Die vielen Her­aus­for­de­run­gen des neuen ukrai­ni­schen Präsidenten

Mit welchen spe­zi­fi­schen Her­aus­for­de­run­gen bzw. ihrer Kom­bi­na­tion wird sich die Ukraine im Laufe der nächs­ten Monate und Jahre kon­fron­tiert sehen? Welche Fragen sind am bri­san­tes­ten für west­li­che Diplo­ma­ten, Poli­ti­ker, Exper­ten und Jour­na­lis­ten, die sich mit der Ukraine beschäf­ti­gen? Ein unvoll­stän­di­ger Fra­gen­ka­ta­log zu Kyjiws Reform­plä­nen, West­in­te­gra­tion und Kon­flikt­ein­däm­mung 2019–2024. Von Andreas Umland.

Am 20. Mai wurde der neue Prä­si­dent der Ukraine, Wolo­do­myr Selen­skyj, in sein Amt ein­ge­führt. Im Laufe dieses Jahres wird sich – nach den Wahlen zum Euro­päi­schen Par­la­ment – die EU-Füh­rungs­spitze in Brüssel neu­for­mie­ren. Schließ­lich werden die vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wah­len am 21. Juli in der Ukraine zu einer Neu­auf­stel­lung eines Groß­teils der regie­ren­den Elite führen und tief­grei­fende Ver­än­de­run­gen in der Legis­la­tive, Exe­ku­tive und teil­weise auch Judi­ka­tive des Landes ein­lei­ten. Sowohl die Innen- als auch Außen­po­li­tik der Ukraine wird sich dem­nächst unter in vieler Hin­sicht neuen Bedin­gun­gen gestalten.

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

Mit welchen spe­zi­fi­schen Her­aus­for­de­run­gen bzw. ihrer Kom­bi­na­tion wird sich die Ukraine im Laufe der nächs­ten Monate und Jahre kon­fron­tiert sehen? Welche Fragen sind am bri­san­tes­ten für west­li­che Diplo­ma­ten, Poli­ti­ker, Exper­ten und Jour­na­lis­ten, die sich mit der Ukraine beschäf­ti­gen? Fünf der wich­tigs­ten The­men­kom­plexe, die Kyjiw und seine Partner im Jahr 2019 umtrei­ben werden, lassen sich unter fol­gen­den Schlag­zei­len zusammenfassen:

(1) Par­la­ments­wah­len, neue Par­teien, Regierungskoalition,

(2) Refor­men in Staat und Wirt­schaft, Bezie­hung zum IWF, eine neue Verfassung,

(3) Gas­trans­port, Nord Stream 2, ukrai­ni­sche Gasförderung,

(4) EU-Ukraine-Bezie­hun­gen, Umset­zung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens, Koope­ra­tion inner­halb von GUAM,

(5) der Krieg im Donbas, die Minsker Abkom­men und das Normandie-Format

– eine Liste, die sich fort­set­zen ließe.

Wahlen

Zu den hei­kels­ten Fragen um das erste Thema (Wahlen, Par­la­ment, Regie­rung), das während des nächs­ten halben Jahres viele vor­ran­gig inter­es­sie­ren wird, zählen, ob und wie der neue Prä­si­dent mit dem alten Par­la­ment sowie der amtie­ren­den Regie­rung bis zur Bildung einer neuen Regie­rung nach den Par­la­ments­wah­len koope­rie­ren wird. Werden diese Wahlen nach altem Recht durch­ge­führt oder wird das bereits teil­weise ver­ab­schie­dete neue Wahl­ge­setz – das eine aus­schließ­lich pro­por­tio­nale Ver­tre­tung auf­grund offener Par­tei­lis­ten vor­sieht – noch recht­zei­tig in Kraft treten, um in diesem Jahr zur Anwen­dung zu kommen? Und werden die Par­la­ments­wah­len tat­säch­lich – wie von Selen­skyj gewollt und vom Par­la­ment bestä­tigt– schon am 21. Juli stattfinden?

