Vier Gründe für Poro­schen­kos Wahl­nie­der­la­gen 2019

Der tiefe Schnitt in der Kom­po­si­tion der ukrai­ni­schen poli­ti­schen Elite im Ergeb­nis der Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wah­len 2019 war nicht nur Resul­tat der gewief­ten Wahl­kam­pa­gnen Wolo­dymyr Selen­skyjs und seines Teams. Viel­mehr legten eine Reihe von Unter­las­sun­gen und Fehl­ent­schei­dun­gen des vor­her­ge­hen­den Staats­ober­haupts sowie seines Teams im Laufe von Petro Poro­schen­kos Prä­si­dent­schaft und seiner erfolg­lo­sen Wahl­kam­pa­gne die Grund­lage für den spek­ta­ku­lä­ren Auf­stieg eines voll­kom­me­nen New­co­mers an die Spitze der ukrai­ni­schen Politik. Von Andreas Umland

Die Amts­zeit Petro Poro­schen­kos von 2014 bis 2019 umfasste – wie er selbst während seines Prä­si­dent­schafts­wahl­kamp­fes betonte und wie auch viele Beob­ach­ter aner­kann­ten – hin­sicht­lich der Anzahl ver­ab­schie­de­ter Reform­ge­setze die bislang frucht­bars­ten Jahre in der post­so­wje­ti­schen Epoche der Ukraine. Anzu­er­ken­nen ist zudem, dass Poro­schenko außen­po­li­tisch relativ erfolg­reich war. Gera­dezu his­to­ri­sche Errun­gen­schaf­ten Kyjiws während seiner Amts­zeit waren etwa die Rati­fi­zie­rung des beson­ders umfas­sen­den ukrai­ni­schen Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens mit der EU 2014 – 2016, die Erlan­gung einer Visa­frei­heit für ukrai­ni­sche Kurz­be­su­cher des Schen­gen­raums 2017 sowie die Ver­lei­hung der Auto­ke­pha­lie an die neue ver­ei­nigt Ortho­doxe Kirche der Ukraine durch den Öku­me­ni­schen Patri­ar­chen von Kon­stan­ti­no­pel Anfang 2019.

Dennoch hat Poro­schenko die Prä­si­dent­schafts­wah­len vom Früh­jahr 2019 nicht nur nicht gewon­nen. Er hat sie mit dem bei weitem nied­rigs­ten Stich­wahl­er­geb­nis eines Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten in der Geschichte der Ukraine ver­lo­ren. Wie konnte dies ange­sichts seiner erheb­li­chen Ver­dienste 2014 – 2019 geschehen?

Das uner­füllte Mandat des Maidan-Präsidenten

Der wohl wich­tigste unmit­tel­bare Grund für die kra­chende Nie­der­lage Poro­schen­kos 2019 war, dass er 2014 mit einem bestimm­ten Mandat gewählt worden war und dieses Mandat anschlie­ßend nicht erfüllte. Als Prä­si­dent­schafts­kan­di­dat hatte Poro­schenko Hoff­nun­gen geweckt, dass er geschickt mit Putin ver­han­deln und sich mit dem Westen einigen könne, dass er der Ukraine, wenn viel­leicht auch nicht die Krim, so zumin­dest den ersehn­ten Frieden wie­der­brin­gen würde und dass er hierfür jene erfor­der­li­che Kom­pe­tenz habe, die anderen Kan­di­da­ten fehle. Auch wurde erwar­tet, dass er ein Prä­si­dent des Euro­maidans sein würde und nicht ein Ver­tre­ter der „Olig­ar­chie“ im ukrai­ni­schen Staat.

Viele glaub­ten, dass Poro­schenko als erfolg­rei­cher Unter­neh­mer und ehe­ma­li­ger Minis­ter unter den frü­he­ren Prä­si­den­ten Juscht­schenko und Janu­ko­wytsch mit seiner beson­ders umfang­rei­chen diplo­ma­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und poli­ti­schen Erfah­rung die beste Wahl für die Ukraine ange­sichts der extrem schwie­ri­gen Situa­tion im Früh­jahr 2014 sein werde. Vor diesem Hin­ter­grund schloss sich die Mehr­heit der Zivil­ge­sell­schaft und der poli­ti­schen Klasse der Ukraine nach dem Euro­mai­dan um den bis dahin nicht son­der­lich popu­lä­ren Poro­schenko zusam­men. Dies führte dazu, dass er die Prä­si­dent­schafts­wah­len vom Mai 2014 bereits im ersten Wahl­gang gewann.

