Vom Krieg in den Frieden
Seit 2014 tobt im Osten der Ukraine ein Krieg, der bislang 13.000 Menschen das Leben gekostet hat. Während der Konflikt weitergeht, versuchen Menschen, die Angehörige auf dem Schlachtfeld verloren haben, ihren eigenen Frieden zu finden. Denis Trubetskoy hat in Kyjiw Menschen getroffen, deren Leben durch den Konflikt aus den Fugen geraten ist. Eine Nahaufnahme aus einem Land, das sich im Krieg befindet und den Frieden sucht. Von Denis Trubetskoy
Natalija Dubtschak wird selten emotional. Auch wenn sie vom Tod ihres Sohnes Olexander Jeroschtschenko erzählt, der als Soldat im Februar 2015 im Donbas gefallen ist, fließen keine Tränen. Das hat vielleicht mit ihrem Beruf zu tun: Zwei Jahrzehnte lang diente die 57-jährige Kyjiwerin bei den ukrainischen Streitkräften, war sogar Beraterin des Verteidigungsministers. Kaum eine Soldatenmutter kennt militärische Realitäten besser als sie. Das hilft. Doch wenn sich Natalija an die letzte Begegnung mit ihrem Sohn erinnert, wird ihre sonore, tiefe Stimme zaghaft und brüchig: „Olexander hatte vor den Neujahresferien 2014/2015 unerwartet Fronturlaub bekommen.“ Für Natalija Dubtschak sollte sein Besuch eine Überraschung werden. „Die ganze Familie hielt dicht“, erzählt Dubtschak. „Als er dann plötzlich vor mir stand, sagte er mir: Mutti, du musst dich nicht mehr für mich schämen.“ Sie bricht in Tränen aus.
Sein großer Traum war es, für die Ukraine zu kämpfen
Von Anfang an wollte Olexander zur ukrainischen Armee, obwohl er in der russischen Exklave Kaliningrad geboren wurde. Seine Mutter Natalija war damals, zur Sowjetzeit, mit einem belarussischen Militär verheiratet, der dorthin geschickt wurde. Beim Medizincheck konnte Olexander die Ärzte überzeugen, ihn trotz einer Wirbelsäulenkrümmung für den Pflichtdienst zuzulassen, ebenso für die Militärschule. Doch die Offizierslaufbahn blieb ihm trotz guter Leistungen wegen der leichten gesundheitlichen Probleme verwehrt. Als Russland im März 2014 die südukrainische Halbinsel Krim annektierte und kurz darauf der Krieg in der Ostukraine ausbrach, gab es für Jeroschtschenko aber kein Halten mehr. „Er war besessen von der ukrainischen Geschichte, seine Freunde nannten ihn nur ‚den Historiker‘. Er wollte nicht danebenstehen, als die hart erkämpfte Souveränität der Ukraine wieder auf dem Spiel stand“, sagt seine Mutter.
„Olexanders Tod war nicht umsonst“
„Die Armee war sein Traum, er wollte dort den Unterschied machen. Er wollte, dass ich stolz auf ihn bin“, erzählt Natalija Dubtschak weiter. Sie bereut nicht, dass sie die Bestrebungen ihres Sohnes unterstützt hat. „Der Krieg ist in seiner Existenz fürchterlich. Einen Krieg ohne Verluste gibt es nicht“, sagt sie mit bleierner Stimme. „Wenn ich sicher sein könnte, dass der Frieden durch Olexanders Tod wahrscheinlicher würde, ich würde ihn wieder unterstützen.“ Vielleicht fällt der Mutter so ein Satz leichter, weil sie weiß, dass ihr Sohn in seinen letzten Augenblicken zum Helden geworden ist. Am 14. Februar, einen Tag vor dem Inkrafttreten der durch das Minsker Friedensabkommen geregelten Waffenruhe, rettete ihr Sohn das Leben eines Kameraden, der von fünf Separatisten umzingelt worden war. Olexander wurde von den Kugeln eines Maschinengewehrs getroffen, der Kamerad kam mit dem Leben davon. „Dieser Junge kam letztes Jahr zu mir und erzählte, dass er nur dank Olexander jetzt seine eigene Familie hat. Er ist wie ein zweiter Sohn für mich. Spätestens seitdem weiß ich: Olexanders Tod war nicht umsonst.“
Den Knoten des Schweigens durchbrechen
Heute arbeitet Natalija Dubtschak beim militärischen Kaplan der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Sie hilft anderen Eltern, die ihre Kinder im Krieg verloren haben. Hört ihnen zu. Versucht, ihnen Kraft zu geben. „Meist sind es Soldatenmütter, die zu uns kommen. Aber auch Väter besuchen unsere Selbsthilfegruppe“, sagt sie. Diese Treffen, bei denen stets ein Pfarrer zugegen ist, finden in Kyjiw in der Auferstehungskathedrale statt. Die Gruppe organisiert Pilgerfahrten ins Ausland, um den Soldateneltern die Rückkehr ins normale Leben zu erleichtern. Außerdem hat die Kirche einen Kalender herausgegeben: Auf jedem der zwölf Blätter ist eine verwaiste Soldatenmutter abgebildet. Die Gruppe versucht, den Knoten des Schweigens zu durchschlagen. „Bei mir war es so, dass selbst enge Verwandte Angst davon hatten, mich auf den Tod Olexanders anzusprechen. Sie trauten sich nicht, mich anzurufen“, bedauert die 57-Jährige. „Deswegen wollen wir einerseits, dass sich Mütter und Väter mit anderen Betroffen austauschen, und andererseits möchten wir die Sichtbarkeit des Elternproblems in der Gesellschaft erhöhen. Denn zu viele Eltern glauben, dass ihr Leben nach dem Tod eines Kindes vorbei sei.“
