Rettet die Steinmeier-Formel den Donbas?
In den letzten Wochen wird leidenschaftlich über die sogenannte Steinmeier-Formel als mögliche Lösung für den Ostukraine-Krieg diskutiert. Doch worum geht es dabei überhaupt und wer könnte von der „Formel“ im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland profitieren? Von Denis Trubetskoy
Der Truppenabzug in der Kleinstadt Stanyzja Luhanska an der Frontlinie des Donbas-Krieges und der große Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland haben zuletzt die Hoffnungen auf eine mögliche Beilegung des Kriegs geweckt. Zumindest in Sachen eines stabilen Waffenstillstandes scheint der Fahrplan klarer als je zuvor: Truppenabzug erst an zwei weiteren Orten, Solote und Petriwske, dann entlang der gesamten Frontlinie und ein erneuter Gefangenenaustausch nach der „Alle gegen alle“-Formel. Die Sitzung der Trilateralen Kontaktgruppe zur Bewältigung des Donbas-Krieges mit Vertretern der Ukraine, Russlands, der OSZE und auch der prorussischen Separatisten konnte am Mittwoch im belarussischen Minskdiesbezüglich aber keinen Durchbruch erreichen. Die Seiten schafften es nicht einmal sich auf ein konkretes Datum für den Truppenabzug in Solote und Petriwske zu einigen. Nach Aussagen der ukrainischen Seite habe Russland eine Einigung verhindert.
Die Sitzung in Minsk hatte ohnehin etwas größere Bedeutung als sonst, denn sie galt für viele als entscheidend dafür, ob der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin sich bald im Normandie-Format, zu dem noch Deutschland und Frankreich gehören, treffen werden. Die Zeichen stehen nach der letzten Minsk-Runde eher schlecht. Moskau möchte vor einem Gipfeltreffen eine schriftliche Vereinbarung über die sogenannte Steinmeier-Formel. Diese ist bis dato nicht erfolgt. Auch dem Abzug in Solote und Petriwske will Russland nur nach einer Einigung zur Steinmeier-Formel zustimmen. Diese Formel ist ein Begriff, der gerne von Russland benutzt und extra ins mediale Rampenlicht gerückt wird. Doch was ist das überhaupt?
Steinmeier-Formel
Beim Normandie-Gipfel im Herbst 2015 in Paris hatte man sich gemäß dem in Minsk vereinbarten Maßnahmenpaket erneut darauf geeinigt, dass die Lokalwahlen nur nach dem ukrainischen Recht ausgetragen werden können. Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte, dass die Lokalwahlen auf dem besetzten Gebiet 90 Tage nach der Unterschreibung des entsprechenden Wahlgesetzes durch den ukrainischen Präsidenten stattfinden sollen. Zwei Monate später haben Steinmeier und der französische Außenminister Laurent Fabius diesen Vorschlag mit einem Brief an die Minsker Kontaktgruppe konkretisiert.
Dabei ging es vor allem das Sonderstatus-Gesetz für den Donbas. Demnach würden die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk am Wahltag zuerst nur für eine Übergangszeit einen Sonderstatus erhalten. Dieser soll nach der Anerkennung der Lokalwahlen durch die OSZE bzw. ODIHR dauerhaft gelten. Mit dem Vorschlag reagierten Steinmeier und Fabius auf die Meinungsverschiedenheiten zwischen der Ukraine und Russland bezüglich der Implementierung des Minsker Friedensabkommens. Wichtig ist dabei erstmal, dass dieser Vorschlag lediglich in Form eines Briefes gemacht wurde. Danach folgten keine weiteren Entscheidungen zur Steinmeier-Formel bzw. der heiklen Frage der Wahlen.
Erstens ist es wichtig, dass die Lokalwahlen laut dem Minsker Abkommen eben Wahlen nach ukrainischem Recht sind, also müssten sie etwa von der ukrainischen Zentralen Wahlkommission organisiert werden. Selbstverständlich müssten auch ukrainische Politiker daran teilnehmen. Daher stammt der eigentliche Interessenkonflikt zwischen der Ukraine und Russland. Die Ukraine würde deswegen gerne die Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbas vor der Austragung der durch das Minsker Abkommen vorgeschriebenen Wahlen übernehmen. Erst dann soll die umkämpfte Region den Sonderstatus innerhalb des ukrainischen Staates bekommen.