Poro­schen­kos Prä­si­dent­schaft grün­dete sich auf eine Art still­schwei­gen­des Abkom­men zwi­schen den Wählern und dem „Olig­ar­chen“, das in etwa so lautete: „Du bist zwar ein Olig­arch, und eigent­lich rich­tete sich unsere Revo­lu­tion gegen die Olig­ar­chie und dagegen, dass Men­schen wie du sich in die Politik ein­mi­schen. Trotz­dem machen wir Dich jetzt zum Prä­si­den­ten, weil Du große poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und diplo­ma­ti­sche Erfah­rung hast. Natür­lich ist es ein Wider­spruch, dass wir einen Olig­ar­chen zum Prä­si­den­ten machen, aber wenn Du im Geiste des Euro­maidans han­delst, wird alles gut. Wir halten Dich für den besten Ver­hand­lungs­füh­rer mit Putin, den besten Diplo­ma­ten im Umgang mit dem Westen, den besten Manager für die Wirt­schaft und für den­je­ni­gen, der am ehesten den beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen gewach­sen ist, vor denen die Ukraine heute steht.“ Dieses still­schwei­gende Abkom­men wurde jedoch nicht umge­setzt. Zumin­dest wurde dessen Umset­zung von vielen Wählern bis 2019 nicht ver­stan­den, akzep­tiert oder anerkannt.

Die Über­be­to­nung des Kul­tu­rel­len in Poro­schen­kos Wahlkampf

Ein wei­te­rer Faktor, der sich zuun­guns­ten Poro­schen­kos und teil­weise auch Julija Tymo­schen­kos aus­wirkte (wodurch sich einige der Gründe ihrer Wahl­nie­der­lage gegen Janu­ko­wytsch von 2010 wie­der­hol­ten), war der wach­sende Ein­fluss gali­zi­scher Poli­ti­ker und Kul­tur­schaf­fen­der auf die offi­zi­elle Politik und auf die öffent­li­chen Dis­kurse der pro­west­li­chen Eliten der Ukraine nach dem Euro­mai­dan. Mehrere Mit­glie­der der neuen ukrai­ni­schen Regie­rung und des Gefol­ges von Poro­schenko for­cier­ten bestimmte his­to­ri­sche Nar­ra­tive und kul­tur­po­li­ti­sche Schwer­punkte, welche in Gali­zien und der ukrai­ni­schen Dia­spora populär sind. Umtrie­bige Intel­lek­tu­elle inner­halb und im Umkreis der neuen Führung ver­such­ten, Begriffe und Deu­tun­gen des ukrai­ni­schen Patrio­tis­mus durch­zu­set­zen, die zwar in der West­ukraine und ukrai­ni­schen Emi­gran­ten­ge­meinde Gemein­gut, jedoch bei weitem nicht in der Gesamt­heit der Ukraine populär sind.

Die von kultur- und geo­po­li­ti­schen Themen wie Zivi­li­sa­tion, Reli­gion, Geschichte und Sprache geprägte Prä­si­dent­schafts­kam­pa­gne nicht nur der Natio­na­lis­ten, sondern auch pro­west­li­cher Kräfte Ende 2018 und Anfang 2019 war weniger ideo­lo­gisch als viel­mehr metho­disch frag­wür­dig. Der betont patrio­ti­sche Wahl­kampf ins­be­son­dere Poro­schen­kos, aber auch Tymo­schen­kos und anderer natio­nal­li­be­ra­ler Kan­di­da­ten, grün­dete auf einem nor­ma­ti­vem, ja, teils uto­pi­schem Ver­ständ­nis natio­na­ler ukrai­ni­scher Iden­ti­tät, welches vor­lie­gen­den Ergeb­nis­sen der Umfra­ge­for­schung klar wider­sprach. Viele der patrio­ti­schen Wahl­stra­te­gen und poli­ti­schen Akti­vis­ten Poro­schen­kos, Tymo­schen­kos und anderer gestan­de­ner Poli­ti­ker über­schät­zen offen­bar weit ihre eigene gesell­schaft­li­che Bedeu­tung sowie den gene­rel­len Ein­fluss intel­lek­tu­el­ler Eliten eines Landes auf die Welt­an­schau­un­gen ein­fa­cher Bürger. Sie erlagen (und erlie­gen teils immer noch) der Fehl­an­nahme, dass ihre eigenen Vor­lie­ben, Ansich­ten, Ideen usw., wenn nur häufig und beharr­lich genug kom­mu­ni­ziert, die poli­ti­sche Kultur, Geschichts­bil­der und Lebens­pro­jekte von Mil­lio­nen von Wählern in kurzer Zeit ändern können.

