Ukrainisches grünes Gas und die EU
Die Hinwendung des Westens zu alternativen Energiequellen eröffnet neue Chancen für die wirtschaftliche Integration der Ukraine in die Europäische Union. Von Andrian Prokip und Andreas Umland
Seit 1991 sind Energielieferungen und insbesondere Gaspipelines ein wichtiger Faktor in den Beziehungen der postsowjetischen Ukraine sowohl mit Russland als auch mit der Europäischen Union (EU). Russland war und ist teils noch immer vom ukrainischen Gastransportsystem (GTS) abhängig und kontrolliert seinen Energieexporte in die EU bisher noch nicht vollständig. Seit der Orange Revolution von 2004 hat eher der geopolitische Aspekt dieser Abhängigkeit als wirtschaftliche Kalkulation Moskau dazu motiviert, neue Pipelines zu bauen, die speziell darauf ausgerichtet sind, die Ukraine zu umgehen und dadurch freiere Hand im Umgang mit der sich nach Westen abwendenden „Brudernation“ zu bekommen.
Viele Jahre war der ukrainische Transitkorridor von entscheidender Bedeutung für die Gasversorgung Europas. Die verschiedenen Routen von Russland über die Ukraine in die EU waren ausreichend, um so viel russisches und zentralasiatisches Gas nach Westen zu liefern, wie für Europa notwendig war. Die Abhängigkeit der EU und Russlands vom ukrainischen GTS hat das internationale geoökonomische Interesse an der Ukraine seit ihrer Entstehung als unabhängiger Staat im Jahr 1991 in hohem Maße mitbestimmt.
Heute sieht es immer wahrscheinlicher aus, dass der Bau von Nord Stream 2 durch die Ostsee abgeschlossen wird. Sollte diese Pipeline – wie andere derartige Projekte zuvor, die speziell zur Umgehung der Ukraine konzipiert wurden – tatsächlich in Betrieb gehen, würde das ukrainische GTS weitgehend überflüssig werden. Ein Verlust des größten Teils oder sogar des gesamten Transits zwischen Russland und der EU könnte die Zukunft der gesamten ukrainischen Gasinfrastruktur in Frage stellen.
Würde das ukrainische GTS seinen außenwirtschaftlichen Betrieb einstellen, hätte dies weitreichende Auswirkungen auf die Energieversorgung der EU, die Beziehungen der Ukraine zu Russland und europäische Sicherheit allgemein. Viele in der Ukraine befürchten, dass eine reduzierte oder fehlende Abhängigkeit Russlands und der EU vom ukrainischen Gastransit es dem Kreml erlauben wird, weitere Instabilität in der Ukraine zu provozieren. Im schlimmsten Fall könnte Moskau die Entscheidung treffen, einen großen sowie nunmehr offenen (und nicht nur delegierten) zwischenstaatlichen Krieg gegen seinen slawischen Nachbarn zu beginnen.
Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass die Rolle des russischen und zentralasiatischen Pipelinegases für den Energiemarkt der EU in jedem Fall abnehmen wird. Alternative Energiequellen werden mehr und mehr die Stelle von Erdgas einnehmen. Die verbleibende Gasnachfrage wird zunehmend über diversifizierte Liefermechanismen, einschließlich LNG-Tanker, gedeckt werden. Diese Faktoren werden – auch wenn Nord Stream 2 zunächst eingefroren bleibt – die Abhängigkeit der EU von russischen Pipeline-Lieferungen im Allgemeinen und vom ukrainischen GTS im Besonderen verringern. In jüngster Zeit haben durch die Verabschiedung des Europäischen Green Deals und eine daraus resultierende Beschleunigung der Dekarbonisierung solche Prognosen nochmals an Relevanz gewonnen.
