Das ver­ges­sene Poten­tial der ukrai­ni­schen Energiereserven

Das Was­ser­kraft­werk Dni­pro­HES in Sapo­rischschja © Vitalii Vitleo /​ Shut­ter­stock

Die Ukraine ist ein ener­gie­ab­hän­gi­ges Land. Sie impor­tiert Gas, Öl, Erd­öl­pro­dukte, Kern­brenn­stoffe und sogar Kohle. Dabei hätte das Land es nicht nötig zu impor­tie­ren, denn die Ukraine besitzt selber einiges an Ener­gie­res­sour­cen. Aber warum wird dieses Poten­tial nicht genutzt? Eine Analyse von Ana­to­liy Amelin, Andrian Prokip und Andreas Umland (Ukrai­nian Insti­tute for the Future).

In den ver­gan­ge­nen Jahren ist die Frage der künf­ti­gen euro­päi­schen Ener­gie­ver­sor­gung zuneh­mend ein geo­po­li­ti­sches Thema gewor­den. Die Debatte um kon­kur­rie­rende Gas­trans­port­rou­ten ist ins­be­son­dere mit den ange­spann­ten ukrai­nisch-rus­si­schen Bezie­hun­gen ver­knüpft. Ende 2019 schloss Kyjiw – u.a. als Folge neuer US-Sank­tio­nen gegen Russ­lands Off­shore-Pipe­line-Pro­jekte – ein vor­teil­haf­tes Tran­sit­ab­kom­men mit Moskau für den Trans­fer west­si­bi­ri­schen Gases in die EU ab. Das 5‑Jah­res-Abkom­men sichert derzeit die weitere Nutzung eines Teils des großen Gas­trans­port­sys­tems der Ukraine. Solange die Gazprom-Pipe­line Nord Stream II durch die Ostsee nicht in Betrieb geht, verfügt das ukrai­ni­sche Gas­lei­tungs­netz über eine gute geo­öko­no­mi­sche Per­spek­tive und wich­tige geo­po­li­ti­sche Rolle.

Die bekann­ten Kon­fron­ta­tio­nen und Ver­hand­lun­gen über ver­schie­dene Routen rus­si­scher Gas­lie­fe­run­gen in die EU waren jedoch auch eine Ablen­kung Kyjiws und seiner Partner vom öko­no­mi­schen Poten­zial der eigenen Gas- und Ölre­ser­ven sowie der großen Gas­spei­cher und Bio­gas­res­sour­cen der Ukraine.

Die beträcht­li­chen ukrai­ni­schen Natur­schätze und Lager­ka­pa­zi­tä­ten im Ener­gie­be­reich werden unge­nü­gend genutzt und sind noch nicht voll­stän­dig erschlos­sen. Und dies trotz der Tat­sa­che, dass ihre bessere Aus­beu­tung Wachs­tum nicht nur im ukrai­ni­schen Ener­gie­sek­tor, sondern auch in anderen Wirt­schafts­zwei­gen des Landes ankur­beln könnte. 

Betrach­tet man die gewal­ti­gen Erd­gas­re­ser­ven im asia­ti­schen Teil Russ­lands als außer­eu­ro­päi­sche Lager­stät­ten, verfügt die Ukraine heute über die zweit­größ­ten bekann­ten euro­päi­schen Gas­vor­kom­men. Ende 2019 ent­hiel­ten die bis dahin erkun­de­ten ukrai­ni­schen Lager­stät­ten 1,09 Bil­lio­nen Kubik­me­ter Erdgas. Dies ist ein Betrag, der inner­halb Europas nur den bekann­ten nor­we­gi­schen Res­sour­cen von 1,53 Bil­lio­nen Kubik­me­tern nachsteht.

Dennoch liegen die enormen Ener­gie­re­ser­ven der Ukraine bisher zu einem großen Teil brach. Die Ukraine ver­braucht pro Jahr bisher nur etwa 2 Prozent seiner bekann­ten Vor­kom­men. Darüber hinaus könnte eine inten­si­vere Explo­ra­tion even­tu­ell noch unent­deck­ter Gas­fel­der das Gesamt­vo­lu­men nutz­ba­rer ukrai­ni­scher Vor­kom­men weiter erhöhen – womög­lich sogar erheblich.