Es gab und gibt viele Gründe, die for­cierte Ukrai­ni­sie­rungs­po­li­tik und West­in­te­gra­tion Kyjiws seit 2014 zu unter­stüt­zen. Aller­dings bewegt sich ein Teil der ukrai­ni­schen Poli­ti­ker und Intel­lek­tu­el­len bis heute in einer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­blase, in der die vor­ran­gi­gen Inter­es­sen und Anlie­gen von Mil­lio­nen von Men­schen nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt wurden und werden. Anstatt bren­nende Pro­bleme wie Armuts- und Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung, Kom­mu­nal­ge­büh­ren, Dezen­tra­li­sie­rung, Bil­dungs­re­form und so weiter zu the­ma­ti­sie­ren, waren der öffent­li­che Diskurs seit 2014 und die Wahl­kam­pa­gne des Amts­in­ha­bers und seiner Umge­bung 2019 von kultur- und geo­po­li­ti­schen Themen, wie Dekom­mu­ni­sie­rung, Auto­ke­pha­lie, EU-/NATO-Bei­tritt, ukrai­ni­sche Sprache und natio­na­ler Hel­den­kult, geprägt.

Die kom­mu­ni­ka­tive Ent­frem­dung eines großen Teils der alten poli­ti­schen Elite von der breiten Bevöl­ke­rung wirkte sich ver­häng­nis­voll auf die Kan­di­da­tur Poro­schen­kos und zum Teil auch Tymo­schen­kos aus. Sie gewan­nen zwar den ersten Prä­si­dent­schafts­wahl­gang in Gali­zien sowie in den Aus­lands­wahl­lo­ka­len der west­li­chen Dia­spora, erlit­ten jedoch in der Ukraine ins­ge­samt im März – Juli 2019 drei spek­ta­ku­läre Debakel. Die Beto­nung kul­tu­rel­ler, phi­lo­so­phi­scher, his­to­ri­scher und außen­po­li­ti­scher Themen erschien vielen Ukrai­nern unan­ge­mes­sen ange­sichts der weit drän­gen­de­ren sozia­len und öko­no­mi­schen Pro­bleme ihres indi­vi­du­el­len, fami­liä­ren, kom­mu­na­len und beruf­li­chen Alltagslebens.

Der ana­chro­nis­ti­sche Rück­griff auf „Polit­tech­no­lo­gie“

Ein dritter Faktor, der Poro­schen­kos depri­mie­rende Nie­der­lage 2019 vor­aus­be­stimmte, war seine Zusam­men­ar­beit mit soge­nann­ten „Polit­tech­no­lo­gen“ im Wahl­kampf. Diese pro­fes­sio­nel­len Mani­pu­la­to­ren ver­such­ten in den neun­zi­ger Jahren ent­wi­ckelte Wahl­kampf­tricks anzu­wen­den, soge­nannte „schwarze PR“, letzt­lich Ver­leum­dun­gen des Kon­kur­ren­ten Selen­skyj, dem ohne jeg­li­che Beweise Dro­gen­sucht unter­stellt wurde. In Poro­schen­kos Team setzte sich offen­bar ein spe­zi­fisch post­so­wje­ti­sches, vor­ran­gig „tech­no­lo­gi­sches“ Ver­ständ­nis des Wahl­pro­zes­ses, wenn nicht gar von Politik gene­rell, durch. Ein beson­ders gro­tes­kes Bei­spiel war die durch das Team des Amts­in­ha­bers lan­cierte Kan­di­da­tur eines gewis­sen Jurij Wolo­dym­y­ro­wytsch Tymo­schenko. Dieser in der Ukraine voll­kom­men unbe­kannte Kan­di­dat sollte die Wähler offen­bar ver­wir­ren. Man hoffte, dass er der erwar­te­ten Haupt­kon­kur­ren­tin Poro­schen­kos, Julija Wolo­dym­y­riwna Tymo­schenko, Stimmen abneh­men werde. Der pri­mi­tive Trick war nur die Spitze eines weit grö­ße­ren Eis­bergs. Es gab zahl­rei­che ähnlich absurde „tech­no­lo­gi­sche“ Aktio­nen seitens des Teams des amtie­ren­den Prä­si­den­ten, wie etwa die pau­schale Dif­fa­mie­rung fast aller seiner poli­ti­schen Gegner als Putins Agenten in der Ukraine.

