Selenskyj muss Hontscharuk opfern: War’s das mit den jungen Gesichtern?
Die ukrainische Regierung hat katastrophale Umfragewerte. Das schadet Präsident Selenskyj. In Kyjiw riecht es daher nach Veränderung – und Politikveteranen aus der Janukowytsch-Zeit sind plötzlich für Regierungsverantwortung im Gespräch. Keine optimale Lösung für Selenskyj. Von Denis Trubetskoy
Die Veränderung liegt im politischen Kyjiw in der Luft. Der Wechsel im Präsidialbüro, wo Andrij Jermak den mächtigen Andrij Bohdan als Chef ablöste, war nur der Anfang. Dass die Tage von Olexij Hontscharuk, des jüngsten Ministerpräsidenten in der Geschichte der Ukraine, gezählt sind, war schon im Januar klar, als die Aufzeichnung eines Gesprächs geleakt wurde, in dem Hontscharuk sowohl über den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als auch über sich selbst unschöne Worte äußerte. Zu diesem Zeitpunkt war Selenskyj allerdings noch gezwungen, sein Team zu schützen. Doch nun wird es langsam Zeit, jemanden tatsächlich zu opfern.
Das Vertrauen in die neuen Politiker sinkt weiter
Einerseits haben sich zuletzt sogar ranghohe Politiker der Präsidentenpartei “Diener des Volkes“ wie der stellvertretende Parlamentsvorsitzender Ruslan Stefantschuk getraut, die Regierung öffentlich zu kritisieren. Andererseits sind die Umfragen zurzeit eindeutig. Laut der neuen Umfrage vom Rasumkow Centre vertrauen jeweils 63 und 64 Prozent Hontscharuk persönlich sowie seiner Regierung nicht. Das Vertrauen in das ukrainische Parlament, in dem „Diener des Volkes“ die absolute Mehrheit hat, befindet sich im gleichen Bereich. So überrascht es kaum, dass auch die Werte von Selenskyj nach unten gehen. Während im September 2019 noch 79 Prozent Selenskyj vertrauten, sind es derzeit „nur“ 51,5 Prozent.
Zum Teil ist diese Entwicklung natürlich und überhaupt nicht katastrophal. Denn bei der Sonntagsfrage zur nächsten Präsidentschaftswahl liegt Selenskyj mit 40,1 Prozent weit vor allen Verfolgern. Auf dem zweiten Rang ist der prorussische Politiker Jurij Bojko mit lediglich 15,3 Prozent zu finden. Der Vorsprung, den Selenskyj – der übrigens für eine zweite Amtszeit nicht kandidieren will – auch jetzt noch hat, bleibt für die ukrainische Politik historisch. Doch neben zahlreichen Skandalen wie den Aussagen eines „Diener des Volkes“-Abgeordneten, der einer Rentnerin geraten hatte, einen Hund zu verkaufen, um ihre Rechnungen bezahlen zu können, sind es vor allem die Misserfolge der Regierung, die langsam gefährlich für Selenskyj werden.
Welche Herausforderungen hat Hontscharuk als Ministerpräsident?
Die Bevölkerung will in erster Linie radikale Senkungen der Kommunaltarife. Diese können in der gewünschten Größe aus wirtschaftlichen Gründen kaum gewährleistet werden. Doch das versteht der einfache Ukrainer nicht – und ist selbstverständlich sauer. Aber auch objektiv gesehen ist Hontscharuks Zeugnis als Ministerpräsident nicht gut. Sehr schlechte Leistungen der ukrainischen Industrie Ende des letzten Jahres, welche zum langsamen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes führten, und große Probleme bei der Erfüllung des Staatshaushalts im Januar 2020 zählen zu den wichtigsten Herausforderungen. Gerade jetzt wäre, wie von Selenskyj gewünscht, ein Wirtschaftsfachmann an der Spitze nötig. Doch Hontscharuk habe nach seinen eigenen Aussagen aus dem geleakten Gespräch überhaupt keine Ahnung von der Wirtschaft.