Trotz dieser hoff­nungs­vol­len Situa­tion ist die Ukraine nach wie vor auf erheb­li­che Gasim­porte ange­wie­sen. Als die UdSSR in den 1970er Jahren mit ihrer Gas­för­de­rung in West­si­bi­rien begann, wurde ein Groß­teil des ein­schlä­gi­gen Fach­wis­sens und der Kapa­zi­tä­ten im Bereich der sowje­ti­schen Gas­ex­plo­ra­tion und ‑pro­duk­tion von der ukrai­ni­schen in die rus­si­sche Sowjet­re­pu­blik abge­zo­gen. Infol­ge­des­sen sind die ver­blei­ben­den Gas­res­sour­cen der Ukraine bis heute unzu­rei­chend erschlos­sen, teils unge­nutzt und unvoll­stän­dig erforscht.

Bis zum Beginn der Coro­na­krise belief sich der durch­schnitt­li­che jähr­li­che Gesamt­ver­brauch der Ukraine auf ca. 32 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter. Von diesem Gesamt­jah­res­be­darf wurden Jahr für Jahr etwa 10 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter durch Importe gedeckt. Die Gegen­über­stel­lung dieser Volu­mina mit den oben genann­ten Zahlen legt die Mög­lich­keit einer gera­dezu revo­lu­tio­nä­ren Zukunft für den Ener­gie­sek­tor der Ukraine nahe.

Eine ent­schlos­sene Erschlie­ßung der bereits bekann­ten und zugäng­li­chen ukrai­ni­schen Res­sour­cen könnte zu einer erheb­li­chen Stei­ge­rung der ukrai­ni­schen Gas­pro­duk­tion führen. Dies könnte das Land nicht nur in die Lage ver­set­zen, seinen inlän­di­schen Gas­be­darf voll­stän­dig selbst zu decken und ener­gie­mä­ßig weit­ge­hend autark zu werden. Im güns­tigs­ten Fall könnte die Ukraine in die Lage ver­setzt werden, auch mit eigenem Export von Erdgas in und über benach­barte EU-Staaten zu begin­nen. Mit ihrem rie­si­gen Gas­trans­port­sys­tem verfügt die Ukraine bereits über die not­wen­dige Infra­struk­tur, um große Gas­men­gen in die EU zu transportieren.

Die EU wird einigen Schät­zun­gen zufolge im Jahr 2030 rund 90 Prozent des von ihr ver­brauch­ten Gases impor­tie­ren müssen. Daher wird Brüssel im nächs­ten Jahr­zehnt bestrebt sein, die Quellen und Routen der euro­päi­schen Gas­ver­sor­gung zu diversifizieren.

In einem solchen Kontext werden auch klei­nere, bereits heute aktive oder poten­zi­elle künf­tige Expor­teure wie die Ukraine für Brüssel inter­es­sant. Ihre Lie­fe­run­gen können die Abhän­gig­keit der EU von den domi­nan­ten Akteu­ren im Ener­gie­be­reich ver­rin­gern und die euro­päi­sche Ver­hand­lungs­po­si­tion vis-a-vis der Groß­ex­por­teure stärken. 

Laut einer kürz­li­chen Studie des Ukrai­ni­schen Insti­tuts für die Zukunft würde die Schaf­fung einer aut­ar­ken ukrai­ni­schen Ener­gie­wirt­schaft und Umwand­lung der Ukraine in einen Ener­gie­ex­por­teur Gesamt­in­ves­ti­tio­nen in Höhe von etwa 19,5 Mil­li­ar­den US-Dollar erfor­dern. Für die Erschlie­ßung von Gas­fel­dern und den Bau zusätz­li­cher Pipe­lines werden ca. 3,5 Mil­li­ar­den US-Dollar benö­tigt. Etwa 14 Mil­li­ar­den US-Dollar müssten in die Ölför­de­rung fließen. Weitere 2 Mil­li­ar­den US-Dollar müssten in die Ölraf­fi­na­tion inves­tiert werden.

Dieses Inves­ti­ti­ons­vo­lu­men zur Errei­chung voll­stän­di­ger Ener­gie­un­ab­hän­gig­keit stellt vor dem Hin­ter­grund des relativ kleinen Staats­haus­halts und BIP der Ukraine einen beträcht­li­chen Betrag dar. Die Summe ent­spricht jedoch nur den unge­fäh­ren Kosten für die der­zei­ti­gen ukrai­ni­schen Ener­gie­im­porte über einen Zeit­raum von zwei bis drei Jahren. Somit würde sich selbst solch relativ hohe Gesamt­in­ves­ti­tio­nen schnell amortisieren.