Der stra­te­gi­sche Fehler der Poro­schenko-Kam­pa­gne mit ihrem pro­mi­nen­ten Einsatz von „Polit­tech­no­lo­gie“ bestand darin, dass die Wahl­kampf­stra­te­gen des Amts­in­ha­bers mit ihren Mani­pu­la­ti­ons­tech­ni­ken in Kon­kur­renz zu Selen­skyjs Team aus dem Show­busi­ness traten. Poro­schen­kos „Polit­tech­no­lo­gen“ mit ihren Memes, Slogans und Tricks aus den Wahl­kämp­fen der Neun­zi­ger traten nun gegen Profis an, deren beruf­li­che Qua­li­fi­ka­tion und Spe­zia­li­sie­rung darin besteht, bestimmte Emo­tio­nen bei Men­schen her­vor­zu­ru­fen. Der Haupt­kon­kur­rent Poro­schen­kos und seines Teams waren seit Anfang 2019 eben nicht mehr Julija Tymo­schenko und ihre „Polit­tech­no­lo­gen“, sondern eine erfolg­rei­che Mann­schaft aus der Unterhaltungsindustrie.

Bei dem von Poro­schenko gewähl­ten Wett­be­werbs­for­mat zählten weniger poli­ti­sche Inhalte, Errun­gen­schaf­ten und Pläne als viel­mehr kon­kur­rie­rende öffent­li­che Images der Kan­di­da­ten. Eine solche Gegen­über­stel­lung von Per­sön­lich­kei­ten und Meta­phern spielte der Mann­schaft Selen­skyjs in die Hände, ähnelte diese Her­aus­for­de­rung doch den All­tags­auf­ga­ben der gewief­ten Enter­tain­ment­ex­per­ten. Para­do­xer­weise trug die von Poro­schenko selbst für seine Wie­der­wahl ange­wandte, auf emo­tio­na­len Formeln und Bildern beru­hende Wahl­kampf­stra­te­gie zu Selen­skyjs erd­rutsch­ar­ti­gem Sieg im Früh­jahr 2019 bei.

Die gesun­kene Tole­ranz für poli­ti­sche Seil­schaf­ten in der Ukraine

Der letzte Faktor, der eine wich­tige Rah­men­be­din­gung von Poro­schen­kos Nie­der­lage war, bestand darin, dass seine relativ erfolg­rei­che Amts­zeit von 2014 bis 2019 nicht mehr den gewach­se­nen Erwar­tun­gen der post­re­vo­lu­tio­nä­ren ukrai­ni­schen Gesell­schaft ent­sprach, die sich zudem im Kriegs­zu­stand befand. Poro­schenko war ein relativ erfolg­rei­cher Refor­mer, baute die ukrai­ni­sche Armee neu auf, ver­folgte eine ergeb­nis­ori­en­tierte Außen­po­li­tik und stoppte den Vorstoß Russ­lands in die Ukraine. Jedoch ver­än­der­ten der Krieg und die damit ver­bun­dene Wirt­schafts­krise gleich­zei­tig die Wahr­neh­mung der immer noch alten Füh­rungs­me­tho­den unter Poroschenko.