Aus­län­di­sche Beob­ach­ter fragen sich zudem, wie viele und welche neuen Reform­par­teien an den Wahlen teil­neh­men werden und wie eine mög­li­che neue Kon­stel­la­tion im Par­la­ment aus­se­hen wird. Könnte die Frak­tion von Selen­skyjs Partie „Diener des Volkes“ stark genug werden, um die neue Regie­rung zu domi­nie­ren oder gar allein zu stellen? Und wenn nicht: Welche Par­teien würden an einer neuen Koali­ti­ons­re­gie­rung betei­ligt sein? Wie viel – so es sie denn über­haupt geben wird – per­so­nelle Kon­ti­nui­tät wird es an der Spitze einer neuen Regie­rung geben? Und ins­be­son­dere: Wer wird nach den Par­la­ments­wah­len der/​die neue Premierminister/​in?

Wie geht es weiter mit den Reformen?

Zu den wich­tigs­ten Aspek­ten des zweiten The­men­be­reichs – Refor­men, Koope­ra­tion mit dem IWF, neue Ver­fas­sung – zählen einige prak­ti­sche Fragen, die zugleich hohe Sym­bol­wir­kung haben: Wann und wie wird der neue Gerichts­hof zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung seine Arbeit auf­neh­men? Wie und wann werden die Anti­kor­rup­ti­ons-Staats­an­walt­schaft und weitere Insti­tu­tio­nen zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung refor­miert? Inwie­weit werden gene­rell die Rechts­staats­re­for­men unter Selen­skyj gedeihen?

Außer­dem: Könnten sich die Gas­preise für die Bevöl­ke­rung unter dem neuen Prä­si­den­ten ändern? Wird der neue Prä­si­dent die Zusam­men­ar­beit mit dem IWF im bis­he­ri­gen Format fort­set­zen? Und wenn ja: Wird die IWF-Finan­zie­rung aus­rei­chen, um die großen Schul­den der Ukraine abzu­de­cken, die in den nächs­ten zwei Jahren getilgt werden müssen? Wird der IWF sei­ner­seits seine aktu­elle Politik gegen­über der Ukraine bei­be­hal­ten oder anpassen?

Während der letzten Jahre wurde die Dezen­tra­li­sie­rung zu einem der popu­lärs­ten Trans­for­ma­ti­ons­pro­gramme inner­halb der Ukraine und bei aus­län­di­schen Beob­ach­tern: Wird diese Reform wie zuvor fort­ge­setzt, vor­an­ge­trie­ben, gebremst oder beschnit­ten werden, wenn ihr bisher wich­tigs­ter För­de­rer, Pre­mier­mi­nis­ter Hro­js­man, zurück­tritt? Eine spe­zi­elle Frage ist, ob die lau­fen­den Gemein­de­am­al­ga­mie­run­gen wei­ter­hin auf frei­wil­li­ger Basis durch­ge­führt werden oder nicht, und ob die Ter­ri­to­ri­al­re­form der Ukraine bis zur nächs­ten Runde regu­lä­rer Regio­nal- und Kom­mu­nal­wah­len im Oktober 2020 abge­schlos­sen werden kann.

Eine noch größere Frage, die sich viele stellen: Wird es eine grund­le­gende Ver­fas­sungs­re­form geben? Und wenn ja: Wann und in welcher Form wird sie statt­fin­den und wie weit genau wird sie gehen? Ins­be­son­dere: Kann und soll die Ukraine zu einer par­la­men­ta­ri­schen Repu­blik werden, viel­leicht sogar mit einer zweiten Kammer oder anderen neuen Reprä­sen­ta­tiv­or­gan, wie es etwa Julija Tymo­schenko in ihrem Pro­gramm „Neuer Kurs“ fordert?

Gas und Gastransit

Beim dritten Thema – Erd­gas­trans­port und ‑ver­sor­gung – geht es in den nächs­ten Monaten vor allem um das Schick­sal der berüch­tig­ten Nord Stream 2‑Unterwasserpipeline, die Gazprom derzeit durch die Ostsee baut.  Werden die Ver­ei­nig­ten Staaten gegen­über den euro­päi­schen Part­nern Russ­lands bezüg­lich dieses rie­si­gen Infra­struk­tur­pro­jekts Sank­tio­nen ver­hän­gen – und wenn ja, in welchem Ausmaß? Und werden auch rele­vante EU-Regeln Russ­lands Nutzung der Pipe­line Nord Stream 2 wesent­lich beein­flus­sen? Falls Washing­ton und/​oder Brüssel nen­nens­werte Maß­nah­men ergrei­fen: Was wären die Aus­wir­kun­gen auf die Fer­tig­stel­lung und den Betrieb von Nord Stream 2 und ihre Nach­wir­kun­gen für die Ukraine?