In den letzten Jahren hat die Ukraine, oft auf Druck des IWF, vormals ver­zer­rende staat­li­che Ein­griffe in ihren inter­nen Gas­markt abge­baut. Kyjiw hat Markt­preise für die Bevöl­ke­rung ein­ge­führt und sub­ven­tio­niert nicht mehr aus­nahms­los alle Pri­vat­haus­halte. Diese neue und wirt­schaft­lich trag­fä­hi­gere Situa­tion in der Ener­gie­wirt­schaft der Ukraine dürfte aus- und inlän­di­sches finan­zi­el­les Enga­ge­ment in der ukrai­ni­schen Gas­för­de­rung und ‑explo­ra­tion attrak­ti­ver machen, als dies in der Ver­gan­gen­heit der Fall war. Das Inves­ti­ti­ons­klima wird sich wieder ver­bes­sern, wenn sich die euro­päi­schen Ener­gie­märkte ver­mut­lich im Zuge einer welt­wei­ten Ein­däm­mung der COVID-19-Pan­de­mie ab 2021 zu erholen beginnen.

Die Ukraine verfügt über eine der am besten ent­wi­ckel­ten und umfas­sends­ten Infra­struk­tu­ren zur Gas­trans­por­tie­rung und ‑auf­be­wah­rung der Welt. 

Dies gilt sowohl in Bezug auf ihre Inlands­ver­sor­gung als auch für die aus­län­di­sche Kund­schaft der Ukraine. Das riesige ukrai­ni­sche Gas­tran­sit­sys­tem stellt ein Erbe der sowje­ti­schen Ener­gie­ex­pan­sion nach Europa und deut­schen Neuen Ost­po­li­tik der 1970er Jahre dar. Es war lange Zeit der Haupt­kor­ri­dor für den Trans­fer von sowje­ti­schem und später rus­si­schem sowie zen­tral­asia­ti­schem Gas in zahl­rei­che euro­päi­sche Staaten. Nach der Fer­tig­stel­lung der ersten Nord Stream-Pipe­line Ende 2012 ist die der­zei­tige Nutzung dieser Kapa­zi­tä­ten auf­grund der zuneh­men­den Ein­füh­rung erneu­er­ba­rer Ener­gie­res­sour­cen und ange­sichts des der­zei­ti­gen wirt­schaft­li­chen Abschwungs deut­lich gerin­ger als noch zehn Jahre zuvor. Dennoch sind die Pipe­lines und Kom­pres­so­ren weiter nutzbar und könnten nicht nur rus­si­sches oder turk­me­ni­sches, sondern auch ukrai­ni­sches Gas in die EU liefern.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Teil der mehr­di­men­sio­na­len ukrai­ni­schen Gas­in­fra­struk­tur sind die gewal­ti­gen unter­ir­di­schen Gas­spei­cher des Landes. Die gesam­ten und derzeit nur teils genutz­ten ukrai­ni­schen Kapa­zi­tä­ten zur Spei­che­rung von Erdgas belau­fen sich auf mehr als 31 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter. Damit kann die Ukraine fast ein Drittel zu den derzeit rund 100 Mil­li­ar­den Kubik­me­tern Spei­cher­platz, die alle EU-Mit­glied­staa­ten zusam­men­ge­nom­men haben, hin­zu­fü­gen. Es über­rascht nicht, dass das füh­rende Ener­gie­for­schungs- und ‑bera­tungs­un­ter­neh­men Wood Macken­zie (WoodMac) kürz­lich schrieb, die Ukraine stelle den Schlüs­sel zur Über­win­dung von Europas Gas­ver­sor­gungs­eng­päs­sen dar. Infolge der Coro­na­krise sind die Welt­gas­preise niedrig, doch die Spei­cher­an­la­gen der EU ver­fü­gen nicht über genü­gend Platz, um diese güns­tige Situa­tion voll auszunutzen.

Ende 2019 ver­ab­schie­dete die Ukraine einige Ände­run­gen der ein­schlä­gi­gen Gesetze und Richt­li­nien – eine regu­la­to­ri­sche Ände­rung, die die Nutzung freier Lager­ka­pa­zi­tä­ten durch aus­län­di­sche Unter­neh­men erleich­tert hat. 

