Der Donbas driftet weiter nach Russland – die Hoffnung für Minsk schwindet
Mit der Öffnung seines Marktes für Waren aus den sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk geht Russland einen weiteren Schritt hin zur politischen und wirtschaftlichen Integration der Separatistengebiete in der Ostukraine. Noch nie standen die Zeichen für die Umsetzung des Minsker Friedensabkommens derart schlecht. Von Denis Trubetskoy
Russland ist Geburtshelfer, Pate und Sponsor der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die finanziell und militärisch am Tropf des Kreml hängen. Um eine offizielle Anerkennung der beiden Separatistenrepubliken ging es allerdings nie. Vielmehr sieht das im Februar 2015 unterschriebene Minsker Abkommen vor, die besetzten Gebiete zu für Russland günstigen Bedingungen in den ukrainischen Staat zu reintegrieren. Unter dem Stricht bedeutete dies: Sollten die dafür notwendigen Kommunalwahlen tatsächlich vor der Übergabe der Kontrolle über die ukrainisch-russische Grenze im Donbas an Kyjiw stattfinden, würde Moskau die Existenz der Gebiete nicht mehr bezahlen müssen. Weil unter solchen Umständen ein Sieg prorussischer Kräfte befürchtet wird, würde der Kreml seinen Einfluss auf eine Region behalten, die dann gemäß Minsker Abkommen Sonderrechte wie eigenständige Gerichte und eine „Volksmiliz“ haben soll.
Für die Ukraine sind solche Bedingungen nicht akzeptabel. Doch nicht das ist der Hauptgrundfür die faktische nicht-Umsetzung, zumal der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Amtszeit mit einer Friedensoffensive begann, die im Sommer 2020 sogar zu einem durchaus erfolgreichen Waffenstillstand führte. Noch im April 2019, wenige Tage nach Selenskyjs Wahlsieg, unterschrieb der russische Präsident Wladimir Putin einen Erlass, der es den Bewohnern der „Volksrepubliken“ ermöglicht, die russische Staatsbürgerschaft zu vereinfachten Bedingungen zu erhalten. Voraussetzung ist lediglich der Besitz eines Passes der beiden „Volksrepubliken“. Bis Mitte 2021 haben nach offiziellen russischen Angaben mehr als 600.000 so russische Pässe erhalten.
Russland hielt Dumawahlen im Donbas ab
Rund ein Drittel dieser „neuen Russen“ haben an der russischen Parlamentswahl im September 2021 teilgenommen. Zwar gab es in den besetzten Gebieten offiziell keine Wahllokale. Dafür durften Inhaber russischer Pässe in eigens eingerichteten „Servicezentren“ elektronisch abstimmen. Zudem gab es organisierte Busreisen in den russischen Nachbarbezirk Rostow, wo Wähler ihre Stimme persönlich abgeben konnten. Wahlentscheidend waren sie sicher nicht. Doch war das ein weiterer Schritt zur politischen Integration der beiden „Volksrepubliken“ in die Russische Föderation, zumal mit dem früheren Donezker „Premierminister“ Alexander Borodai und dem ehemaligen Feldkommandeur Sachar Prilepin zwei prominente Separatistenvertreter als Kandidaten teilnahmen.
Um die Integration ging es in diesem Herbst auch zwischen den beiden Volksrepubliken selbst, deren lokale Eliten in der Vergangenheit stark zerstritten waren. So gab es zwischen Donezk und Luhansk nicht nur eine echte Grenze, sondern sogar Zollkontrollen, weil Donezk etwa am Transit ukrainischer Waren nach Luhansk mitverdienen wollte. Nach dem Sturz des Luhansker Republikchefs Igor Plotnizkyj Ende 2017 sowie der Ermordung des Donezker Anführers Alexander Sachartschenko 2018 verbesserte sich das Verhältnis ein wenig – der gegenseitige Verzicht auf Grenz- und Zollkontrollen folgte aber erst in diesem Oktober, die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes ist bis Jahresende versprochen.
Dabei soll es nicht um eine vollständige Fusion der Separatistenrepubliken gehen, obwohl das für Moskau aus Verwaltungsgründen durchaus günstig wäre. Weil das Minsker Abkommen aber explizit von den „Bestimmten Gebieten der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk“ spricht und es keine andere diplomatische Verhandlungsgrundlage gibt, muss sich Moskau wohl oder übel an die Verwaltungsgrenze zwischen den zwei Regionen halten. Die Separatistenführer sagen aber offen, dass es ihnen um die Anpassung der Wirtschaftsstandards an die russischen geht.