Die europäischen Dekarbonisierungspläne öffnen ein neues Fenster von verschiedenen Möglichkeiten für die Ukraine. In einem Best-Case-Szenario könnte eine steigende Nachfrage nach einer Vielzahl kohlenstoffarmer Gase – d. h. Biogas, Biomethan und Wasserstoff – zu mehr und nicht zu weniger Energiekooperation zwischen der EU und der Ukraine führen. Neuartige gemeinsame Projekte für die Erzeugung und den Transport von kohlenstoffarmem Gas könnten – neben anderen Themen wie die Speicherung von EU-Gas in ukrainischen unterirdischen Reservoirs – zum Bestandteil der zukünftigen Integration der Ukraine in die europäischen Energiemärkte werden.
Die Ukraine hat das Potenzial, pro Jahr 7,5–10 Mrd. m³ Biogas und Biomethan zu produzieren, was etwa 25–30 Prozent ihres eigenen jährlichen Erdgasverbrauchs entspricht.
Da die Kosten für die Produktion von solchem Gas relativ hoch sind, mag die Nachfrage nach dieser Energiequelle in der Ukraine derzeit gering sein. Doch kann das Biogas schon heute für europäische Kunden attraktiv sein. Technisch gesehen kann diese Art von Gas durch die bestehenden Pipelines ohne große Modernisierungen geliefert werden, nachdem einige Änderungen der ukrainischen Gesetzgebung, die in Kürze erwartet werden, vorgenommen wurden.
Während der Export von Biogas eine kurzfristige Option darstellt, ist eine vielversprechende langfristige Perspektive die Erzeugung und der Export von ukrainischem Wasserstoff. Die europäische Wasserstoffstrategie, als Teil des europäischen Green Deals vom letzten Jahr, legt fest, dass „die Östliche Nachbarschaft, insbesondere die Ukraine, und die Länder der südlichen Nachbarschaft vorrangige Partner sein sollten.“ Die Strategie fordert die Installation von 40 GW Elektrolyseuren, die unter Nutzung erneuerbarer oder anderer kohlenstoffarmer Energie innerhalb der EU Wasserstoff produzieren sollen, bis 2030. Zusätzliche Elektrolyseure, die weitere 40 GW produzieren sollen, sind für die Nachbarländer der EU vorgesehen, aus denen die EU dann diese grüne Energie importieren könnte. Es ist geplant, dass von der geplanten neuen 40 GW Gesamtkapazität Elektrolyseure mit einer Kapazität von10 GW in der Ukraine installiert werden sollen.
Trotz somit guter allgemeiner Aussichten für die Entwicklung der ukrainischen Wasserstoffproduktion für Europa, steht dieser Plan in der Ukraine vor einigen spezifischen Herausforderungen. Das erste und wichtigste technologische Problem ist, dass die veralteten ukrainischen Erdgaspipelines bisher nicht für den Transport von Wasserstoff geeignet sind. Sie müssten modernisiert werden, um für eine solche neuartige Exportfunktion genutzt werden zu können.
Einige ukrainische Gastransportunternehmen untersuchen in Zusammenarbeit mit verschiedenen technischen Universitäten und anderen akademischen Einrichtungen bereits die Möglichkeit, Wasserstoff durch die bestehenden Verteilungsnetze zu transportieren. Diese ukrainischen Untersuchungen könnten auch für andere Länder mit ähnlichen Energiesystemen von Interesse sein, vor allem für die Länder des postkommunistischen Osteuropas. Allerdings werden in nächster Zeit erhebliche Investitionen in neue Wasserstoffproduktions- und Transitinfrastruktur erforderlich sein, um ein modernisiertes Pipeline- und Kompressorennetz zu schaffen.