Zwi­schen 2014 und 2019 gab es zwar eine deut­li­che Ver­bes­se­rung in der Regie­rungs­füh­rung des ukrai­ni­schen Staates und erheb­li­che Ein­schrän­kun­gen für die Anwen­dung kor­rup­ter Geschäfts­sche­mata. Unter anderem wurde der Ein­fluss der Olig­ar­chen im Ener­gie­sek­tor redu­ziert, der Ban­ken­sek­tor weniger mani­pu­lier­bar gemacht, und es begann eine grund­le­gende Dezen­tra­li­sie­rung, welche Ent­schei­dungs­be­fug­nisse aus der kor­rup­ten Zen­tral­staats- an die lokale Selbst­ver­wal­tung über­trägt. Das poli­ti­sche System blieb in seinen Grund­fes­ten nichts­des­to­we­ni­ger olig­ar­chisch. Par­la­ment, Regie­rung und Prä­si­di­al­ver­wal­tung wurden wei­ter­hin von Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen und Lob­by­grup­pen unter­wan­dert, was Anfang 2016 im Zusam­men­hang mit dem Rück­tritt von Wirt­schafts­mi­nis­ter Aivaras Abrom­a­vičius (aus Protest gegen die Fort­dauer kor­rup­ter Patro­na­ge­netz­werke in staats­ei­ge­nen Indus­trie­be­trie­ben) zu einer mas­si­ven Regie­rungs­krise führte.

Dies geschah vor dem Hin­ter­grund einer seit 2014 rapide stei­gen­den öffent­li­chen Ableh­nung olig­ar­chi­scher Regie­rungs­prak­ti­ken – her­vor­ge­ru­fen durch den Krieg im Donez­be­cken und die damit zusam­men­hän­gende Wirt­schafts­krise. Während vor dem Euro­mai­dan viele Ukrai­ner häufig ihre Augen vor poli­ti­scher Kor­rup­tion ver­schlos­sen, sank diese Tole­ranz ange­sichts täg­li­cher Schuss­wech­sel an der sog. Kon­takt­li­nie, all­wö­chent­li­cher Todes­mel­dun­gen, anhal­ten­den psy­chi­schen Stres­ses und einer all­ge­mei­nen Ver­ar­mung weiter Bevöl­ke­rungs­teile im Ergeb­nis der hohen Infla­tion 2014–2015. Obwohl der admi­nis­tra­tive, legis­la­tive, inter­na­tio­nale und wirt­schaft­li­che Fort­schritt der Ukraine unter Poro­schenko beträcht­lich war, überwog schließ­lich die gewach­sene Inak­zep­tanz alter Füh­rungs­prak­ti­ken. Poro­schen­kos ver­schie­dene Errun­gen­schaf­ten waren zwar erheb­lich, blieben jedoch immer weiter hinter den poli­ti­schen Erwar­tun­gen nach dem Euro­mai­dan zurück.

Dies illus­triert etwa der letzte große poli­ti­sche Skandal vor den Wahlen, der sich um den engen Ver­trau­ten Poro­schen­kos und stell­ver­tre­ten­den Vor­sit­zen­den des Natio­na­len Sicher­heits- und Ver­tei­di­gungs­ra­tes, Oleh Hlad­kovs­kyj und seinen Sohn sowie deren dubiose Beschaf­fung von Ersatz­tei­len für die Armee drehte. Im Jahr 2019 erlangte dieser Skandal eine andere Bedeu­tung, als es bis 2013 noch der Fall gewesen wäre. Bis zur Revo­lu­tion war die Auf­merk­sam­keit, Sen­si­bi­li­tät und Empö­rung der Öffent­lich­keit betreffs solcher Ver­stöße deut­lich gerin­ger gewesen. Doch in einem Krieg mit tau­sen­den Toten sowie hun­dert­tau­sen­den Flücht­lin­gen, ver­lo­re­nen Staats­ge­bie­ten und hohen Ent­beh­run­gen für die gesamte Gesell­schaft erwies sich Poro­schen­kos „Olig­ar­chie light“ und sein ein­ge­heg­tes Patro­na­ge­sys­tem 2014–2019 trotz der im Ver­gleich zum Janu­ko­witsch-Regime 2010 – 2014 wesent­lich bes­se­ren Regie­rungs­füh­rung als nicht mehr zeitgemäß.