Betriebe im Donbas besser gestellt als die in Belarus
Deswegen war es keine Überraschung, als Putin Mitte November mit einem Erlass den russischen Markt für Waren aus Donezk und Luhansk öffnete. Unternehmen in den „Volksrepubliken“ dürfen zudem regulär an staatlichen russischen Ausschreibungen sowie Aufträgen teilnehmen – und sind damit sogar besser gestellt als Belarus, das eigentlich mit Russland einen gemeinsamen Unionsstaat bildet. Die Konformitätsbescheinigungen der „Volksrepubliken“ werden in Russland ohne weiteres anerkannt, so dass lokale Hersteller ihre Ware dort direkt verkaufen dürfen, ohne ein Tochterunternehmen zu haben. Durch den Wegfall von Importbeschränkungen gelten für diese Hersteller die gleichen Bedingungen wie für russische Firmen.
Vorangegangen war eine grundlegende Umstrukturierung der wichtigsten Industriebetriebe. Im Juni wurde ein russischer Unternehmer namens Jewgeni Jurtschenko als deren „Investor“ präsentiert. Jurtschenko, der mal Vize-Gouverneur der Region Woronesch war, aber nie in der Kohle- und Stahlindustrie tätig war, versprach, in sieben weitgehend maroden Betrieben rund 36 Millionen Euro ausstehende Lohnzahlungen zu begleichen, sowie künftige Löhne und Gehälter anzuheben. Woher er das Geld hat, sagte er nicht.
Der rätselhafte Investor folgt auf „Wneschtorgserwis“, ein geheimnisumwitterter Konzern, der im Zuge einer de-Facto Enteignung 2017 neun Fabriken von ukrainischen Eigentümern übernahm und sie, wie Kritiker behaupten, ausschlachtete. Der Konzern, der außer einer Briefkastenadresse im russisch kontrollierten Südossetien, völlig im Dunklen agierte, geriet in finanzielle Schieflage und häufte offenbar hohe Gehaltschulden auf, die den eh schon arg strapazierten sozialen Zusammenhalt im Donbas gefährdeten.
Von Kurtschenko zu Jurtschenko
Wneschtorgserwis wurde immer wieder mit dem ehemaligen ukrainischen Oligarchen und Verbündeten von Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch Serhij Kurtschenko in Verbindung gebracht, der nach der Maidan-Revolution ebenfalls nach Russland floh. Im Gegensatz zu Jurtschenko hat sich Kurtschenko selbst nie in der Öffentlichkeit gezeigt und die Gerüchte um sich nie kommentiert – was wenig verwunderlich ist, da seine Rolle der anti-oligarchischen Ideologie der „Volksrepubliken“ diametral widersprach.
Jurtschenko, dessen Einsatz ganz offenbar vom Kreml gesteuert ist, hat versprochen, im kommenden Jahr mindestens 127 Millionen Euro zu investieren und den Erwerb anderer Unternehmen nicht ausgeschlossen.
Dabei dürfte das Ziel sein, die Kosten für Moskau mindestens zu stabilisieren – Medienberichten zufolge muss der Kreml zwischen 2022 und 2024 umgerechnet mehr als zehn Milliarden Euro für Gehälter und Renten in den „Volksrepubliken“ ausgeben – denn deren Anführer haben versprochen, das Einkommensniveau an das im benachbarten russischen Rostow anzupassen.
Die fortgesetzte Alimentierung durch Russland bedeutet vor allem, dass die ohnehin durchwachsenen Perspektiven der Erfüllung des Minsker Abkommens so schlecht wie nie zuvor sind. Denn mit dem Wegfall des bisherigen Mittelsmanes Kurtschenko bindet Moskau Donezk und Luhansk auch wirtschaftlich fester an sich. Ob der Kreml langfristig von der Schwerindustrie im Donbas profitieren kann, ist unklar. Zunächst dürften die Kosten die Nutzen weit übersteigen.
Eine direkte Annexion der Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch Russland bleibt zwar unwahrscheinlich. Doch die Separatistenrepubliken haben nun beste Karten, um faktisch zu einer weiteren russischen Region zu werden. Das macht alle Verhandlungsversuche zur Beilegung des Donbas-Krieges noch schwerer als sonst und führt den Minsker Prozess nicht aus der Sackgasse.
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