Darüber hinaus muss die allgemeine Organisation des gesamten ukrainischen Gassystems überdacht und umgestaltet werden. Die aktuellen Volumina des Gasverbrauchs und Transits sind weit geringer, als es die vorhandenen Kapazitäten zulassen – ein Ungleichgewicht, das die allgemeinen Fixkosten und den Endpreis der Transport- und Verteilungsdienstleistungen in die Höhe treibt. So lag der gesamte Gastransit in der Ukraine im Jahr 1998 bei 141 Mrd. m³, im Jahr 2020 jedoch nur noch bei 55,8 Mrd. m³. In Anbetracht der derzeit bestehenden Verträge kann diese Menge bis 2024 weiter auf 40 Mrd. m³ jährlich absinken.
Ähnlich radikal ist die Veränderung des ukrainischen Eigengasverbrauchs. Während er im ersten Jahr der Unabhängigkeit 1991 noch bei 118 Mrd. m³ lag, ist er 2013 auf 50,4 Mrd. m³ gesunken und wird bis 2020 auf 31 Mrd. m³ weiter sinken. Bei der letztgenannten Zahl ist zu beachten, dass der Gasverbrauch in den nicht von der Regierung kontrollierten Teilen des Donezbeckens und auf der besetzten Krim in dieser Menge nicht enthalten ist.
Eine zweite große Herausforderung für Kyjiw wird die Sicherung ausreichender in- und ausländischer Investitionen sein, die notwendig sind, um das hohe Potenzial der Ukraine für die Erzeugung und den Transport von grünem Gas voll auszuschöpfen. Finanzielle Mittel werden vor allem für die Neugestaltung und den Umbau der bestehenden Erdgasnetze und deren Vorbereitung für den Transport von Wasserstoff benötigt. Dessen Produktion wiederum setzt den Bau neuer Anlagen voraus, vorzugsweise unter Verwendung erneuerbarer Energiequellen für den Elektrolyseprozess.
Eine dritte Herausforderung beim Eintritt der Ukraine in den aufstrebenden EU-Markt für grünes Gas werden die zukünftigen Energiebeziehungen und der Wettbewerb Kyjiws mit Moskau sein. Vermutlich wird der Kreml nicht warten, bis die Nachfrage nach fossilen Brennstoffen in der EU sinkt und die Einnahmen aus den derzeitigen russischen Energieexporten in die EU schrumpfen. Auch Russland wird versuchen, ein Exporteur von grünem Gas und Wasserstoff in die EU zu werden. Für die Ukraine besteht das spezifische Risiko, dass Russland – erfahren in der Führung von Handels- und Informationskriegen – versuchen wird, die Fähigkeit der Ukraine, Wasserstoff nach Europa zu liefern, durch Diffamierung, Subversion und Intervention zu begrenzen. Diese künftige Bedrohung wird vor allem dann relevant, wenn die berüchtigte Nord Stream 2‑Pipeline durch die Ostsee tatsächlich in Betrieb genommen wird und die EU völlig unabhängig vom ukrainischen GTS wird. Von Russland kann nicht erwartet werden, dass es sich auf fairen Wettbewerb mit der Ukraine beschränkt. Es könnte im schlimmsten Fall sogar para- oder reguläre militärische Mittel einsetzen – was es in gewisser Weise de facto bereits tut -, um seine Position auf dem europäischen Energiemarkt zu verbessern.
Dennoch könnte der Versuch, diese drei Herausforderungen zu meistern, einen Beitrag zur Energiewende in der Ukraine und zu ihrer Entwicklung zu einer neuen grünen Wirtschaft leisten.
Es könnte auch helfen, die bereits vorhersehbaren Verluste zu kompensieren, die der Ukraine durch die abnehmende Bedeutung des traditionellen Erdgastransits entstehen werden. Der Ukraine dabei zu helfen, ihre GTS und Produktionsanlagen an die Anforderungen des europäischen Green Deals anzupassen, ist eine Möglichkeit für die EU – so sie dies wünscht – die Ukraine angesichts der Herausforderung durch Nord Stream 2 zu unterstützen. Kyjiw wird Unterstützung von außen benötigen, um sein Gastransport- und ‑verteilungssystem neu zu gestalten und bestehende Gasproduktionsanlagen zu modernisieren sowie neue zu bauen. Schließlich wird die Ukraine Liefervereinbarungen für grünes Gas benötigen, vor allem mit der EU, aber vielleicht auch mit anderen Ländern – sei es in Nicht-EU-Europa, Nordamerika oder anderswo.
