Der ukrainische IT-Markt: David oder Goliath?
Die Ukraine entwickelt sich ungeachtet aller politischen und wirtschaftlichen Krisen zu einem der wichtigsten IT-Standorte Europas. Was dahinter steht analysiert Yaroslav Lepko.
Nehmen wir eine post-sowjetische Volkswirtschaft mit niedrigem oder mit mittlerem Einkommen aus Osteuropa. Sie rangiert im Transparency International Corruption Perception Index neben Ländern wie Sierra Leone und Myanmar, 4,5 Prozent ihres Territoriums wurden annektiert und sie führt das fünfte Jahr in Folge Krieg. Zu den Top Zwei-Exportindustrien gehören die Landwirtschaft (weltweit größter Sonnenblumenölexporteur) und die Metallurgie. Was wäre Ihre Vermutung für das drittwichtigste Exportgut?
Informationstechnologien (IT), wir sprechen über die Ukraine.
Exzellenz im Outsourcing
Apple, Microsoft, Samsung Electronics, Bosch, Boeing, Deutsche Bank – die Liste der bekannten Namen, die die Ukraine als ihr Ziel für das Forschungs und Entwicklungs-Outsourcing wählen, ist lang. Tausende anderer Kunden weltweit entscheiden sich für das Projekt-Outsourcing oder erweiterte Teamdienstleistungen von mehr als 1200 Unternehmen auf dem lokalen Markt. Hier dominieren keine Oligarchen und es herrscht tatsächlich ein gesunder wenn auch harter Wettbewerb.
Rund 75 Prozent der lokalen Unternehmen bestehen aus kleinen und mittleren Teams von 10 bis 100 Entwicklern, die überwiegend, aber keineswegs ausschließlich, in den wichtigsten Technologiezentren der Ukraine ansässig sind: Kiew, Charkiw, Lemberg, Dnipro und Odessa. Die fünf größten Unternehmen beschäftigen alleine mehr als 18.500 Entwickler (hinzu kommt noch Verwaltungspersonal) und es gibt 18 weitere Unternehmen, die jeweils mehr als 500 Entwickler beschäftigen.
Zwölf der in der Ukraine gegründeten und sechs in der Ukraine ansässigen internationalen Unternehmen schafften es in das 2018 Global Outsourcing 100, ein renommiertes Branchen-Ranking. Nicht überraschend sind daher einige der jüngsten Outsourcing-Kennziffern der Ukraine: 2017 wurde die Ukraine zum „Offshoring Destination of the Year“ der Global Sourcing Association, zur Nummer Eins Outsourcing-Markt in Osteuropa laut dem Outsourcing Journal und zur Nummer Eins im Outsourcing-Volumen in Zentral und Osteuropa gemäß der Central and Eastern European Outsourcing Association (CEEOA) erklärt.
Wie ist das möglich?
Man kann oft lesen, wie korrupt die Ukraine ist oder wie ineffizient ihre Institutionen sind. All das stimmt, hat aber interessanterweise nur eingeschränkt Einfluss auf die IT-Industrie.
In den Jahren von 2012 bis 2018 schafften es die Ukrainer als Innovationsführer in ihrer unteren mittleren Einkommensgruppe unter die Top 50 des Global Innovations Index. Damit übertraf die Ukraine alle postsowjetischen Länder mit Ausnahme der baltischen Staaten. Laut PwC stieg das Marktvolumen für IT-Dienstleistungen im Zeitraum 2011–2016 um das 2,5‑fache und die Zahl der beschäftigten IT-Spezialisten hat sich nahezu verdoppelt. Der IT-Wachstum scheint unaufhaltsam weiterzugehen. Die IT-Exporte der Ukraine im Jahr 2017 stiegen im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent. Weitere zweistellige Wachstumsraten sind prognostiziert.
Einfach ausgedrückt: die Ukraine war und ist in der Lage Angebot für eine wachsende globale Nachfrage zur Verfügung zu stellen. Die Frage ist jedoch, warum die Ukraine so erfolgreich als Zielland von globalem IT-Outsourcing ist. Es ist keineswegs reines Glück, sondern eine Mischung aus Fähigkeiten, Wirtschaftlichkeit und günstigen Konditionen.
Historisch gesehen war die Ukraine ein Talentpool für die Computerindustrie der UdSSR. Hier entwickelten Sergey Lebedev und Viktor Glushkov sogar einen der ersten voll funktionsfähigen elektronischen Computer Europas. Auch der Talent-Pool, auf den die IT-Wirtschaft heute zurückgreifen kann, ist beachtlich. Technische Universitäten weisen bringen knapp 40.000 Absolventen mit IT-Bezug pro Jahr auf den Markt nach den USA, Indien und Russland produziert die Ukraine jährlich gesehen somit die viertmeisten IT-Spezialisten.
Es geht jedoch nicht alleine um Quantität. Die Qualität ukrainische Entwickler wird von verschiedenen globalen Rankings anerkannt: iTopCoder (weltweit auf Platz 6), HackerRank (Platz 11, mit den führenden Positionen in Mathematik, verteilten Systemen und Sicherheit) und SkillValue (Platz 8, besser als Deutschland und die Schweiz). Hinzu kommt ein mittleres oder hohes Englischniveau von fast 80 Prozent der ukrainischen Entwickler, Zeitzonennähe zu Europa, eine europäische Denkweise und Geschäftsethik der IT-Branche.
