Die Ukraine benötigt eine perfekte Exit-Strategie aus der Corona-Krise
Kyjiw geht die Corona-Krise größtenteils richtig an. Doch schon bald haben die meisten Ukrainer keine Ersparnisse mehr. Deswegen muss bis Mitte Mai eine perfekte Exit-Strategie her, die sowohl die Belange der Gesundheit als auch die der Wirtschaft berücksichtigt. Sollte einer der Bereiche scheitern, steht das Land schnell vor einer harten Krise. Von Denis Trubetskoy
Größer könnte der Kontrast in Kyjiw heutzutage nicht sein. Seit Wochen strahlt hier fast ununterbrochen die Sonne, beim besten Frühlingswetter hätte man gerne so viel Zeit wie möglich draußen verbracht. Doch bereits vor einem Monat verabschiedete die Ukraine ihre ersten Maßnahmen zur Bekämpfung des neuartigen Coronavirus – und seit dem 17. März lebt das Land in einer harten Quarantäne. Diese wird, vor allem aus berechtigter Angst um das schwache Gesundheitssystem, immer weiter verschärft. So gilt seit dieser Woche etwa Mundschutzpflicht an allen öffentlichen Orten, während man sich auf der Straße nur zu zweit bewegen darf. Die Strafen für die Quarantäne-Verletzungen beginnen dabei ab umgerechnet 600 Euro, über 200 Euro mehr als das ukrainische Durchschnittsgehalt. Und der Kyjiwer Bürgermeister Witali Klitschko droht sogar, noch den PKW-Verkehr einzuschränken, sollte sich das Virus in der Hauptstadt rasant ausbreiten. Der ÖPNV ist in Kyjiw ohnehin nur für systemrelevante Berufe offen.
Entsprechend deprimierend ist gerade die Stimmung, trotz des Wetters und obwohl man sich ausgerechnet hierzulande mit Krisen bestens auskennt, sei es die ständige Wirtschaftskrise, Maidan-Revolution oder Donbas-Krieg. Trotzdem habe ich noch nie so viele Menschen aus meinem engen Umfeld derart hoffnungslos erlebt. Vor einem Monat hofften einige noch auf das baldige Ende der Corona-Krise. Im Moment ist fast jedem klar, dass die Ukraine hier keinen Ausweg hat und darauf setzen muss, dass die Maßnahmen greifen. Nicht alle davon werden unkritisch betrachtet. Die Schließung des ÖPNV bleibt nach wie vor ein Dorn im Auge. Die Mundschutzpflicht sieht manch einer auch skeptisch, aber nicht unbedingt, weil diese sinnlos sein soll. Vielmehr ist es den Ukrainern klar, wie knapp die Ausrüstung in Krankenhäusern ist. Klar ist auch, dass kaum einer medizinische Masken richtig trägt. Deswegen diskutiert man darüber, ob es tatsächlich jetzt und heute der richtige Weg ist, dass man in einen Supermarkt ohne Maske nicht reinkommt.
Corona-Krise trifft auf schwache Wirtschaft
Doch das sind Details. Mit jedem Tag schrumpft die Anzahl der Corona-Verharmloser – auch in meinem Bekanntenkreis. Doch dieses Verständnis bringt leider niemanden wirklich weiter, deswegen die beispiellose Hoffnungslosigkeit. Wie heißt es so schön, jede Krise ist auch eine Chance? Das mag auf einige der vorherigen Krisen teilweise zutreffen. Diesmal sind aber bis auf sehr wenige Ausnahmen tatsächlich alle in einem Boot. Kaum einem aus meinem Umfeld wurde das Gehalt in den vergangenen Wochen nicht vorübergehend gekürzt, einzelne wurden sogar gleich in den unbezahlten Urlaub geschickt. Man hört ab und zu auch, wie einige Nachbarn darüber sprechen, wie sie denn die nächste Miete bezahlen sollen. Eine bekannte Kellnerin ist krank und bittet ihre Bekannten auf Instagram, ihr ein paar Arzneimittel zu kaufen, weil ihr das Geld fehlt. Die Liste lässt sich ewig fortsetzen. Es ist noch keine Katastrophe, doch Optimismus sieht anders aus.
Es tritt langsam das ein, was befürchtet wurde: Ein großer Teil der Ukrainer kommt an die Grenzen ihrer Ersparnisse. Laut der Umfrage des Kyjiwer Internationalen Soziologie-Instituts vom 2. April sind die Menschen derzeit vor allem wegen der Gesundheit der Angehörigen besorgt. Gleichzeitig haben 43 Prozent mehr Angst vor den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise, während 34 Prozent die aktuelle Pandemie am meisten befürchten. Es ist schwer zu prognostizieren, wie sich diese Zahlen noch entwickeln, denn die ukrainische Regierung sagt im Moment den Höhepunkt der Epidemie erst für den Zeitraum nach dem 20. April aus. Dennoch lässt sich vermuten, dass die Zahl derjenigen, die mehr Angst vor dem Wirtschaftszusammenbruch haben eher nicht geringer werden wird. Schließlich geht es für viele Ukrainer um nicht weniger als um ihre Existenz. Für Hilfezahlungen nach deutschem Vorbild ist der ukrainische Staat schlicht nicht im Stande.
Taktisch handelt Kyjiw gut. Nun bedarf es der richtigen Strategie
Und so kommen Schicksalswochen auf die Ukraine zu. Zwei kranke Pferde des Landes, das Gesundheitssystem und die Wirtschaft, sind von der Corona-Krise direkt betroffen. Kyjiw hat richtig gehandelt, in dem man vergleichbar früh den Ernst der Lage erkannte und drastische Quarantäne-Maßnahmen einführte, auch wenn diese zum kleineren Teil etwas übertrieben und wenig durchdacht sind. Zwar ist die Statistik wegen der immer noch nicht ausreichenden Testierung kaum aussagekräftig, aber eine starke Überlastung des Gesundheitssystems ist bisher nicht zu beobachten. Dies ist ein gutes Zeichen und ein Indiz dafür, dass bisherige Einschränkungen wirken. Nun geht es erst darum, die bereits gewählte Strategie konsequent weiterzuverfolgen. Aus dieser Sicht ist es gut, dass der Ministerpräsident Denys Schmyhal derzeit deutlich macht: Eine Erleichterung der Quarantäne bis Anfang Mai ist unmöglich. Der 15. Mai ist das Datum, das man derzeit in der Regierung nennt, wenn man über die Rückkehr zum halbwegs normalen Leben spricht.
Auch das ist richtig. Länger kann die Wirtschaft und können vor allem einfache Ukrainer nicht durchhalten. Daher braucht die Ukraine mehr als andere Länder eine nahezu perfekte Exit-Strategie, an der schon jetzt rund um die Uhr gearbeitet werden muss. Dabei müssen sowohl die Belange der Wirtschaft als auch die der Gesundheit voll und ganz berücksichtigt werden. Denn ein „Entweder-Oder“ gibt es hier für die Ukraine nicht. Sollte einer der Bereiche scheitern, können viele der bisherigen Krisen schnell überschattet werden.
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