Strategische Investitionen in die ukrainische Energiewirtschaft, einschließlich der kohlenstoffarmen Gaserzeugung und ‑lieferung, hätten nicht nur im engeren Sinne geoökonomische, sondern auch weiterreichende geopolitische Implikationen. Eine solche für beide Seiten vorteilhafte Unterstützung für die Ukraine würde Kyjiw helfen, die laufenden Versuche des Kremls einzudämmen, weitere sozioökonomische Instabilität in der Ukraine zu forcieren. Durch die Unterstützung der Souveränität und Unabhängigkeit eines Landes, das einst das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt besaß, würden insbesondere die Unterzeichnerstaaten des berühmten Budapester Memorandums von 1994, die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, indirekt das weltweite nukleare Nichtverbreitungsregime stärken. Ähnliches gilt für zwei andere Länder, die sowjetische Atomwaffen geerbt und Budapester Memoranden erhalten hatten, Belarus und Kasachstan, und die ebenfalls schon Gegenstand russischer – bisher nur verbaler – irredentistischer Ansprüche waren. Diese Logik gilt auch für zwei weitere offizielle Atomwaffenstaaten, Frankreich und China, die der Ukraine, Belarus und Kasachstan 1994 ebenfalls ihre eigenen staatlichen Sicherheitsgarantien gaben.
Durch die Unterstützung der ukrainischen Energiewende könnte Brüssel ein Land stärken, in dem eine Revolution, der Euromaidan-Aufstand von 2013–2014, unter europäischer Flagge und mit dem Ziel durchgeführt wurde, die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU sicherzustellen. Die Westintegration der Ukraine war der Vorwand für Russlands militärische Aggression in der Süd- und Ostukraine im Jahr 2014. Seitdem führt der Kreml seinen hybriden Krieg gegen die Ukraine als eine besondere Form der Bestrafung für die Entscheidung Kyjiws, eine Übernahme von EU-Normen und ‑Werten in Angriff zu nehmen.
Nicht zuletzt könnte Deutschland – durch sein Engagement in der ukrainischen grünen Industrie – eine gewisse Sühne für den Schaden leisten, den es mit seinen beiden Nord-Stream-Projekten seit der Unterzeichnung des ersten Vertrags mit Gazprom im Jahr 2005 in der Geopolitik Osteuropas angerichtet hat. Die Fertigstellung der Nord Stream 1‑Pipeline im Oktober 2012 war eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung für Russlands militärischen Angriff auf die Ukraine eineinhalb Jahre später. Bis 2012 hatte die Ukraine – durch ihre Kontrolle über einen großen Teil der Pipeline-Verbindungen Gazproms in die EU – einen beträchtlichen wirtschaftlichen Hebel gegenüber Russland. Dieser wird sich weiter verringern, sollte Nord Stream 2 ebenfalls in Betrieb gehen. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland würden sich selbst und der Welt einen Dienst erweisen, wenn sie das beträchtliche Potenzial der Ukraine nutzen würden, ein wichtiger kohlenstoffarmer Gaslieferant für Europa und darüber hinaus zu werden.
Dieser Artikel erschien in gekürzter Form in der Neuen Züricher Zeitung am 01. Juli 2021.
Andrian Prokip ist Energieexperte am Ukrainischen Institut für die Zukunft in Kyjiw und Mitarbeiter am Kennan-Institut des Woodrow Wilson International Center for Scholars in Washington, DC.
Andreas Umland ist Mitarbeiter des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten und Herausgeber der Buchreihe „Soviet and Post-Soviet Politics and Society“.
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