Infol­ge­des­sen pumpten inter­na­tio­nale Ener­gie­un­ter­neh­men in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 bereits 7,9 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter zur Spei­che­rung in die Ukraine. Dies ist ein Umfang, der jetzt schon um ein Viel­fa­ches höher liegt, als die Menge aus­län­di­schen Gases, die während des gesam­ten Jahres 2019 in der Ukraine ein­ge­la­gert wurde.

Was­ser­stoff­er­zeu­gung und ‑trans­port ist ein wei­te­rer neuer Hori­zont für die unter­ent­wi­ckelte Ener­gie­in­dus­trie der Ukraine. Heute prüfen ver­schie­dene Gas­ver­sor­gungs­un­ter­neh­men die Pipe­line­ka­pa­zi­tä­ten der Ukraine, um ihre Kunden mit Was­ser­stoff zu ver­sor­gen. Die EU hat die Ukraine als einen vor­ran­gi­gen Partner für künf­tige Zusam­men­ar­beit bei der Nutzung von Was­ser­stoff und zur Ver­bes­se­rung der Ener­gie­ver­sor­gung sowie ‑sicher­heit der Union identifiziert.

Eine weitere Ener­gie­form mit großem Poten­zial in der Ukraine ist Biogas. Derzeit verfügt das Land über aus­rei­chende Kapa­zi­tä­ten, um jähr­lich etwa 10 Mil­li­ar­den Kubik­me­ter Biogas zu pro­du­zie­ren. Diese Menge ent­spricht in etwa der Menge an Erdgas, die die Ukraine jedes Jahr impor­tiert. Ange­sichts des derzeit wach­sen­den Land­wirt­schafts­sek­tors der Ukraine könnte die Kapa­zi­tät zur Pro­duk­tion von Biogas weiter zuneh­men. Bei Mischung von Biogas mit Was­ser­stoff ent­steht Bio­me­than, eine beson­ders umwelt­freund­li­che Energieform.

Eine Stei­ge­rung der ukrai­ni­schen Inlands­pro­duk­tion von Erdgas, Biogas, Was­ser­stoff und Bio­me­than würde die Abhän­gig­keit der Ukraine von Ener­gie­im­por­ten nicht nur ver­rin­gern, sondern auf­he­ben. Sie kann sogar einen neuen poten­ten export­ori­en­tier­ten Zweig der ukrai­ni­schen Wirt­schaft schaf­fen und Impulse für stär­ke­res Wachs­tum auch in anderen Indus­trie­sek­to­ren ver­lei­hen. Die EU würde von einer Diver­si­fi­zie­rung ihrer Gas­ver­sor­gungs­quel­len und Gewin­nung eines neuen Ener­gie­part­ners in ihrer unmit­tel­ba­ren Nach­bar­schaft pro­fi­tie­ren. Darüber hinaus würde eine solche Zusam­men­ar­beit das Brüs­se­ler Ver­hält­nis mit Kyjiw stärken und den Bedarf an west­li­cher Unter­stüt­zung für den ukrai­ni­schen Staat ver­rin­gern. Eine ent­schlos­se­nere Erschlie­ßung unge­nü­gend genutz­ter Reser­ven der Ukraine bei der Pro­duk­tion, Lage­rung und Ausfuhr von Energie liegt im Inter­esse aller betei­lig­ten Seiten.

Ana­to­liy Amelin ist einer der Mit­grün­der des Ukrai­nian Insti­tute for the Future (UIFu­ture) und dessen Direk­tor für Öko­no­mi­sche Programme.

Andrian Prokip ist Ener­gie­ex­perte am UIFu­ture sowie Mit­ar­bei­ter des Kennan-Insti­tuts in Washing­ton, DC.

Andreas Umland ist For­scher am UIFu­ture sowie Schwe­di­schen Insti­tut für Inter­na­tio­nale Ange­le­gen­hei­ten Stockholm.

Textende

Portrait von Andreas Umland

Dr. Andreas Umland ist wis­sen­schaft­li­cher Mit­ar­bei­ter am Stock­hol­mer Zentrum für Ost­eu­ro­pa­stu­dien (SCEEUS) und Senior Expert am Ukrai­nian Insti­tute for the Future in Kyjiw. 

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