Er darf aber aus rechtlicher Sicht auch gar nicht erst entlassen werden. Weil das Parlament seinem Regierungsplan zustimmte, genießt Hontscharuk immer noch Einjahresimmunität. Das heißt, er müsste selbst um seinen Rücktritt bitten – was der 35-Jährige nach dem Leak bereits gemacht hatte. Es geht hier aber überhaupt nicht um das „Ob“, denn Hontscharuks Zukunft als Ministerpräsident existiert wohl nur in seinen Nachtträumen. „Wann“ und „wie“ sind ebenfalls keine prinzipiellen Fragen. Wichtiger ist, durch wen Hontscharuk letztlich ersetzt wird. Selenskyj hat selbst unter anderem ein Gespräch mit dem Politikveteranen Serhij Tihipko bestätigt. Auch Hontscharuk soll sich übrigens mit Tihipro getroffen haben, weil man angeblich die Regierung verstärken müsse. Es kann sein, dass der ehemalige Vizepremier aus der Janukowytsch-Zeit vorerst wieder als wirtschaftsorientierter Vizepremier die Verantwortung übernimmt. Es könnte aber auch mehr bedeuten.
Wer käme für eine mögliche Nachfolge von Hontscharuk in Frage?
So oder so sind aus der Umgebung von Selenskyj derzeit drei Namen als mögliche Nachfolger von Hontscharuk zu hören – und diese Kandidaten sind mindestens spannend. Bei Tihipko handelt es sich um einen der Gründer der Privatbank, der größten Bank des Landes, später vom Oligarchen Ihor Kolomojskyj gekauft. Er war Chef der ukrainischen Nationalbank, dann Chef des Wahlstabes von Wiktor Janukowytsch während der Präsidentschaftswahlen 2004, die zur Orangen Revolution führten. In der Amtszeit des Präsidenten Juschtschenko war er jedoch auch Berater der Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko. Bei der Präsidentschaftswahl 2010 belegte er selbst etwas überraschend den dritten Platz, wurde nach dem Sieg Janukowytschs jedoch zum Vizepremier der von Mykola Asarow angeführten Regierung.
Seit der Niederlage seiner Partei bei der Parlamentswahl 2014 hat sich Tihipko aus der Politik zurückgezogen und sich der Führung seiner Finanzgruppe TAS gewidmet, die übrigens zuletzt einige Deals mit dem Ex-Präsidenten Poroschenko abschloss. Selenskyj soll Tihipko gut kennen, seine Beziehungen zu dem Oligarchen Kolomojskyj sind angeblich auch ordentlich. Andere Kandidaten sind aber nicht weniger brisant. Einer davon soll Walerij Choroschkowskyj sein, der in der Amtszeit Janukowytschs sowohl Chef des Sicherheitsdienstes SBU als auch Finanzminister und Vizepremier war. Der andere heißt Oleh Dubyna, Ex-Chef des staatlichen Energiekonzerns Naftohas und Vertrauer des Oligarchen Wiktor Pintschuk und des Ex-Präsidenten Leonid Kutschma. In der zweiten Anwärterreihe befinden sich offenbar der umstrittene Innenminister Arsen Awakow und der heutige Top-Manager von Naftohas, Jurij Witrenko.
War’s das jetzt also nach weniger als einem Jahr bereits mit den jungen, unerfahrenen Gesichtern an der Macht? In der Tat ist das die eigentlich spannende Frage. Politiker und Funktionäre aus der Janukowytsch-Zeit sind per se fragwürdig. Sie wissen aber, wie die Abläufe in Kyjiw funktionieren – und haben viel tiefere Erfahrungen als Hontscharuk und Co. Gleichzeitig sind einfache Ukrainer bereits müde von den Misserfolgen der neuen Generation. Doch sollte Selenskyj Tihipko oder Choroschkowskyj zum Ministerpräsidenten ernennen, drohen ihm nicht nur Imageverluste in gewissen Bevölkerungsgruppen. Das sind starke Politiker, die das System perfekt kennen, womöglich Eigenambitionen haben und vor allem im eigenen Interesse arbeiten würden. Da kann es schnell zu Konflikten kommen. Selenskyj hätte daher vielmehr einen begabten Technokraten gebraucht – und ausgerechnet diese Hoffnungen wurden einst in Olexij Hontscharuk gesetzt. Ob und wo Selenskyj eine bessere Version von ihm finden kann, das ist ungewiss.
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