Russland möchte dagegen, dass es genau andersrum läuft. Erst sollen die Wahlen stattfinden sowie der Sonderstatus garantiert werden, dann soll die Grenzübergabe erfolgen. Die Kontrolle über die Grenze sowie der Abzug der ausländischen Truppen und der Militärtechnik ist hier letztlich das Schlüsselproblem. Denn gegen die eigentliche Steinmeier-Formel hat Kyjiw zurzeit offenbar nichts einzuwenden. „Die Ukraine hat keine prinzipiellen Einwände gegen die sogenannte Steinmeier-Formell bezüglich der Austragung der Lokalwahlen“, heißt es zumindest im offiziellen Statement nach der Sitzung der Kontaktgruppe am Mittwoch. Und auch der neue Außenminister Wadym Prystajko meint, dass man bereits am 2. September beim Treffen der außenpolitischen Berater in Minsk sich über die Steinmeier-Formel einig geworden sei.
Allerdings interpretieren Kyjiw und Moskau die Steinmeier-Formel unterschiedlich. So beschreibt etwa der außenpolitische Berater des russischen Präsidenten Putin, Jurij Uschakow, seine Vision der Formel, die vom Kreml als parallele Implementierung der Sicherheits- und Politikvereinbarungen des Minsker Abkommens dargestellt wird: „Zuerst die Wahlen im Donbas, dann den Sonderstatus, der letztlich dauerhaft in der Verfassung vorgeschrieben werden soll, und schließlich die Grenzübergabe.“ Diese Darstellung widerspricht dem Minsker Abkommen grundsätzlich nicht. Vielmehr sieht das Maßnahmenpaket vor, dass die Rückgabe der Kontrolle über die Grenze nach der Lokalwahl stattfindet. Deutschland und Frankreich haben mehrmals darauf hingewiesen, dass die Grenzübergabe vor der Austragung der Lokalwahlen im Minsker Abkommen nicht vorgeschrieben sei. Kyjiw fürchtet aber nicht zu Unrecht, dass dadurch in der Praxis lediglich die Existenz der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk innerhalb der Ukraine legitimiert werde. Gleichzeitig ist vollkommen offen, wie vor der Rückgabe der Grenze freie Lokalwahlen stattfinden könnten.
Daher stellt Kyjiw sechs Bedingungen für die Einsetzung der Steinmeier-Formel, die allesamt in die Richtung gehen, dass der Sicherheitsteil von Minsk doch vor den politischen Punkten des Abkommens erfüllt werden muss. Die Ukraine fordert also etwa die Übergabe der Kontrolle über die Grenze und den Abzug der ausländischen Truppen samt Militärtechnik. Die kremlnahen Politologen spekulieren als Antwort darauf über die Verhandlungsunfähigkeit Kyjiws, während Putins Sprecher Dmitrij Peskow der Ukraine die Änderung der Bedingungen „quasi unterwegs“ vorwirft. Der ukrainische Außenminister Prystajko meint wiederum, dass im Falle des Scheiterns des Minsker Abkommens man zur Debatte über den möglichen Einsatz der UN-Friedenstruppen im Donbas zurückkehren könnte. Damit spricht Kyjiw übrigens zum ersten Mal über die Möglichkeit des Scheiterns des Minsker Abkommens, was dennoch wohl nicht überbewertet werden soll.
Was nun? Im Grunde genommen geht es um das alte Dilemma. Die Ukraine will erst die Territorien wieder kontrollieren und dann die Wahlen austragen, Russland möchte das verhindern – damit prorussische Kräfte bei den Wahlen so gut wie möglich abschneiden. Dass über die Einsetzung eines Sonderstatus für den Donbas nun mehr Klarheit herrscht, ist ein kleiner Fortschritt in den Verhandlungen, es bedeutet aber keinesfalls, dass diese erfolgsversprechender geworden sind. Denn Russland will für den Donbas einen Preis, der offenbar auch für das neue außenpolitische Führungsduo Selenskyj/Prystajko zu hoch ist. Wichtig ist erstmal, Steinmeier-Formel hin oder her, dass der Fahrplan zu einem stabilen Waffenstillstand weiterverfolgt wird. Dass der Truppenabzug in Solote und Petriwske sich verzögert zeigt gleichzeitig, dass Russland hier weiterhin massiv Druck auf Kyjiw ausüben wird.
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