In der Diskussions um den Standortvorteil der Ukraine wird oft über das niedrige Lohnniveau gesprochen. Insgesamt liegen die durchschnittlichen Raten für mittlere Entwickler bei 25–40 EUR pro Stunde. Im Vergleich zu Westeuropa können so immerhin 25–40 Prozent Kosten eines Projekts gespart werden. Trotzdem gibt es in Asien und Afrika rein preislich gesehen günstigere Lösungen. Es scheint also, als ob das gute Preis-Leistungs-Verhältnis zum Erfolg der IT-Industrie beiträgt.
Zu den günstigen Bedingungen gehören einige der von der Regierung gebotenen Anreize für die IT-Industrie, darunter die Mehrwertsteuerbefreiung für die Lieferung von Software und ein vereinfachtes Steuersystem für Privatunternehmer, das von der IT-Industrie intensiv genutzt wird. Zudem gibt es eine etablierte IT-Lobbyarbeit durch zahlreiche Berufsverbände und Foren sowie Veranstaltungen. Gleichzeitig scheint es, als ob die Regierung den Wert der Branche erkannt habe. Schließlich machen Einnahmen durch Steuern alleine aus der IT-Industrie im Jahr mehr als 250 Millionen Euro aus.
Kehrseite des Erfolgs
Zur Wahrheit über den Erfolg der ukrainischen IT-Industrie gehört leider auch, dass der Markt hauptsächlich auf Outsourcing konzentriert ist und eigene Produktentwicklung wie Software oder Hardware eher noch selten sind. Erfolgreiche Ausnahmen sind Unternehmen wie Grammarly, Readdle, Genesis, Petcube. Diese Unternehmen sind zwar ukrainische Gründungen, haben aber ihre Unternehmenssitze zum Großteil in den USA und beschäftigen lediglich Entwickler in der Ukraine. Andere erfolgreiche ukrainische Gründungen wie Looksery, Viewdle und Maxymiser wurden relativ früh von Sillicon Valley Unternehmen geschluckt.
So entsteht in der Ukraine zwar gerade eine Start-Up Szene, aber ihre Zukunft hängt eben doch davon ab, wie sich das Geschäftsklima im Land verändert. Ohne ausländische Investoren ist es schwierig für ukrainische Startups das notwendige Kapital zu finden, um schnell zu wachsen und somit mit europäisch, amerikanisch oder asiatischen Unternehmen konkurrieren zu können.
Zweitens ist selbst der ständig wachsende und hochgelobte Outsourcing-Markt gemessen am Gesamtumsatz noch vergleichsweise klein – in der Ukraine macht er nur ein Drittel des indischen, ein Siebtel des britischen und ein Bruchteil der US-amerikanischen Marktes aus. Darüber hinaus ist er überwiegend exportorientiert (bis zu 90%). Das ist zum Teil mit der geringen Nachfrage nach IT-Dienstleistungen auf dem ukrainischen Markt zu erklären. Dies hängt untrennbar mit den niedrigen IT-Ausgaben pro Kopf in der Ukraine zusammen, die wiederum mit dem niedrigen Durchschnittseinkommen der Ukraine zu tun haben. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen und die Binnennachfrage an hochqualitativen ukrainischen IT-Dienstleistungen zu befördern wird viel Arbeit und vor allem Zeit erfordern. Eine zentrale Herausforderung in diesem Kontext ist der noch immer schwach ausgeprägte Schutz von geistigem Eigentum.
Schließlich gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten für das Geschäftsumfeld der Ukraine. Es gab zwar einen Anstieg im Ease of Doing Business Ranking von 146 im Jahr 2008 auf 76 im Jahr 2017, aber ein verbessertes Ranking alleine und ein moderates Wirtschaftswachstum reichten noch nicht aus, um ausländische Investoren, auf die auch die IT-Branche angewiesen ist, im benötigten Maße ins Land zu locken.
Gleichzeitig wird die IT-Branche ab und zu von Gesetzesentwürfen in der Werchowna Rada aufgeschreckt, die drastische Steuererhöhungen für die Branche vorsehen. Einzelne Durchsuchungen von IT-Unternehmen vom Inlandsgeheimdienst (SBU) ohne schwerwiegende Beweise zu produzieren schreckten die Branche auf.
Ausblick
In den letzten Jahren konnte sich die Ukraine als IT-Powerhouse etablieren und die Zeichen deuten auf ein stabiles Wachstum hin. Während Unternehmen und Programmierer also fleißig an Software und Codes Arbeiten und junge Ukrainer Fortschritte im Bereich Internet of Things und der Datenwissenschaft erzielen, bleibt es abzusehen, ob die Regierung einen Weg findet, die Umgebung für ukrainische IT-Unternehmen zu verbessern. Kluge Regulierung und die Schaffung der richtigen Anreize werden ebenso gefragt sein, wie die Verbesserung des Geschäftsumfeldes, das natürlich Auswirkungen auf ausländische Direktinvestitionen hat. Schließlich sollte die Regierung eine nationale IT-Strategie entwickeln, um mit den Unternehmen und anderen Stakeholdern zu überlegen, wie die positiven Entwicklungen in ein langfristiges und nachhaltigeres Modell mit mehr Wertschöpfung innerhalb der Ukraine überführt werden können. So oder so machen die Zahlen des ukrainischen IT-Sektors Hoffnungen auf eine positive Zukunft dieses Wirtschaftszweiges.
Aus dem Englischen übersetzt von Mattia Nelles.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.