Wenn Nord Stream 2 in vollem Maße Betrieb auf­nimmt, werden die flan­kie­ren­den Bedin­gun­gen wichtig. Was werden in einem der­ar­ti­gen Fall die kom­bi­nier­ten Aus­wir­kun­gen von Nord Stream 2 und Turk Stream (durchs Schwarze Meer) auf den Import west­si­bi­ri­schen Gases in die EU sein? Wird es für alle Seiten annehm­bare Ver­ein­ba­run­gen zwi­schen Moskau, Brüssel und Kyjiw über die künf­tige Nutzung des ukrai­ni­schen Erd­gas­trans­port­sys­tems und seine großen Gas­la­ger­stät­ten geben? Wie werden sich die ukrai­ni­schen Importe von Erdgas ent­wi­ckeln und welche Per­spek­ti­ven haben die Erd­gas­vor­kom­men der Ukraine, die kon­ven­tio­nel­len Lager­stät­ten ebenso wie Schie­fer­gas­fel­der, in nächs­ter Zukunft?

Aus­wär­tige Beziehungen

Inner­halb des vierten Themas – Bezie­hun­gen zur EU und ihren anderen Ost­part­ner­schafts­staa­ten – wird die primäre Fra­ge­stel­lung lauten, wie gut und schnell die aktu­elle Umset­zung des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens in Zukunft vor­an­schrei­ten wird. Und im Wei­te­ren: Wie wird das Ver­hält­nis zwi­schen der Ukraine und EU jen­seits des Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens aus­se­hen? Ein beson­ders drin­gen­des Problem für die neue Führung in Kyjiw besteht darin, wie sie wesent­lich größere aus­län­di­sche Direkt­in­ves­ti­tio­nen aus der EU und anderen Welt­re­gio­nen anzie­hen kann.

Weniger hitzig dis­ku­tiert, aber nicht weniger wichtig ist die Frage, welche bes­se­ren oder neuen Koope­ra­ti­ons­for­mate zwi­schen der Ukraine und anderen post­kom­mu­nis­ti­schen Ländern, so etwa Geor­gien, Aser­bai­dschan und Moldau (GUAM), möglich sind. Könnte die par­la­men­ta­ri­sche Koope­ra­tion zwi­schen den Ländern der Öst­li­chen Part­ner­schaft und EU inner­halb von Euro­Nest in den nächs­ten Jahren hilf­reich sein? Könnten die Ukraine oder Moldau Mit­glie­der der Drei-Meere-Initia­tive ost­eu­ro­päi­scher EU-Mit­glieds­län­der oder die Ukraine und Geor­gien Teile der Buka­rest-Neun-Gruppe ost­eu­ro­päi­scher NATO-Staaten werden? Könnten die GUAM-Staaten eine mul­ti­la­te­rale Koope­ra­tion mit den USA ent­wi­ckeln, die an die ältere Bal­ti­sche bzw. Adria­ti­sche Charta ange­lehnt wäre? Und – zu guter Letzt: Haben die Ukraine, Geor­gien und Moldova eine rea­lis­ti­sche Chance, in naher Zukunft eine zumin­dest unver­bind­li­che Mit­glied­schafts­per­spek­tive aus Brüssel zu erhal­ten, d. h. eine offi­zi­elle Zusage eines künf­ti­gen EU-Bei­tritts, sobald sie ent­spre­chende Bedin­gun­gen erfüllen?

Krieg im Donbas

Der fünfte und wohl schwie­rigste The­men­kom­plex für die Ukraine betrifft den Krieg im Donez­ker Bassin (Donbas) und seine viel­fäl­ti­gen kom­pli­zier­ten Aspekte sowie destruk­tive Aus­wir­kun­gen. Was bedeu­tet etwa Russ­lands Ankün­di­gung, Bürgern des Donez­be­ckens nunmehr rus­si­sche Pässe im Schnell­ver­fah­ren aus­zu­stel­len, für die Minsker Abkom­men? Die neue Führung der Ukraine wird ins­be­son­dere zu ent­schei­den haben, ob sie sich immer noch in einer Posi­tion befin­det, die poli­ti­schen Teile der Minsker Abkom­men umzu­set­zen – ein Thema, das schon seit Jahren in Kyjiw höchst umstrit­ten ist. Womög­lich müssen auch Frank­reich und Deutsch­land ihre Posi­tio­nen zu den Abkom­men zwi­schen Russ­land und der Ukraine aus den Jahren 2014 und 2015 im Lichte der neuen rus­si­schen Pass­ver­ga­be­re­geln im Donbas neu for­mu­lie­ren. Falls die Minsker Abkom­men mehr oder minder in Kraft bleiben: In welcher genauen Abfolge sollen ihre Kapitel zu Sicher­heit und Politik umge­setzt werden?