„Frieden zu russischen Bedingungen ist Kapitulation“
Natalija kennt das enorme Leid, das sie in Gesprächen mit anderen Eltern immer wieder erlebt. Trotzdem blickt sie skeptisch auf die Friedensinitiative des neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der anders als sein Vorgänger Petro Poroschenko auf mehr Dialog mit Russland setzt. Seit Selenskyjs Amtsantritt im Mai 2019 gab es jeweils einen Gefangenenaustausch zwischen Kyjiw und Moskau und zwischen Kyjiw und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Außerdem wurden an drei Orten entlang der Frontlinie im Donbas die Truppen entflochten, weitere Abzüge sollen folgen. „Ich freue mich für jede Familie, die ihren Sohn wiedersehen darf und ich will selbstverständlich den Frieden. Das ist das Wichtigste“, sagt Natalija. Aber: „Der Preis muss fair bleiben. Frieden zu russischen Bedingungen ist Kapitulation.“
Laut Umfragen des Soziologie-Instituts Rating Group ist der Frieden im Donbas für 64 Prozent der Ukrainer die Schlüsselforderung an Präsident Selenskyj. Die Ukraine und Russland haben jedoch unterschiedliche Vorstellungen, wie die Reintegration des Donbas in der Praxis funktionieren soll. Der Kreml besteht auf einer bedingungslosen Implementierung des Minsker Friedensabkommens, das die Austragung der Kommunalwahlen im besetzten Gebiet noch vor der Übergabe der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbas an Kyjiw vorschreibt. Viele in der Ukraine haben jedoch große Angst vor den Wahlen im de facto noch von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiet. Denn in diesem Fall stehen die Chancen gut, dass im Donbas auch nach der Rückkehr in die Ukraine dieselben Menschen an der Macht bleiben. Auch der letzte Gefangenenaustausch mit den Separatisten ist nicht grundlos umstritten. So musste Kyjiw Mitglieder der während der Maidan-Revolution 2014 gegen die Demonstranten eingesetzten Spezialeinheit der ukrainischen Polizei Berkut (Steinadler) freilassen, die mit dem Donbas-Krieg überhaupt nichts zu tun haben.
„Nicht alle, die man auf den Bildern sieht, haben den Krieg überlebt“
„Es gibt genauso viele Argumente dafür wie dagegen. Ich weigere mich, eine endgültige Position zu beziehen, obwohl ich vieles kritisch sehe“, sagt Dmytro Kulisch in seinem Büro im angesagten Kyjiwer Bezirk Podil. Mit seinem Unternehmen vermietet Kulisch Gewerbeflächen. Hinter dem Schreibtisch des kräftigen, kahlgeschorenen Mannes hängt eine riesige ukrainische Flagge mit dem Symbol des Freiwilligenbataillons Donbas, zu deren Leitung der Scharfschütze Kulisch gehörte. Die Wände des winzigen Büros sind getäfelt mit Fotografien seiner ehemaligen Bataillonskameraden. „Nicht alle, die man auf den Bildern sieht, haben den Krieg überlebt.“
Zehn Monate in Kriegsgefangenschaft – drei davon im Keller
Auch Dmytro hat der Krieg hart erwischt. Sein Bataillon hatte im August 2014 die Kleinstadt Ilowajsk, rund 40 Kilometer von Donezk entfernt, größtenteils eingenommen. Doch dann wurden die Männer in der Stadt eingekesselt – mutmaßlich von regulären russischen Truppen. Die Schlacht von Ilowajsk gilt heute als ein Wendepunkt des Krieges. Obwohl Russland sich offiziell für einen humanitären Korridor für die Ukrainer einsetzte, wurden sie beim Versuch, Ilowajsk zu verlassen, beschossen. Laut offiziellen Angaben der ukrainischen Streitkräfte fielen 366 Soldaten, die tatsächliche Zahl könnte noch höher liegen. Die Separatisten nahmen mehr als 300 Gefangene, darunter Dmytro Kulisch, der es als Scharfschütze und Kommandeur einer Spezialeinheit besonders schwer hatte. Zehn Monate verbrachte Kulisch in Gefangenschaft, drei davon im Keller des ehemaligen Gebäudes des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU in Donezk, sechs weitere in der lokalen Untersuchungshaftanstalt.