Schluss­be­mer­kung: Selen­skyj als Geschöpf Poroschenkos

Diese vier Fak­to­ren sind Teil einer Erklä­rung des außer­ge­wöhn­lich mise­ra­blen Abschnei­dens Poro­schen­kos im ersten und ins­be­son­dere zweiten Gang der ukrai­ni­schen Prä­si­dent­schafts­wah­len vom Früh­jahr 2019 sowie der nicht minder denk­wür­di­gen Ergeb­nisse der Par­la­ments­wah­len vom Sommer 2019. Diese fol­gen­rei­chen lan­des­wei­ten Abstim­mun­gen prägte frei­lich in hohem Maße das Selen­skyj-Phä­no­men, d.h. der poli­ti­sche Auf­stieg eines popu­lä­ren Unter­hal­tungs­künst­lers und dessen beson­de­rer Ansatz zu Wahl­kämp­fen. Jedoch waren es zunächst Poro­schen­kos teil­weise Nicht­er­fül­lung seines post­re­vo­lu­tio­nä­ren Mandats, halb­her­zige Anti­kor­rup­ti­ons­maß­nah­men sowie kul­tur­po­li­ti­schen Irrwege, welche den poli­ti­schen Raum für einen unbe­fleck­ten New­co­mer und die öffent­li­che Nach­frage nach einem abso­lu­ten Out­si­der schufen.

Poro­schenko, seine Partei „Euro­päi­sche Soli­da­ri­tät“ und viele seiner Unter­stüt­zer prä­sen­tie­ren sich auch Monate nach ihren spek­ta­ku­lä­ren Wahl­nie­der­la­gen vom Früh­jahr und Sommer 2019 als exis­ten­ti­elle Anti­po­den und patrio­ti­sche Fun­da­men­tal­op­po­si­tion zu Selen­skyjs Prä­si­dent­schaft, Par­la­ments­frak­tion und Regie­rung. Jedoch legten die kurz­sich­ti­gen Innen- und Kul­tur­po­li­ti­ken Poro­schen­kos und seiner beiden Regie­run­gen von 2014 – 2016 /​ 2016 – 2019 sowie die teils bizar­ren Wahl­kampf­stra­te­gien des Amts­in­ha­bers Anfang 2019 in vie­ler­lei Hin­sicht die Grund­la­gen für den radi­ka­len Wechsel in der ukrai­ni­schen poli­ti­schen Elite 2019. Die bis heute anhal­tende Radi­ka­li­tät der Ver­ur­tei­lung und Unmä­ßig­keit der Ableh­nung der neuen ukrai­ni­schen Staats­füh­rung durch viele Poro­schenko-Anhän­ger lange nach Ende der Wahl­kampf­sai­son doku­men­tiert einmal mehr jene kogni­tive Dis­so­nanz in Teilen der ukrai­ni­schen intel­lek­tu­el­len Elite, die 2019 zum meteo­ri­ten­haf­ten Auf­stieg des Show­mans Selen­skyj in die ukrai­ni­sche Politik führte.

DANKSAGUNG: Dieser Artikel fußt auf einem am 24. April 2019 an der Phi­lo­so­phi­schen Fakul­tät der Karls-Uni­ver­si­tät Prag prä­sen­tier­ten rus­si­schen Text. Herz­li­cher Dank gilt Marek Příhoda und Alex­an­der Morosow vom Fach­be­reich Ost­eu­ro­pa­stu­dien für ihre Ein­la­dung zu diesem öffent­li­chen Vortrag am Boris-Nemzow-Zentrum für Aka­de­mi­sche Russ­land­for­schung der Karls-Uni­ver­si­tät sowie zu seiner par­al­le­len Ver­öf­fent­li­chung in rus­si­scher Sprache in „Oriens Aliter: Časopis pro kulturu a dějiny střední a východní Evropy“, der Prager Zeit­schrift des Fach­be­reichs Ost­eu­ro­pa­stu­dien. Anton Pis­arenko vom Insti­tut für Euro-Atlan­ti­sche Koope­ra­tion Kiew gab wert­volle Hin­weise zu einem ersten Entwurf des Arti­kels. Keiner der genann­ten Kol­le­gen ist jedoch ver­ant­wort­lich für etwaige Unge­nau­ig­kei­ten im vor­lie­gen­den Text.

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

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