innen.
Retreat in “Moskau”
Nachdem ich fünf Monate unter Kriegsbedingungen gelebt und gearbeitet habe, freute ich mich über eine Einladung nach Deutschland zu einem viertätigen Retreat für ukrainische Journalist:innen. Das ruhige, mittelalterliche Gutshaus des Seminarzentrums, einsam zwischen Weizenfeldern an der Ostseeküste gelegen und die Gruppenarbeit mit einem Psychologen hätten meinen Kolleg:innen und mir die Möglichkeit geben sollen, Abstand zu gewinnen, den Akku wieder aufzuladen und Kraft zu tanken für den weiteren Kampf an der Informationsfront. So war es dann auch. Wäre da nicht dieses „Moskau“ gewesen.
So hieß das Zimmer, in dem ich untergebracht worden war. Die Leiterin des Zentrums bemerkte nicht einmal, dass sie mir den Schlüssel zu einem Zimmer reichte, auf dem „Moskau“ geschrieben stand. Als wäre es ganz normal, eine Person, die für einige Tage dem Krieg entkommen war, in einem Zimmer unterzubringen, das nach der Hauptstadt des Angreiferlandes benannt ist. Sie sagte dazu: „Ich habe nicht darüber nachgedacht.“ Von einer Entschuldigung war zunächst keine Rede. Da ich keinen Skandal hervorrufen wollte, habe ich den Namen des Zimmers behutsam mit einem Schild überklebt, auf das ich „Kyjiw“ geschrieben hatte. Das Stückchen Papier wurde vom Personal des Zentrums entfernt, noch bevor ich abgereist war.
„Unser Zentrum wurde im Namen des Dialogs und der Verständigung gegründet – beides war sehr wichtig für das Nachkriegseuropa“, erklärte die Leiterin des Zentrums die Gründe für die Existenz eines Raumes mit dem Namen „Moskau“. Offensichtlich war sie noch immer nicht bereit, die neue Realität zu akzeptieren, in der die Welt an der Schwelle zum nächsten Weltkrieg steht und ebenjenes Moskau die Schuld dafür trägt. Dieser Umstand hat mich und meine Kolleg:innen empört – umso mehr, als wir feststellen mussten, dass die Position der Leiterin unter deutschen Staatsbürgern keine Ausnahme darstellt.
Alles für den Dialog
Am Abschlusstag des Retreats trafen wir uns mit deutschen Journalist:innen in Berlin. Die geschlossene Diskussionsveranstaltung sollte einen Raum schaffen, um über die Berichterstattung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine in den deutschen (Massen-)Medien zu sprechen. Daraus wurde jedoch schnell eine emotional geführte Auseinandersetzung – in dem Augenblick nämlich, als deutsche Journalist:innen ihre ukrainischen Kolleg:innen verfrüht zu Versöhnung und Dialog mit den Russen aufriefen. Zur Verschärfung der Situation trugen Notizbücher bei, mit dem Aufdruck „Dialog trotz Krieg“ und dem Bild einer Matrjoschka-Puppe, die an die Teilnehmenden des Treffens verteilt worden waren. Die Matrjoschka auf dem Cover – ein durchweg russisches Symbol – wurde in den Nationalfarben der ukrainischen Flagge dargestellt, so als könnten die Urheber des Bildes nicht zwischen Opfern und Agressoren unterscheiden.
Diese Details sind nicht nur kränkend und schmerzlich für die Ukrainer:innen – sie stellen auch für Deutschland selbst eine Bedrohung dar. In solch einer alltäglichen Toleranz gegenüber Russland drückt sich die Politik des „sowohl als auch“ aus: Indem wir die Ukraine rhetorisch unterstützen, faktisch jedoch die Lieferung von Waffen verzögern und Russland weiterhin als Partner erachten, stärken wir den Kreml in diesem Krieg gegen die Weltordnung und die demokratische Welt.
Ich bin bemüht, Deutschlands Position zu verstehen. Die engen Wirtschaftsbeziehungen, die Geschichte der Überwindung des Kalten Krieges durch Annäherung und Handel, Schuldgefühle in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg – all das ist nachvollziehbar.
Aber weshalb werden diese Schuldgefühle auf die Russen projiziert und nicht auf die Ukrainer? Es waren die Territorien der modernen Ukraine sowie Weißrusslands, die im vergangenen Krieg die größten Verluste erlitten hatten. Jede:r fünfte Ukrainer:in starb bei der Verteidigung der Heimat vor den Angriffen der Nazis. Bezogen auf die Gesamtverluste der UdSSR machen diese 40 bis 44 Prozent aus – somit waren fast die Hälfte aller Getöteten in der riesigen Sowjetunion nun einmal Ukrainer. Nun droht uns erneut die Vernichtung – diesmal durch Russland – und wir bitten um Verständnis für unsere Lage und um bedingungslose Unterstützung.
Zerstörte Biografien
Vor kurzem fuhr ich mit dem Zug durch die halbe Ukraine. In meinem Abteil saßen drei Unbekannte: eine junge Frau mit schwarzem Kopftuch, die zur Beerdigung eines Verwandten nach Kyjiw reiste, eine andere junge Frau, die nach fünf Monaten erzwungenem Geflüchtetenschicksal vorübergehend aus dem Ausland zurückgekehrt war, und ein Soldat, dem nach schweren Kämpfen ein mehrtätiger Heimaturlaub bewilligt worden war. Ein beliebiges Abteil, drei zufällige Menschen, drei vom Krieg verhunzte Leben. Wenn es zutrifft, dass ich diese Menschen rein zufällig an diesem Ort getroffen habe, dann stellen Sie sich vor, wie viele von ihnen es in einem Land mit 40 Millionen Einwohnern gibt. Der russische Überfall auf die Ukraine hat das bisherige Leben jedes Einzelnen hier ruiniert.