Wenn, ande­rer­seits, die Minsker Abkom­men auf­grund der ver­ein­fach­ten Ein­bür­ge­rungs­re­ge­lung und anderer rus­si­scher Poli­tik­ver­schär­fun­gen in ihrer Sub­stanz aus­ge­he­belt werden: Kann und soll das sog. Nor­man­die-Format der Donbas-Ver­hand­lun­gen bei­be­hal­ten werden? Und wenn nicht: Kann es rea­lis­tisch ver­än­dert werden? Etliche Poli­ti­ker und Diplo­ma­ten der Ukraine befür­wor­ten seit gerau­mer Zeit, dass der Ver­hand­lungs­rah­men bezüg­lich des Donbas geän­dert und z. B. durch die Buda­pest-Gruppe (benannt nach dem bekann­ten Memo­ran­dum von 1994), d. h. die Ukraine, Ver­ei­nig­ten Staaten, Russ­land und Groß­bri­tan­nien, oder das Genfer Format (benannt nach einer Gemein­sa­men Erklä­rung von 2014), d. h. die Ukraine, EU, USA und Russ­land, ersetzt wird. Das grund­le­gende Problem dieser und ähn­li­cher Vor­schläge besteht aller­dings darin, dass Moskau einer der­ar­ti­gen For­mats­än­de­rung zustim­men müsste, was derzeit unwahr­schein­lich ist.

Falls die heutige Patt­si­tua­tion in der Ost­ukraine bestehen bleibt, lautet die drin­gendste Frage für die Ukraine und den Westen, ob und wie dieser Kon­flikt zumin­dest ein­ge­fro­ren werden könnte. Können die beinahe täg­li­chen Schuss­wech­sel und all­wö­chent­li­chen Todes­fälle an der sog. Kon­takt­li­nie gestoppt werden? So sich die derzeit fragile Lage nicht sub­stan­ti­ell ver­bes­sern lässt: Wie sieht die Zukunft der aktu­el­len OSZE-Son­der­be­ob­ach­ter­mis­sion (SMM) aus? Kann oder soll sie ver­än­dert oder in ihrer der­zei­ti­gen Form bei­be­hal­ten werden? Wenn jedoch Moskau seine Posi­tion positiv ver­än­dert und einer schritt­wei­sen Lösung des Kon­flikts im Donbas zustimmt: Wann und wie kann eine UN-Frie­dens­mis­sion und zivile iner­na­tio­nale Über­gangs­ad­mi­nis­tra­tion rea­li­siert und finan­ziert werden? Zu guter Letzt: Wie kann und soll der Ansatz der Ukraine und des Westens hin­sicht­lich Russ­lands fort­dau­ern­der Anne­xion der Krim aussehen?

Für manch einen mag diese Auf­lis­tung bei weitem nicht alle für die Ukraine bis 2024 – d.h. bis zum Ende der regu­lä­ren Amts­zeit des neuen Prä­si­den­ten – wesent­li­chen Themen ent­hal­ten. Andere Beob­ach­ter mögen manche der hier ange­führ­ten Fragen für red­un­dant oder sogar unan­ge­bracht halten. Die Länge dieser unvoll­stän­di­gen Liste und die Kom­ple­xi­tät der ange­deu­te­ten Themen lässt jedoch darauf schlie­ßen, dass der Job des Prä­si­den­ten der Ukraine wohl zu den schwie­rigs­ten der Welt gehört. Die neue Führung der Ukraine braucht die volle Unter­stüt­zung und kom­pe­tente Berat­schla­gung sowohl durch die ukrai­ni­sche poli­ti­sche und Zivil­ge­sell­schaft als auch von west­li­chen Ländern und inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen, um diese schwie­rige Phase zu meistern.

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