In Gefangenschaft ist der einst zwei Meter große Kulisch um sechs Zentimeter kleiner geworden, mit seiner Wirbelsäule kämpft der 42-Jährige bis heute. „Vor allem im SBU-Gebäude war es schwer. Man hat mich drei Tage lang befragt – und ich konnte nach dieser ‚Befragung‘ einen Monat lang nicht aufstehen”, erzählt er.
„Wir müssen die proukrainischen Menschen zu uns holen“
Im Juni 2015 wurde Dmytro Kulisch gegen einen hochrangigen Separatisten ausgetauscht. Die meisten anderen Kämpfer des Bataillons Donbas kehrten bereits nach vier Monaten aus der Gefangenschaft zurück. Wenn Kulisch auf die heutige Lage in der Ostukraine blickt, ist er ähnlich skeptisch wie Natalija Dubtschak. „Ich hätte gerne den Frieden. Aber der passende Zeitpunkt ist vorüber. Wir müssen die proukrainischen Menschen zu uns holen und eine Mauer um den besetzten Teil des Donbas bauen“, meint der 42-Jährige. Er fügt hinzu: „Ich meine das nicht buchstäblich. Aber ich habe dort vor Ort mitbekommen, wie Kinder, die miteinander spielen das Wort ‚Ukrainer‘ als Schimpfwort benutzen. Das bekommt man doch nicht von heute auf morgen aus den Köpfen.“ Dafür verantwortlich sei die riesige Propagandamaschine Russlands, die die Menschen im Donbas vergifte. „Dagegen muss eine schlagkräftige Kommunikationspolitik entwickelt werden.“ Die gibt es, laut Kulisch, aber unter Wolodymyr Selenskyj noch nicht.
Auch der ehemalige Journalist Jehor Worobjow geriet in den Wirren der Schlacht von Ilowajsk in Gefangenschaft. „Offiziell hieß es, dass die Ukrainer in Ilowajsk gewinnen, deshalb bin mit einem weiteren Journalisten und einem Kameramann dorthin gefahren. Vor Ort war schnell klar, dass das eine Lüge war“, erzählt der 37-jährige Kyjiwer mit sarkastischem Lächeln.
Es mache ihm nichts aus, zu weinen, wenn er an diese Zeit seines Lebens denke. Einzig sein Humor helfe ihm, nicht den Verstand zu verlieren. Beim Versuch, den Kessel zu verlassen, fielen sie den Separatisten in die Hände. Worobjows Kollegen wurden schnell freigelassen. Er selbst blieb 38 Tage in Gefangenschaft – unter anderem deswegen, weil er genug Material für zwei Reportagen hatte, die er nicht an seine Redaktion in Kyjiw schicken sollte. Doch Worobjows versteckte die Speicherkarten in seiner Schuhsohle und lud das Material auf YouTube hoch. Am Ende nutzte das US-Außenministerium sein gefilmtes Material als Beweis für den Einsatz der regulären russischen Truppen im Donbas. „Ich war völlig alleine in einem Zimmer, das dauerte mehr als 20 Tage. Alle zwei Tage durfte ich etwas essen, Licht gab es keines. Geschlafen habe ich auf Glaswolle“, sagt Worobjow, der kurz nach seiner Freilassung dem Journalismus den Rücken gekehrt hat und in die PR-Branche gewechselt ist.
Die meisten Ukrainer wünschen sich, dass endlich Ruhe einkehrt
Auf Selenskyjs Friedenspolitik angesprochen, sagt der Ex-Journalist: „Ich glaube, die meisten Ukrainer hätten gern endlich ihre Ruhe“ – und dabei sei völlig egal, um welchen Preis. „Was jetzt stattfindet ist kein Frieden, sondern eine Kapitulation und die ist für die Menschen, die den Donbas-Krieg erlebt haben, inakzeptabel.“
Mit seiner Meinung steht Worobjow nicht alleine in dem krisengeschüttelten Land. In der Tat ist die Mehrheit der Ukrainer bereit, einige Kompromisse in der Ostukraine einzugehen. Doch die Wunden, die der Krieg in den Menschen hinterlassen hat, sind zu tief und zu frisch. Frieden, das lernt man dieser Tage in Kyjiw, ist keine Frage von Gefangenenaustausch und Absichtserklärungen. Frieden kann erst einkehren, wenn die Menschen bereit sind, ihn zu leben.
Dieser Text wurde vom internationalen Journalistennetzwerk n‑ost produziert und vom Osteuropa Hilfswerk Renovabis gefördert.
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