Versuchen Sie sich die Realität dieses Krieges so vorzustellen, als ob es auch die Ihrige wäre. Stellen Sie sich vor, wie ihr gewöhnlicher Arbeitstag plötzlich von einem Alarmton unterbrochen wird – einem lauten, grausigen Sirenenheulen, vor dem kein Versteck sicher ist. Und welches nichts anderes bedeutet, als dass eine Rakete in wenigen Minuten auf einer Stadt niedergehen, Gebäude zerstören und jemandem das Leben nehmen wird. Stellen Sie sich vor, die rabenschwarzen, ausgebombten Häuser, die Sie in den Nachrichten sehen, wären Ihre Häuser. Stellen Sie sich vor, die Gesichter der Kinder, die von russischen Granaten getötet wurden, wären die Gesichter Ihrer eigenen Kinder.
Der Krieg in der Ukraine ist keine Fernsehsendung, die man bequem vom Sofa aus verfolgen kann. Dieser Krieg ist eine tägliche Tragödie für Menschen, die jemandem nahestehen. Im sechsten Kriegsmonat gleichen unsere Feeds in den sozialen Netzwerken eher Nachrufspalten – jeden Tag beklagen wir den Verlust von Bekannten, Freunden und Verwandten. Wir verlieren ganze Städte, die Russland dem Erdboden gleichmacht. Uns bleibt nur die Verteidigung. Und auf die Unterstützung der zivilisierten Welt zu zählen.
Deshalb können wir nicht zurückhaltend sein, wenn wir Aufrufe zum Dialog hören. Mit wem sollen wir sprechen? Mit Repräsentanten einer Nation, die uns jeden Tag tötet?
Guter Russe, böser Russe
Bei dem Treffen in Berlin machte die Redakteurin einer deutschen Zeitung die vielsagende Bemerkung, dass man die Putinisten und die „guten Russen“ voneinander unterscheiden müsse. Doch im Augenblick ist dies inakzeptabel – jeder Versuch, die Russen in „gute“ und „böse“ zu unterteilen, ermöglicht es ihnen allen, sich aus der gemeinsamen Verantwortung zu stehlen. Jeder beliebige Russe kann, geleitet von solch einer Logik, sagen: „Ich bin nicht schuldig, es sind alle anderen.“ Währenddessen liegt die Schuld für diesen Krieg bei jedem einzelnen von ihnen – 133 Millionen Menschen haben das Putin-Regime möglich werden lassen. Die Ukrainer haben bereits mindestens zweimal (2004 und 2014) bewiesen, dass ein Volk die Richtung ändern kann, in die die Regierung das Land führt. Es hat dies buchstäblich auf Kosten des eigenen Lebens bewiesen.
Es ist nicht Putin persönlich, der seit mehr als 250 Tagen jede Nacht mit Mehrfachraketenwerfersystemen vom Typ „Smertsch“, mit Streugranaten und anderen schweren Waffen meine Heimatstadt Mykolajiw beschießt. Nicht er hat das Gefangenenlager beschossen, in dem sich die gefangenen ukrainischen Soldaten aus dem „Asowstal“-Stahlwerk befanden. Es war nicht Putin persönlich, der Frauen vergewaltigt und unbewaffnete Männer erschossen hat, die versucht haben, ihre Familien aus den kriegszerrütteten Städten zu retten. Nicht er hat die Schlösser fremder Wohnungen aufgebrochen und von dort Kleider, Kühlschränke und Waschmaschinen mitgenommen.
Dies alles verüben jeden Tag real existierende Menschen aus Fleisch und Blut. Viele lebende Menschen, oder vielmehr Unmenschen. Entlasst sie nicht aus dieser gemeinsamen Verantwortung.
Ich kann verstehen, dass es für Deutschland schmerzvoll ist, über die Schuldfrage eines ganzen Volkes zu sprechen, da man das Thema der kollektiven Verantwortung für die Nazi-Verbrechen von Neuem thematisieren müsste. Niemand stellt die Ausnahmen der Widerstandsbewegung in Deutschland in Abrede, die heldenhaften Beispiele der Selbstopferung einiger zur Rettung anderer. Unter den Russen gibt es sicher auch solche, die Widerstand leisten und der Ukraine helfen. Doch von ihnen wird später die Rede sein. Genauso, wie es sich erst später lohnen wird, über Dialog und Versöhnung zu sprechen.
Erst, wenn die Bomben aufhören, auf unsere Städte zu fallen und die besetzten Gebiete befreit werden. Bis dahin muss man die Tatsache akzeptieren, dass Russland ein Terrorstaat ist, Punkt. Ohne Wenn und Aber. Und die “Cancel Culture” gegenüber allem Russischen sollte eine beständige Erinnerung daran sein, dass Russland kein Partner sein kann, in keiner Angelegenheit, solange es diesen Krieg nicht beendet. Deshalb lehrt uns nicht den Dialog – sondern tut alles in eurer Macht Stehende, um uns zum Sieg zu verhelfen.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski.
*Hinweis der Redaktion: Die hier geäußerten Meinungen basieren auf persönlichen Erfahrungen der Autorin und spiegeln nicht die Haltung des Zentrum Liberale Moderne wider.
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